4.6 Posttraumatische Dramaturgien

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Wovon sprechen wir, wenn wir von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) sprechen? Unter PTBS wird gemeinhin eine »Störung« verstanden, die Menschen infolge eines traumatisierenden Erlebnisses potenziell entwickeln können. Dabei geht der ICD‑10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von einem katastrophalen, lebensbedrohlichen Ausmaß aus, das ein solches Ereignis aufweisen muss. Eine PTBS entsteht laut dieser Internationalen Klassifikation der Krankheiten

[…] als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. […] Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Hinzu kommen Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen auf. […] In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über.57

Zu solch potenziell traumatisierenden Ereignissen werden Naturkatastrophen, Terrorismus, von Menschen verursachte Katastrophen, Kampfhandlungen, schwere Unfälle, Folter, Vergewaltigungen und andere Verbrechen gezählt. Was diese Definition unberücksichtigt lässt, ist der Umstand, dass genannte Ereignisse zwar für den durchschnittlichen weißen, heterosexuellen Mittelschichtsmann tatsächlich Situationen mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß darstellen – für viele Frauen, Staatenlose oder BIPoC aber gehören sie schlichtweg zum Alltag.58 Die Erfahrungen solcher Menschen würden in und durch Diagnosemanuals wie jenes der WHO unhörbar gemacht, kritisiert die feministische Psychologin Laura S. Brown. Sie stellt fest: »The range of human experience becomes the range of what is normal and usual in the lives of men of the dominant class; white, young, able‐bodied, educated, middle‐class, Christian men.«59 Gängige PTBS‐Definitionen wie jene des ICD‑10 konstruieren mithin ein normativ wirkendes »reales« Trauma, in dessen Windschatten verdeckte Traumata gedeihen:

Real trauma is often only that form of trauma in which the dominant group can participate as a victim rather than as the perpetrator or etiologist of the trauma. The private, secret, insidious traumas to which a feminist analysis draws attention are more often than not those events in which the dominant culture and its forms and instituions are expressed and perpetuated.60

Wenn ich dafür plädiere, Schnee Weiß als posttraumatischen Textkörper zu lesen, dann verstehe ich Trauma mit der Literaturwissenschafterin Ann Cvetkovich als Trope, die an der Schnittstelle von Politik und Emotion operiert: »As a name for experience of socially situated political violence, trauma forges overt connections between politics and emotion.«61 Ein solcher Traumabegriff ermöglicht die Sichtbarmachung unterschiedlich ausgeprägter Verletzungen, die Macht‐ und Herrschaftsverhältnisse am Individuum hinterlassen. Vor diesem Hintergrund erweisen sich nicht nur Naturkatastrophen, Kriege oder Tatbestände sexuellen Missbrauchs als potenziell traumatisierend. Auch Ausformungen verletzender Rede und spezifische Praxen des Invektiven, die sich im Sinne Nietzsches mnemotechnisch und schmerzhaft in den Körper einschreiben, werden dadurch als Traumata erfahrbar.62

Obschon Schnee Weiß konkrete Fälle von sexualisierter Gewalt im österreichischen Skisport verhandelt, verzichtet der Text sowohl auf die Benennung von Opfern und Täter*innen als auch auf eine Beschreibung und Illustrierung der Gewalthandlungen, die zur Anzeige gebracht worden sind. Vielmehr macht Schnee Weiß die Aus‐ und Nachwirkungen von Machtmissbrauch spürbar und inszeniert das sprachlose Entsetzen, zu dem Traumata führen (können).63 Bevor ich nun exemplarische Techniken einer posttraumatischen Ästhetik skizzieren werde, die durch Jelineks dramaturgische Verfahren zur Anwendung gelangen, möchte ich zunächst noch darauf eingehen, wie sich traumatisierende Erlebnisse grundsätzlich in Körper einschreiben.

Der französische Psychiater und Psychotherapeut Pierre Janet stellte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts fest, dass Traumatisierungen ausgeprägte Formen von Amnesie nach sich ziehen. Darüber hinaus bemerkte er die fehlende Fähigkeit von aufgewühlten Menschen, Erinnerungen neutral zu verbalisieren. Eine traumatisierte Person erscheint in seinen Augen als »unfähig, die Schilderung zu machen, die wir als narrative Erinnerung bezeichnen, und bleibt doch mit [der] Situation konfrontiert.«64 Das traumatisierte Opfer verharrt infolgedessen in einem Zustand des sprachlosen Entsetzens, in dem es nicht möglich ist, das, was geschehen ist, mit Worten auszudrücken. Janet nimmt mit dieser Beobachtung eine Erkenntnis vorweg, die durch neuere neurobiologische Modelle gestützt wird. Diese Modelle verstehen die PTBS nicht mehr als Angststörung, sondern als spezifische Störung des Gedächtnisses.65

