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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Jelineks Theater zitiert seit jeher andere Theatertexte und ‑traditionen. Das lässt sich bereits anhand ihrer Ibsen‐Fortschreibung Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft belegen und zeigt sich eindrücklich im Hinblick auf das von ihr entwickelte Konzept des Sekundärdramas, mit dem sie an die sogenannten Klassiker Johann Wolfgang von Goethe (FaustIn and out) und Gotthold Ephraim Lessing (Abraumhalde) anknüpft. Einen auffallend hohen Stellenwert innerhalb von Jelineks intertextuellem, parasitärem Schreibverfahren aber nehmen die Tragiker der griechischen Antike ein. Seit Ein Sportstück rekurriert beinahe jeder Theatertext Jelineks (auch) auf eine Tragödie bzw. ein Satyrspiel von Aischylos, Sophokles oder Euripides. In der Forschung wurde diesen Bezügen bislang hauptsächlich mit den Begriffen der Mythendekonstruktion oder ‑destruktion begegnet.

Wie ich zu zeigen versucht habe, wird dieser Ansatz jedoch der spezifischen Dramaturgie und dem damit in Zusammenhang stehenden politischen Impetus Jelineks nicht gerecht. Tatsächlich nämlich zeichnen sich Jelineks Annäherungen an die Ästhetik der griechischen Antike durch einen nachdrücklichen Bezug auf die theatrale Diskursform der Tragödie aus. Der Mythos wird hier nicht einfach nur perpetuiert, sondern vielmehr von den tragischen Dichtern befragt und unterbrochen. Dies manifestiert sich in der strukturellen Bauform der Tragödie: Sie präsentiert sich als aus der abwechselnden Aufeinanderfolge von Bauelementen (Chorpassagen, Epeisodien, Botenberichten etc.) zusammengesetztes Stückwerk. Der verfremdende Blick auf die Mythen fungiert in Jelineks Theatertexten als Basis für die darin verhandelten virulenten Thematiken und Problematiken unserer Zeit. Im Durchkreuzen dieses männlichen, privilegierten, kanonisierten und über Jahrtausende konservierten Blickes schreibt Jelinek die Tragödie paradoxerweise fort. Ihre dezidierten Bezugnahmen auf die Texte von Aischylos, Sophokles und Euripides dekuvrieren die Vereinnahmung der Mythen durch die Tragödiendichter und subvertieren somit das, was Walter Benjamin in seiner Trauerspiel‐Arbeit als »tendenziöse Umformung der Tradition«1 bezeichnet hat. Das dramaturgische Verfahren des Ausgrabens, das in diesem Zusammenhang zur Anwendung gelangt, kann als politische Praxis gelesen werden, die nicht nur ein »Theater des Nachlebens«2 hervorbringt, sondern sich darüber hinaus im wechselseitigen Aufzeigen von Kontinuitäten und Brüchen konstituiert.

Jelineks Rekurs auf die Tragödie evoziert ein Theater, das unterschiedliche Zeiten und (Denk‑)Räume durchquert und dabei gleichzeitig rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft weist. Dieses Theater durchkreuzt ein auf Aristoteles zurückzuführendes teleologisch‐lineares Denken von Geschichte und Theater. Der spezifische Modus der Unterbrechung, der hier zum Einsatz gelangt, legt nahe, Jelineks Theatertexte mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin als gestisch zu bezeichnen. Tatsächlich bewirkt das fragmentierend‐zitierende, auf der Montage unterschiedlichster textueller und ikonografischer Bruchstücke basierende Verfahren der Autorin eine »Entdeckung (Verfremdung) von Zuständen […] mittels der Unterbrechung von Abläufen.«3 Gerade in dieser gestischen Partikularität aber zeigt sich auch der genuin performative Charakter von Jelineks Theatertexten. Geht man nämlich von Benjamins Begriff der Geste aus, dann zeichnet sich diese durch eine besondere Aporie aus: Sie ist sowohl »zitierbar« als auch »fixierbar«, d.h. an einen Körper gebunden. Gesten sind demnach, wie Samuel Weber schlussfolgert, nicht verwirklichbar, sondern vielmehr aufführbar: »Eine Geste, die zugleich ›zitierbar‹ und ›fixierbar‹ ist, kann nicht ausgeführt, sondern nur aufgeführt werden.«4 Im unterbrechenden Fortschreiben der antiken Tragödie ist Jelineks gestisches Theater der Durchquerung grundsätzlich an ein sich adressierendes, auf einen (Schauspieler*innen‑)Körper angewiesenes Aus‐Sprechen gekoppelt, das soziale und politische Missstände radikal und schonungslos an‐spricht, ohne eindimensionale Opfer‐Täter*innen*innen‐Zuschreibungen vorzunehmen.

