Kontextualisierung der Aufführungen von Mikayel Balyan (Klavier) und Clive Brown (Violine)

Tonmeister: Benedikt Ross

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in F-Dur Op. 24 (1801)

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in G-Dur Op. 96 (1812/15)

Nikolaus von Krufft: Sonate für Pianoforte und Violine in A-Dur (1812)

 

 

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in F-Dur Op. 24 (1801)

1. Allegro

2. Adagio molto espressivo

3. Scherzo. Allegro molto

4. Rondo. Allegro ma non troppo

Gesamtaufnahme

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in G-Dur ) Op. 96 (1812/15)

1. Allegro moderato

2. Adagio espressivo

3. Scherzo. Allegro

4. Poco Allegretto

Gesamtaufnahme

Nikolaus von Krufft: Sonate für Pianoforte und Violine in A-Dur (1812)

1. Allegro moderato

2. Adagio

3. Presto

Gesamtaufnahme

Kontextualisierung der Aufführungen von Mikayel Balyan (piano) und Clive Brown (violin)

 

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in F-Dur Op. 24 (1801)

Ludwig van Beethoven: Sonate für Pianoforte und Violine in G-Dur ) Op. 96 (1812/15)

Nikolaus von Krufft: Sonate für Pianoforte und Violine in A-Dur (1812)

 

Die Aufführungsstile und -praktiken entwickelten sich zu Lebzeiten Beethovens und Kruffts weiter und divergierten. Die des Wiener Geigers Franz Clement (1780-1842), für den Beethoven sein Violinkonzert schrieb, Ignaz Schuppanzigh (1776-1830), der an einigen der frühesten Aufführungen seiner ersten acht Sonaten für Klavier und Violine teilnahm, George Bridgetower (1778-1860), für den er seine Sonate op. 47 komponierte, Rodolphe Kreutzer (1766-1831), dem er diese Sonate widmete, und Pierre Rode (1774-1830), für den die Sonate op. 96 geschrieben wurde, hatten alle einen unterschiedlichen Werdegang und einen unterschiedlichen Aufführungsstil. Die Stile der drei letztgenannten spiegeln jedoch zweifellos in verschiedener Hinsicht den direkten Einfluss von Giovanni Battista Viotti (1755-1824) und die im Pariser Conservatoire Méthod de violon von 1803 niedergelegten Grundsätze wieder, die das Violinspiel in ganz Europa in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zunehmend beeinflussten. Auch das Klavierspiel war vielfältig, obwohl im späteren 19. Jahrhundert ein ausgeprägter Wiener Stil zu beobachten war, der mit Spielern wie Johann Nepomuk Hummel (1778-1837), Carl Czerny (1791-1857), Ferdinand Ries (1784-1838) und Ignaz Moscheles (1794-1870) verbunden war. Beethoven (1770-1827) und Nikolaus/Niklas von Krufft (1779-1818) waren fest in dieser Tradition verankert.

In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Praktiken und Techniken jedoch zwangsläufig weiter, so dass Carl Czerny bereits in den 1840er Jahren einen Aufführungsstil empfahl, der sich in wesentlichen Punkten von dem unterschied, den Beethoven, Krufft und er selbst in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts praktiziert hatten, als sie sich auf ein vertrautes, gemeinsames Vokabular von Praktiken und nicht notierten Konventionen stützten, die zu dieser Zeit allgemein gebräuchlich waren. Selbst zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren sich ältere Musiker jedoch noch darüber im Klaren, dass zwischen der Notation der Wiener Klassik und der Art und Weise, wie ein erfahrener Musiker sie aufführen sollte, ein erheblicher Unterschied bestand. Ihr Verständnis des Verhältnisses zwischen Notation und Aufführung war dem der Zeit Beethovens weitaus näher als dem der heutigen Mainstream-Praxis.

