4 Die Bakchen im Skizirkus. Posttraumatische (Text‑)Körper

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Da stehst na und schaugst allweil dümmer
und hast in der Hand deine Trümmer:
Drei Brettl, a gführiger Schnee, o weh
Da hast jetzt dei höchste Idee.
Otto Sirl

In ihrer Studie Das Drama des Prekären schlägt die Theaterwissenschafterin Katharina Pewny vor, Theatertexten und (Tanz‑)Performances des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts, die sich »[j]enseits vermittelbarer Erfahrungen und Effekte der Gewalt und des Sterbens«1 bewegen, mit dem Begriff des Posttraumatischen zu begegnen. Ein solches posttraumatisches Theater zeichnet sich laut Pewny durch die Überwindung von Gegensätzen wie Präsenz/Repräsentation, Text/Bewegung und Sprache/Körper aus und ist durch »die Ineinander‐Verschiebung von Opfer‐ und Täterposition gekennzeichnet.«2 Als Beispiele einer derartigen Ästhetik führt Pewny neben ausgewählten Arbeiten von Meg Stuart, Melinda Seldes, Wajdi Mouawad, Christoph Marthaler und Dea Loher auch Elfriede Jelineks Ein Sportstück an, das Einar Schleef 1998 am Wiener Burgtheater zu einer legendären und im theaterwissenschaftlichen Umfeld breit diskutierten Uraufführung gebracht hat.3

An Ein Sportstück interessiert Pewny vor allem die häufig darin vorzufindende Anrede des »Sie«, die nicht eindeutig bestimmbar ist, sondern sich »an die Bühnenpositionen als auch an die Lesenden/Zusehenden [richtet].«4 Diese Anrede binde die Rezipient*innen des Textes bzw. der Aufführung in die sich gegenseitig bedingenden Opfer‐ und Täter*innenpositionen ein, wodurch eine »Involvierung der Lesenden/Zusehenden in einen Effekt des Posttraumatischen«5 erzielt werde. Als weiteres Indiz einer als posttraumatisch zu bezeichnenden Ästhetik stuft Pewny das spezifische Verhältnis von Haupt‐ und Nebentext ein, das in Ein Sportstück ins Auge sticht. Der Nebentext, in den gewalthältige Bewegungen in Form von Regieanweisungen (wie »tritt« oder »schaut«) eingeschrieben sind, zeigt laut Pewny, was der Haupttext verdeckt: »Traumatische Geschehnisse sind gleichsam hinter dem Deckmantel der Sprache eingelassen und in dieser vorhanden.«6

Ausgehend von diesen Beobachtungen möchte ich mich auf die Suche nach Spuren des Posttraumatischen bei Jelinek begeben, die – so meine These – nicht nur in Ein Sportstück aufzufinden sind, sondern die sich durch sämtliche Theatertexte ziehen, in denen sich die Autorin auf die attische Tragödie beruft. Besonders eindrücklich erweist sich dies anlässlich des 2018 publizierten Theatertexts Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier), in dem die Autorin die jahrelang vertuschten und verleugneten Missbrauchsfälle innerhalb des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) zum Anlass nimmt, um das Spannungsfeld von Macht, Geschlecht und nationaler Identitätskonstruktion einer dramaturgisch‐poetologischen Inspektion zu unterziehen.7 Trauma fungiert in diesem Theatertext sowohl als Leitmotiv wie auch als Strukturprinzip.

Endnoten

1 Pewny, Katharina: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript 2011, S. 133.

2 Ebd., S. 140.

3 Zur akademischen Rezeption von Ein Sportstück vgl. Janke, Pia: Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption. 2 Bände: Bd. 2. Wien: Praesens 2014, S. 942–944.

4 Pewny, Katharina: Das Drama des Prekären, S. 159.

5 Ebd., S. 159. Pewny beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Psychoanalytikerin Judith Lewis Herman, die »einen kaum entrinnbaren Sog der Identifikation mit der Opfer‐ oder Täterposition in traumatischen Situationen [konstatiert]« (Ebd., S. 159).

6 Pewny, Katharina: Das Drama des Prekären, S. 162.

7 Vgl. Jelinek, Elfriede: Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier). https://www.elfriedejelinek.com/fschneeweiss.htm 8.1.2019 [Zugriff am 2.2.2021] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte), im Folgenden zitiert mit der Sigle SW.