Dieses Sprechen lenkt den Blick darauf, wer denn da spricht und von welcher Position er oder sie dies tut. Im Rückgriff auf den antiken Chor deutet Jelineks texttheatrales Verfahren auf die Machtbeziehungen, durch die politische Zugehörigkeit und im Umkehrschluss Exklusion inszeniert werden. Das Wir, das in diesem Zusammenhang auftritt, ist keine fixierbare Größe, sondern offenbart sich vielmehr als fluide, prekäre, sich jeder Attribuierung entziehende Figuration. Dieses Wir macht die grundlegende Differenz, die zwischen Subjekt und Gehalt des Sprechakts besteht, erfahrbar und demonstriert gleichzeitig, inwiefern diese Differenz durch Aussagen wie »Wir sind das Volk« verwischt wird. Besonders eindrücklich zeigt sich dies im Theatertext Die Schutzbefohlenen, der im Zitieren der aischyleischen Hiketiden die Position der Stellvertreter*innen des Wir ausleuchtet und dabei die performativen Mechanismen nachzeichnet, die im Konstruktionsprozess von Identität und Alterität zutage treten.

Auffallend an Jelineks Befragungen der antiken Tragödie ist aber nicht nur die intensive Bezugnahme auf Figurationen des Chorischen. Häufig greift die Autorin zudem auf Spielarten des vermittelten Sprechens zurück, allen voran auf die Strukturelemente des Botenberichts und der Teichoskopie. Innerhalb ihres Theaters der Durchquerung dienen diese aus der antiken Tragödie entlehnten (und auch in der Alten Komödie vorzufindenden) technischen Stilmittel einer Abwägung des Gewichts, das dem logos im heutigen, vielerorts als postfaktisch titulierten Zeitalter zukommt. Im Zitieren von Diener‐ und Botenberichten aus der antiken Tragödie bringt Jelinek einerseits Fragen von Zeug*innenschaft aufs Tapet. Andererseits fordern ihre Texte dadurch ex negativo dazu auf, die Prekarität und Diskriminierung, denen vermittelnde Instanzen in der antiken Tragödie grundsätzlich ausgeliefert sind, aus einer intersektional informierten Perspektive (neu) zu beleuchten.

Paradoxerweise aber sind es keine Tragödien, die Jelinek im Fortschreiben von Aischylos, Sophokles und Euripides produziert. Es sind vielmehr Texte, die permanent zwischen dem Tragischen und dem Komischen changieren und dabei auf die genuine, wenngleich von der altphilologischen sowie der theaterwissenschaftlichen Forschung bislang unterbelichtete Verstrickung dieser beiden Genres verweisen. Tatsächlich fungieren die tragischen Texte innerhalb von Jelineks Arbeiten für das Theater als »Rhythmusgeber«, wie die Autorin selbst unterstreicht: »Ich hangle mich an ihnen entlang, um dann immer wieder (hoffentlich) neue Räume aufzuschließen, mit ihren Schlüsseln.«5 Die Tragödien des Aischylos, des Sophokles oder des Euripides geben die Folie ab, vor der Jelinek – ähnlich wie Aristophanes – aktuelle zeitgenössische Themen und gesellschaftspolitische Problematiken mit Mitteln des Komischen verhandelt: etwa die europäische Migrations‐ und Asylkrise (Die Schutzbefohlenen), die Nuklearkatastrophe von Fukushima (Kein Licht.), den NSU‐Prozess am Oberlandesgericht München (Das schweigende Mädchen), die Terroranschläge von Paris (Wut), die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der outgesourcten Textilindustrie (Das Licht im Kasten) oder die sogenannte Ibiza‐Affäre rund um den ehemaligen österreichischen Vizekanzler Heinz‐Christian Strache (Schwarzwasser). Der diesen Jelinek’schen Arbeiten zugrunde liegende Schichtungsprozess lässt nicht nur das sogenannte Tragische auf das Komische stoßen. Er lässt auch Vergangenheit und Gegenwart schockartig aufeinanderprallen.