Die Rückverfolgung der Beziehung zwischen Notation und Aufführung von der heutigen Praxis bis ins 20. Jahrhundert mit Hilfe von Film- und Tonaufnahmen sowie dokumentarischen Belegen offenbart eine Welt des Musizierens, in der die Interpreten ganz anders auf die Notation reagierten, als es uns unsere Ausbildung seit Mitte des 20. Jahrhunderts heute lehrt. Aufnahmen von Musikern, die in den 1820er und 1830er Jahren geboren wurden, können uns sogar eine Vorstellung von der Praxis in der Mitte des 19. Jahrhunderts vermitteln, aber für unser Verständnis der Praxis des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts sind wir in erster Linie auf schriftliche Quellen angewiesen, die oft nicht eindeutig sind. Dennoch geben uns diese Quellen, interpretiert im Lichte dessen, was frühe Aufnahmen offenbaren, einen wertvollen Einblick in Praktiken, die für Beethoven, Krufft und ihre Zeitgenossen selbstverständlich waren; viele Abweichungen von der offensichtlichen Bedeutung der Notation, die auf frühen Aufnahmen zu hören sind, ähneln stark Praktiken, die bereits im 18. Jahrhundert beschrieben wurden. Diese Freiheiten, die erst im frühen 20. Jahrhundert endgültig aufgegeben wurden, sind in der klassischen Aufführungspraxis des frühen 21. Jahrhunderts und sogar in den meisten Aufführungen auf historischen Instrumenten nicht zu finden.

Es ist unmöglich zu wissen, wie eine Aufführung von Beethovens oder Kruffts Sonaten für Klavier und Violine im frühen 19. Jahrhundert geklungen haben könnte. Es gibt so viele Feinheiten in der musikalischen Darbietung, die man ohne eine Fülle von akustischen Zeugnissen nie einschätzen kann. Es ist jedoch völlig klar, dass erfahrene Musiker zu jener Zeit eine ganz andere Vorstellung von schönem Klang hatten (insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den Instrumenten und den Gebrauch des Vibratos) und dass die Komponisten von ihnen viele Praktiken erwarteten, die von der wörtlichen Bedeutung der Notation erheblich abwichen. Es wurde eine wichtige Unterscheidung zwischen einem "richtigen" und einem "schönen" Vortrag getroffen. Ersterer – von dem man erwartete, dass er von den Lernenden beherrscht wurde, bevor sie daran denken konnten, einen schönen Vortrag zu versuchen – bedeutete, dass die musikalische Notation entsprechend ihrer wörtlichen Bedeutung genau wiedergegeben wurde. Dazu gehörte jedoch zweifellos das Verständnis bekannter Konventionen, wie etwa die Anwendung eines gewissen Maßes an dynamischer und agogischer Akzentuierung auf kurze Gruppen von gebundenen Noten. Letzteres erforderte weitaus umfangreichere Modifikationen der Notation, wie sie von den Autoren klassischer Abhandlungen von C. P. E. Bach und Leopold Mozart bis zu Hummel und Spohr angedeutet wurden. Diese angesehenen Musiker waren sich jedoch bewusst, dass diese Art des schönen Vortrags nicht mit Worten, sondern nur durch das Hören großer Musiker vermittelt werden kann. Zu den Bereichen, in denen der schöne Vortrag zum Ausdruck kam, gehörten die folgenden:

1. Tempo: a. Absolutes Tempo; b. Tempoflexibität.

2. Mehrdeutige Notation: a. Legatoiguren; b. Passagen rhythmisch gleichwertiger Noten; c. Punktierungen, i) Überpunktierungen, ii) Umgekehrte Punktierungen, iii) Unterpunktierungen, iv) Staccato über einem Augmentationspunkt.

3. Dynamik, Akzente und Ausdrucksbezeichnungen: a. Stufen der Dynamik; b. Dynamische Modifikationen, i) crescendo, decrescendo, diminuendo, ii) rinforzando, rf. iii) < iv) > v) <>, c. Akzente, i) sf, sfp, ii) fp, iii) f, iv) >, v) <>, vi) Tenuto, d. Ausdrucksbezeichnungen, i) Dolce, ii) Espressivo.

4. Artikulation: a. Legato, i) Violine, ii) Klavier, b. Portato, i) Klavier, ii) Violine, c) Staccato, i) Violine, ii) Klavier.