Heute geht die Kognitionswissenschaft von einer eigenen Gedächtnisfunktion aus, die für die Abspeicherung und den Abruf von Lebensereignissen zuständig ist. Die meisten Theorien unterscheiden dabei mindestens zwei Unterformen des episodischen Gedächtnisses. Das deklarative Gedächtnis ermöglicht die zeitliche und räumliche Kontextualisierung von Ereignissen. Es wird gemeinhin auch als »kaltes Gedächtnis« bezeichnet. Das »heiße Gedächtnis« wiederum inkludiert die sensorisch‐perzeptuellen Details von Ereignissen sowie die emotionalen Dispositionen, die mittels eines assoziativen Netzwerks miteinander verwoben sind. Zum besseren Verständnis der Funktionsweise dieser Gedächtnisformen greifen die Psychotraumatolog*innen Neuner, Schauer und Elbert auf das Beispiel einer Erinnerung an Meeresrauschen zurück.66 Im Unterschied zum Gedächtnisabruf im kalten Gedächtnis werde bei der Erinnerung durch das heiße Gedächtnis nicht nur gewusst, wie sich das Meeresrauschen angehört hat – die Erinnerung daran werden während des Abrufs vielmehr wiedererlebt, und zwar einschließlich der physiologischen Reaktionen wie Herzfrequenz oder Muskeltonus, die die erinnerte Situation begleitet haben. Im Zuge einer posttraumatischen Belastungsstörung wirkt sich das Zusammenspiel von Nervensystem und Stresshormonen, das Menschen in traumatisierenden Situationen in Alarmbereitschaft versetzt, drastisch auf die Verarbeitung und Abspeicherung von solchen Erlebnissen aus. Einerseits reagieren die Mandelkerne (Amygdalae) mit einer gesteigerten Aktivität, was zu einer intensiven Einspeicherung in das heiße Gedächtnis führt. Gleichzeitig antwortet die Hippocampus‐Region, die für die (autobiografische) Kontextualisierung wesentlich ist, sehr empfindlich auf Stressoren: »Die kontextuelle Vernetzung von sensorischen Cues, die Angst und Schrecken auslösen, unterbleibt, und der Horror zieht somit in die Gegenwart ein.«67 Die fehlende Verknüpfung bringt eine spezifische Sprachlosigkeit hervor, die als Kernsymptom posttraumatischer Belastungsstörungen gilt.

In Schnee Weiß wird eine solche Sprachlosigkeit auf paradoxe Weise hörbar – und zwar in jenem Moment, in dem das Ich der alternden Autorin zur Sprache kommt und sich dabei mit einem verstummten Instrument gleichsetzt: »Auch aus mir sind einst viele Instrumente erklungen, jetzt bin ich stumm, solang ich spreche jedenfalls« (SW, S. 26). Wir haben es folglich mit einem autopoietisch organisierten, beredten Schweigen zu tun, das um das Unaussprechliche kreist, ohne es benennen zu können: »Ich habe niemandem etwas zu sagen, kann aber nicht aufhören, tut mir leid. Bin außer mir vor Entsetzen, alle andren sind auch außer mir, die Glücklichen!, sie sind gegangen, sie können es nicht mehr hören, ich sing mein Lied, soll ich?« (SW, S. 26). Das Ich, das hier hörbar wird, offenbart sich als von sich selbst und den anderen entfremdet, als abgespalten. Es ist nicht in der Lage, das traumatisierende Erlebnis mitzuteilen.

Die Sprachlosigkeit, die Jelinek in dieser konkreten Passage inszeniert und die als leitendes Prinzip des gesamten Theatertexts dechiffriert werden kann, erweist sich mit Neuner, Schauer und Elbert als »Schnittstelle zur gesellschaftlichen Bedeutung von staatlicher und familiärer Gewalt. Regelhaft sind die Opfer damit konfrontiert, dass selbst nahe Bezugspersonen nicht daran interessiert sind, sich die oftmals grauenhaften Geschichten anzuhören.«68 Aus neurophysiologischer Sicht sind traumatische Erlebnisse derartig intensiv mit Gefühlen von Angst, Hilflosigkeit und Scham verbunden, dass sie das Zusammenspiel der Gedächtnissysteme nachhaltig stören. Gehirn und Geist werden von ihnen in einen »Ausnahmezustand«69 versetzt. Die Abspeicherung des traumatisierenden Ereignisses in die Lebensgeschichte gelingt nicht bzw. wird massiv eingeschränkt. »Das Trauma bleibt ein Fremdkörper, der nicht zum Bestandteil der eigenen Biografie werden kann […].«70 Dieser Ausfall des autobiografischen Gedächtnisses kann vor allem bei Opfern von politischer und wiederholter sexueller Gewalt katastrophale Auswirkungen haben. So hält die Soziologin Gabriele Rosenthal fest, dass bei vielen Holocaust‐Überlebenden »ganze Lebensphasen in den Bereich der Sprachlosigkeit [versinken] und […] dem Biographen nur noch in einzelnen Bruchstücken, Bildern und Stimmungen zugänglich [sind].«71 Dies wirkt sich potenzierend auf die posttraumatisch entwickelte Sprachlosigkeit aus und schützt gleichzeitig die Täter*innen.