Gleichzeitig heben Jelineks Texte auch das komische Potenzial hervor, das vielen antiken Tragödien eingeschrieben ist. Tatsächlich kam es gar nicht selten vor, dass sich Tragödiendichter die »niedere Diktion« der Komödie aneigneten – und zwar nicht, um das Publikum zum Lachen zu bringen, sondern um dem Tragischen maximalen Ausdruck zu verleihen. Euripides etwa, auf den Jelinek vor allem in den letzten Jahren vermehrt zurückgreift, bewirkte beim Publikum durch das Einarbeiten komischer Passagen eine spezifische Irritation, die es dem Dichter erlaubte, die schockierende und Entsetzen auslösende Wirkung beim Publikum ins Unermessliche zu steigern.

Im Fortschreiben der Tragödie weicht Jelinek die Grenzen zwischen Tragischem und Komischem auf und stellt dadurch ein seit Aristoteles per­petuiertes Theaterverständnis, das danach trachtet, die Komödie zugunsten des »hehren« Genres der Tragödie weitgehend zu diskreditieren, radikal infrage. Die Theatertexte der Autorin ent‐decken das komische Potenzial der Tragödie im Wiederbeleben appropriativer Praktiken, die sowohl für die griechisch‐antike Tragödie als auch für die Alte Komödie konstitutiv sind. Dadurch offenbaren und unterstreichen Jelineks Bezüge auf die Tragödie gleichzeitig das politische Potenzial des Komischen. Das ästhetische Verfahren, das dieses Theater der Durchquerung durchzieht, zielt darauf ab, Pathos im Zitieren und Modulieren der tragischen Dichter zu evozieren und dieses Pathos durch die Schichtung mit Bruchstücken des Alltäglich‐Profanen umgehend wieder zu brechen.

Die Überreste der attischen Tragödie innerhalb von Jelineks Theatertexten auf eine Demonstration der »Zeitlosigkeit« von gesellschaftspolitischen Schlüsselfragen zu reduzieren, wäre zu kurz gedacht. Vielmehr bewirken die gestischen Verfahren, die dabei zur Anwendung gelangen, eine »Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart.«6 Im Durchqueren unterschiedlicher Zeiten und Genres eröffnen Jelineks (Tragödien‑)Durchquerungen ein Da‑zwischen, innerhalb dessen sich Gesten der Klage, Tiraden der Wut und Szenerien der Angst auf verstörende Weise kreuzen.

Endnoten

1 Benjamin, Walter: »Ursprung des deutschen Trauerspiels.« In: Ders.: Abhandlungen. GS I.1. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 203–430, hier S. 185.

2 Annuß, Evelyn: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens. München: Wilhelm Fink 2005.

3 Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? <2>« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 32–39, hier S. 35.

4 Weber, Samuel: »›Mittelbarkeit‹ und ›Exponierung‹. Zu Walter Benjamins Auffassung des ›Mediums‹.« In: Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 1/2004. https://www.theater-wissenschaft.de/mitteilbarkeit- und‐exponierung‐zu‐walter‐benjamins‐auffassung‐des‐mediums [Zugriff am 14.4.2018] (= Website der Gesellschaft für Theaterwissenschaft).

5 Thiele, Rita: »Glücklich ist, wer vergisst? Eine E‑Mail‐Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele.« In: Programmheft zu Elfriede Jelineks »Das Werk/Im Bus/Ein Sturz.« Schauspiel Köln: 2010.

6 Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.1. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 588.