5. Verzierungen: a. Appogiaturen, Vorschläge und andere mit kleinen Noten notierte Verzierungen i) Veränderliche (lange) Vorschläge, ii) Unveränderliche (kurze) Vorschläge, iii) Acciacatura (Zusammenschlag), iv) Schleifer, Mordent, Pralltriller, Schneller, b. Durch Zeichen angegebene Verzierungen, i) Doppelschlag, ii) Triller und Mordente, c. Freie Verzierungen, i) Ergänzte Noten, ii) Klavier-arpeggio und vertikale Asynchronität, iii) Portamento, iv) Tremolo (Bebung, Close shake, Vibrato).

6. Die Bogenführung auf der Violine.    

Eine ausführliche Erörterung dieser Fragen findet sich in: Beethoven: Sonaten für Violine und Klavier, 2 Bände, ed. Clive Brown (Kassel, Bärenreiter, 2020) "Reading between the lines of Beethoven's notation" in BA 9014, S. X-XXXV/BA 9015 S. XI-XXXVI/ "Beethovens Notation - Zwischen den Zeilen gelesen" BA 9014 S. XLV-LXXIII/BA 9015 S. XLVII-LXXV.

Siehe auch:

Clive Brown und Neal Peres Da Costa: Performing Practice Commentary to Beethoven's Violin Sonatas, kostenloser Download bei Bärenreiter durch Anklicken von 'Extras' auf dieser Webseite: https://www.baerenreiter.com/en/shop/product/details/BA9014/.

Clive Brown: Classical and Romantic Performing Practice (Oxford, 1999). Neue Ausgabe erscheint im April 2024.

Zur Geigentechnik und Aufführungspraxis siehe Clive Brown: Classical and Romantic Violin and Viola Playing: A practical manual for teaching and learning. (Erscheint Bärenreiter, 2024)

In unseren experimentellen Aufnahmen haben Mikayel Balyan und ich versucht, unser Verständnis für diese Fragen auf Beethovens und Kruffts Texte anzuwenden.

Wir haben historische Instrumente verwendet:

Fortepiano von Franz Bayer (um 1820).

Violine (ohne Kinn- und Schulterstütze) mit reinem Darm E, A, D und Silber umsponnenem Darm G, mit einem französischen Bogen aus dem 19. Jahrhundert.

Zu unseren Prioritäten im Hinblick auf eine "schöne" Aufführung, die die dokumentarischen Belege widerspiegelt, gehörten die folgenden:

  1. Tempo (auf der Grundlage der Metronomangaben für die Beethoven-Sonaten von Carl Czerny und Ignaz Moscheles sowie eines Verständnisses von Beethovens Tempovorstellungen auf der Grundlage seiner Metronomangaben für andere Werke. Für die Krufft-Sonate haben wir dokumentierte Wiener Praktiken des frühen 19. Jahrhunderts verwendet.

 

  1. Tempoflexibilität

 

  1. Rhythmische Flexibilität

 

  1. Pedalieren des Klaviers

 

  1. Bogenführungstechnik des frühen 19. Jahrhunderts auf der Grundlage dokumentarischer Belege (insbesondere ein fast vollständig passiver Oberarm, der immer so nah wie möglich am Körper gehalten wird). Aus den Abhandlungen des 18. und 19. Jahrhunderts geht klar hervor, dass die untere Hälfte des Bogens nur wenig benutzt wurde, außer für die Ausführung langer Töne im Legato und für die Ausführung von drei- und viertönigen Akkorden. Eine Folge schnellerer Noten wurde entweder mit dem mittleren oder, was häufiger der Fall ist, mit dem oberen Teil des Bogens gespielt, und einige Striche (z. B. Martelé, festes Staccato und kurze, leichte Détaché-Striche) wurden nahe der Bogenspitze ausgeführt.

 

  1. Zusätzliche Verzierungen und Ausschmückungen in den Wiederholungen der Exposition und in anderen Fällen thematischer Wiederholungen.