In Jelineks Arbeiten für das Theater, die grundsätzlich um die Sprachlosigkeit infolge des Katastrophischen kreisen, manifestiert sich das Traumatische bereits in der Textstruktur. Wir haben es mit Anhäufungen von (Sinn‑)Fragmenten zu tun, die sich jeder narrativen Struktur entziehen und die in keinerlei kausaler, räumlicher oder temporaler Beziehung zueinander stehen. Unterschiedliche Intertexte werden von der Autorin übereinandergeschichtet, ohne »sinnvoll« miteinander verknüpft zu werden. Das, was durch dieses Verfahren hervorgebracht wird, ist nicht nacherzählbar. Stattdessen stechen bestimmte Motive und Bilder ins Auge, die flashbackartig immer wieder im Text rekurrieren und bekannte (Satz‑)Muster aufrufen. In Schnee Weiß ist es die mehrfach semantisch aufgeladene Kuh, deren Gebrüll »[v]ierzig Jahre zu spät, ein gefrorner Ton, Gebrüll damals, Geschrei heute« (SW, S. 5) an mehreren Stellen hörbar wird. Dieses Geräusch hallt in den akustischen Verben tönen (SW, S. 13, 16, 22, 23, 24, 27, 61) und klingen (SW, S. 15, 23, 26, 73) nach und lässt dadurch ein intrusives, auf sensorischer, emotionaler, kognitiver und somatischer Ebene wirksam werdendes Wiedererleben traumatisierender Situationen erfahrbar werden. Gleichzeitig wird dadurch die symptomatische Ignoranz adressiert, mit der traumatisierte Opfer so oft konfrontiert werden: »Was ängstigt ihr euch heute, es ist verjährt, es ist längst verjährt euer Geräusch […]« (SW, S. 17).

In diesem Kontext ist auch das Verfahren der sylleptischen Metonymie hervorzuheben,72 das in Schnee Weiß immer wieder zur Anwendung gelangt. In der folgenden exemplarisch herausgegriffenen Passage setzt Jelinek diese ästhetische Strategie im Rückgriff auf die derben sexualisierten Späße der Satyrn ein:

Jede Frau hat eine Spalte, bei der man sie ergreifen und woanders hinstellen kann, wo man nicht gleich auf sie reinfällt, und still sich selbst befriedigen, wenn kein andrer da ist; jede hat eine, hat jede einen Gott?, einen Gott?, einen Gott? Wahrhaftig nein, nicht jede hat einen, halt!, rückt nicht so schnell vor, da steckt eine fest in ihrer Spalte, rettet sie!, wer hat die Spalte bloß dorthin getan, dem gehört eine ins Gesicht, die Füße sind zu beschäftigt, die erwischen wir nicht, diese blöde Spalte!, da mußte einer ja irgendwann reinfallen, man muß auf diese Spalte hereinfallen, wenn sie schon mal da ist, selbst wenn man sie überhaupt nicht sieht, weil man sie nicht gesehen hat, Schnee drüber, was soll man machen, wenn der Berg einem so bereitwillig seine Spalten öffnet […]. (SW, S. 2–3, Herv. SF)

Das Wort »Spalte« oszilliert hier in seiner materiellen Bedeutung als Bezeichnung einer Öffnung in der Gletscheroberfläche, die eine potenzielle Gefahr für Mensch und Tier darstellt, und der pejorativen bzw. invektiven Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsorgans, das Pars pro Toto zur Degradierung der Frau verwendet wird. Was die »Spalte« auf substantivischer Ebene suggeriert, bewirken auch die Verben »einfädeln«, »verkeilen« und »gleiten«, auf die man später im Text trifft. All diesen Ausdrücken ist eine spezifische Ambivalenz gemein: Sie erlauben sowohl Assoziationen zum Skisport als auch zum Geschlechtsakt. Jelinek kleidet dadurch die publik gewordenen Missbrauchsfälle im österreichischen Skiverband in eine Sprache, die die infolge von Gewalt an Frauen zur Anwendung gelangenden Vertuschungs‑, Verharmlosungs‐ und Verdrängungsmechanismen radikal entlarvt.