 

  1. Ausdrucksvolle Ausschmückung durch:

 

    1. Vertikale Asynchronität

 

    1. wilkürliche Klavier-Arpeggierung, die bis ins frühe 20. Jahrhundert als wesentlich für das Klavierspiel angesehen wurde.

Zahlreiche Aussagen von Größen wie Mozart, Chopin, Saint-Saëns und vieler anderen über die Rolle und Anwendung des Tempo Rubato-Spiels, welches eine Asynchronität zwischen den melodischen Linien und dem Accompagnement verursacht, so „daß die lincke hand nichts darum weiß [. . . . ]“ (W. A. Mozart, Brief an den Vater, 24.Okt.1777), sowie noch größere Anzahl an frühen Tondokumenten offenbaren eine ungebrochene Ästhetik der ungezwungen, quasi „improvisiert“

erscheinenden Spielmanier, welche vor allem auf den Tasteninstrumenten die leicht entstehende Mechanistik und Steifheit der Bewegung und Klangproduktion zu überwinden besonders geeignet erscheint. Dazu gehört auch die unnotierte, mehr oder weniger oft eingesetzte, spontan wirkende und möglichst variable Art der Akkordbrechungen. (M.B.)

 

    1. Violine-Gleiteffekte (Portamento) und Bebeneffekte (Vibrato).

 

Das Portamento kam im späten 18. Jahrhundert im Instrumentalspiel zunehmend in Mode. Es war in Beethovens Wien weit verbreitet; dort war es ein Aspekt des Spiels von Beethovens Freund Ignaz Schuppanzigh, und es war auch ein herausragendes Merkmal im Spielstil von Pierre Rode, für den Beethoven seine Sonate op. 96 schrieb. Mit der Verwendung des Portamentos ist die Frage der ausdrucksvollen Intonation verbunden. Obwohl das Klavier diese Möglichkeit nicht besitzt, kann die Violine sie nutzen, und wie Joseph Joachims Aufnahmen von 1903 zeigen, muss die Intonation in der deutschen Tradition des 19. Jahrhunderts nicht immer genau mit der gleichschwebenden Temperatur des Klaviers übereinstimmen. Auch andere frühe Aufnahmen beweisen, dass einige deutsche Musiker diese Tradition beibehielten, während französisch-belgische Streicher (z. B. Sarasate) eine "moderne" Intonation verwendeten. Das Vibrato war ein weit weniger wichtiges Ausdrucksmittel. Zu Beethovens Lebzeiten wurde erwartet, dass es nur sehr geringe Tonhöhenschwankungen aufweist und sehr sparsam eingesetzt wird. (C.B.)   

Unsere Anwendung dieser Aufführungspraktiken war sowohl von musikalischem Instinkt als auch von kalkulierter Planung geprägt. Wir haben uns bewusst bemüht, nicht auf "moderne" Weise zu proben. Wir haben nicht versucht, eine festgelegte und im Wesentlichen wiederholbare Interpretation zu produzieren, sondern wollten vielmehr ein Element der Spontaneität – sogar der Unvorhersehbarkeit – in unserem Spiel beibehalten und strebten nicht nach modernen Konzepten eines disziplinierten Ensembles. Einige der Praktiken, die wir bei diesen Aufführungen angewandt haben, einschließlich zusätzlicher Verzierungen bei der Wiederholung von thematischem Material, sind mit erheblichen Freiheiten gegenüber Aspekten der Notation verbunden, die seit langem als maßgebend gelten. Viele von diesen würden in der heutigen Welt des professionellen Musizierens (sogar mit historischen Instrumenten) als inakzeptabel für dieses Repertoire angesehen werden. Keiner von ihnen ist jedoch nicht durch ausreichende Beweise gestützt.

Diese Praktiken sind für die Aufführung klassischer und romantischer Musik mit modernen Instrumenten ebenso relevant. Tatsächlich ist die Orthodoxie des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, dass im klassischen und romantischen Repertoire die Intentionen der Komponisten für die Notation ihrer Musik mit ihren Erwartungen an die Aufführung gleichzusetzen sind – dass ein schöner Vortrag grundsätzlich ein mechanisch-korrekter sein muss – ein Trugschluss.

August Eberhardt Müller stellte 1804 fest, dass nicht jeder, der über eine geschickte Technik verfügt, in der Lage ist, einen schönen Vortrag zu erreichen. Er behauptete, dass sie, wenn sie „nicht weiter, als zum mechanisch-richtigen Vortrage bringen – kann ein brauchbarer Orchesterspieler, ein brauchbarer Chorsänger werden, was allerdings zu schätzen, aber nicht Kunst ist.“ (Klavierschule, S. 297) Diese Passage wurde in Carl Czernys umfangreicher Überarbeitung des Traktats ein Vierteljahrhundert später ebenfalls wortwörtlich wiederholt. Und noch in den 1880er Jahren beharrte Otto Klauwell darauf, dass zwischen richtigem Vortrag und schönem Vortrag eine große Lücke klafft:

Unsere heutige Notenschrift, das Resultat jahrhundertelanger Spekulation, bietet zwar eine hinreichende Anzahl Mittel, auch die kompliciertesten Massverhältnisse auf die denkbar einfachste und anschaulichste Weise zur Darstellung zu bringen, aber es sind eben nur messbare Grössen, Vielfache und Theile einer zu Grund gelegten Einheit, welche überhaupt, auch von jeder etwa noch zu erhoffenden Tonschrift der Zukunft, in sinnlichen und für das Augenmass verständlichen Zeichen wiedergegeben können.

Die vollkommenste sichtbare Darstellung einer Composition nach dieser Seite hin würde aber, bei lediglich correkter Reproduktion nur ein sehr ungefähres Bild derselben in dem Hörer wecken können, da sie eine Menge für den Charakter der Composition wesentlicher Verhältnisse hat unberücksichtigt lassen müssen……

In der Erkenntniss und Ausführung dieser nothwendigen Abweichungen, dieses Rubato in mehrfachem Sinne, welches natürlich nur zwischen den Zeilen zu lesen ist, besteht nun nach meiner Ansicht dasjenige, was man mit der Kunst des Vortrags zu bezeichnen pflegt.

(Der Vortrag in der Musik (Berlin & Leipzig, 1883), S. 1-3)

Die Interpreten werden in der Klassik und Romantik auf vielfältige Weise versucht haben, zwischen den Zeilen der Notation zu lesen, um die versteckten Botschaften zu erkennen, die sie vermitteln sollten. Wie frühe Aufnahmen zeigen, machten die ältesten großen Musiker der deutschen Tradition wie Carl Reinecke (geb. 1824) und Joseph Joachim (geb. 1831) immer noch einen klaren Unterschied zwischen dem, was aufgeschrieben war, und dem, was gespielt wurde. Nach einem Jahrhundert zunehmender Wörtlichkeit in der Aufführung der Klassiker, begleitet von wissenschaftlichen Versuchen, genau zu definieren, was die Notation eines Komponisten in der Aufführung zu bedeuten hat (siehe z. B. Frederick Neumanns Bücher über Verzierungen), ist es an der Zeit, die zahlreichen Freiheiten und Ausdrucksstrategien wiederzuentdecken, die die Komponisten von Haydn bis Brahms (und sogar bis zu Bartóks Generation) in einer schönen Aufführung erwarteten.

Wenn Musiker versuchen, diese Auffürungspraktiken wiederzuentdecken und anzuwenden, werden sie nicht immer zufriedenstellende künstlerische Ergebnisse erzielen; wenn sie sich andererseits dafür entscheiden, sie überhaupt nicht anzuwenden, können sie vielleicht einen technisch ausgezeichneten, korrekten Vortrag des Notentextes produzieren, aber sie werden sicherlich nicht annähernd die Erwartungen des Komponisten an einen schönen Vortrag erfüllen. 

Appendix

Rezension von Kruffts Sonate: Allgemeine musikalische Zeitung xiv(1812), 832f

Sonate pour le Pianoforte avec accomp. de Violon obligé, comp.–– par le Baron N. de Krufft à Leipsic, chez Breitkopf et Härtel. (Pr. 1 Thlr.)

 

Mit vielem Vergnügen zeigen wir diese Sonate an, als eine der geistreichsten, ausdrucksvollesten, und auch, in Hinsicht auf technische Ausführung, achtungswürdigsten Compositionen, die seit einigen Jahren für diese Instrumente geliefert worden sind. Es leben nicht viele Künstler, die eine so bestimmte und bedeutende Individualität auszusprechen haben, und auch nicht viele, die, hätten sie dieselbe, sie so anziehend und eigenthümlich auszusprechen vermöchten.– Ein ernstes, bey aller Künstlichkeit doch fast durchgehends klares und melodiöses Allegro fängt an. Ohne alles Geräusch von Passagen oder andere dergleichen Zuthat, erhebt und führt es den Geist, wohin es ihn haben will, und wo er– vorausgesetzt, auch die häkelichen Sätze oder Stellungen der Stimmen werden von den Spielern vollkommen gut, sicher, zusammenhängend und übereinstimmend ausgeführt– durch Stetigkeit sowol der Empfindung, als der Ausarbeitung, festgehalten wird, auch gewiss gern verweilt. Ein lang und breit ausgeführtes Adagio folgt. Es ist, dem Ausdruck nach, einfach, aber seelenvoll, und der Ausarbeitung nach, originell und würdig. In Hinsicht der letztern ist es auch so vollständig, wie das Adagio eines guten Violinquartetts; ja, manche Stelle möchte, für Bogeninstrumente ausgesetzt, sich noch besser ausnehmen. Wenigstens setzt es ein vollkommen gutes Pianoforte voraus, und einen Spieler, der alle Hülfsmittel desselben, den Gesang und die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks durch den Ton selbst möglichst zu ersetzen, geübt ist. So weit sich diese Hülfsmittel durch Zeichen bemerklich machen lassen, sind sie angegeben: aber solch ein Spieler wird noch gar Manches– jeder eben seinem Instrumente gemäss, feiner zu nüanciren finden. Ein sehr rasches, feuriges und energisches Presto beschliesst. Dieses ist, ohne Künsteley, doch sehr künstlich verschlungen, und in dem Maasse ein Guss, dass Manche vielleicht noch einen eingeschalteten, hin und wieder zurückkehrenden, milderen Zwischensatz wünschen werden. So ist das ganze Werk, ungeachtet es die gewöhnlichen äussern Formen der Sonate beybehält, doch, für die Empfindung, durch immer fortgehende Steigerung mehr wie eine Phantasie entworfen, und sein Effect eben darum nur desto eindringlicher und befriedigender.– Beyde Instrumente sind ganz ihrer Natur gemäss behandelt, und beyde Spieler reichlich, auch im besten Verhältnis, beschäftigt: der Violinist in der Weise, wie die Gebildetern es jetzt vorzüglich wünschen, der Klavierspieler in der, wie die Gebildetern sich jetzt wol gewöhnen müssen, wenn auch viele, aus früherer Zeit, nicht gern dran wollen. Gebildet u. sehr geschickt müssen aber beyde seyn: denn das Werk so, wie es seyn soll, auszuführen, ist ziemlich schwer, ja weit schwerer, als es beym ersten Anblick scheint. Schon die Noten haben hin und wieder beträchtliche Schwierigkeiten: aber der Ausdruck, so leicht er, als bestimmt genug ausgesprochen, im Ganzen zu treffen, leuchtet doch wol im Einzelnen nicht allen sogleich ein, und ihn recht eindringlich darzulegen, wird gar Manchem keineswegs leicht werden. Vornämlich warnen wir sehr behende Spieler, den ersten Satz durchaus nicht zu schnell zu nehmen, wo er, auch sicher herausgebracht, doch viel verlieren würde– vom zweyten versteht sichs von selbst– aber auch den dritten nicht geschwinder zu spielen, als sie fähig sind, den vielen Stellen, wohin sie gehört, volle Kraft, dem Ganzen aber die vollkommenste Deutlichkeit und Bestimmtheit zu geben.