Teil der spezifischen Dramaturgie, die Jelinek im Befragen von Traumatisierungsprozessen entwirft, sind zudem unterschiedliche Stilfiguren der Wiederholung. So treffen wir in Schnee Weiß häufig auf Anaphern (»Jeder haut auf uns hin, jeder haut auf uns hin […]« (SW, S. 12)), aber auch auf die Stilmittel der Anadiplose (»jede hat eine, hat jede einen Gott?, einen Gott?, einen Gott?« (SW, S. 2)) oder der Epanodos (»Feiern und fahren, fahren und feiern« (SW, S. 7)). Allen diesen rhetorischen Figuren ist eine symptomatische verstärkende Wirkung gemein, die die Aufmerksamkeit der Zuhörenden/Lesenden auf das Repetitive lenkt. Ohne die von der Skiläuferin Werdenigg publik gemachten Missbrauchsfälle explizit zu schildern, setzt Schnee Weiß das Traumatische dieser wieder und wieder durchlebten Ereignisse in Szene. Die Erinnerungsspuren, die der Theatertext dadurch legt, gehorchen einer eigentümlichen Aporie: Sie lassen Gewalt einerseits zutage treten, andererseits aber auch verschwinden. Diese Dialektik von Zeigen und Verdecken spiegelt sich in dem speziellen Verhältnis von Haupt‐ und Nebentext, das Katharina Pewny für Ein Sportstück konstatiert hat und das auch in Schnee Weiß augenfällig wird:

Die Frau: (ziemlich ramponiert, blutend, vom Engel gestützt) Ihr allerliebsten Freundinnen, denen das auch passiert ist, ihr konntet nachher sagen: wie im Fieber, wir wußten nichts, verstanden nichts, sind aber gezeichnet, zuerst bezeichnet, dann gezeichnet, wie der Schnee, in den jemand hineinschifft. Die Männer können das, mit ihrer Pisse zeichnen, das ist noch weit entfernt von Lust, oder vielleicht gleich höchste Lust des Schaffens, denn das macht einer ganz allein, endlich allein! (SW, S. 41)

Der Nebentext zeigt einen verwundeten, beschädigten Körper, der geschlechtlich codiert ist – er gehört einer »Frau«. Die genderspezifische Zuschreibung erweist sich als potenziell traumatisierend (zuerst bezeichnet, dann gezeichnet). Der Text be‑schreibt dadurch eine Beobachtung, die Bettina Wuttig in ihrer Publikation Das traumatisierte Subjekt angestellt hat: »Geschlechternormen wirken unmerklich immer wieder wie (traumatisierende) Ereignisse, an und durch eine(r) vitale(n) Dimension.«73 Die Gewalt, die damit einhergeht, tritt in Schnee Weiß jedoch im Sprechtext nicht explizit zutage. Wenn Jelinek den männlichen Urin in Szene setzt, der die Frau – die mit weichem, weißem, unberührtem Schnee assoziiert wird – gewissermaßen markiert, dann schreibt sich etwas nicht nur metaphorisch, sondern organisch und vital in eine Oberfläche ein. Geschlecht offenbart sich hier mit Wuttig als »politische Kategorie«, die »über mnemotechnische Prozesse in die Körper [gelangt].«74 Folgerichtig demonstriert Schnee Weiß, dass Geschlecht nicht nur eingeübt und performt, sondern auch erinnert wird – und zwar schmerzhaft. Der bezeichnete Körper wird hier zum gezeichneten Körper, der fiebert, vergisst und verdrängt. »Da war einmal irgendein Vorgang, und so wie jetzt habe ich mich danach plötzlich ganz hinten wiedergefunden, genauso, wie Sie mich jetzt betrachten, also jedenfalls teilweise. Ein Vorgang, der an das Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie gemahnt« (SW, S. 51, Herv. SF).

Jelinek beschreibt nicht nur einen Prozess psychischer und somatischer Dissoziation – sie labelt diesen gleichzeitig explizit als Folge einer Traumatisierung. Wie so oft in ihren Theatertexten trotzt die Autorin mithin der vermeintlichen Unmöglichkeit, dem, was sich der Sprache entzieht, mit Sprache zu begegnen. Sie arbeitet kontinuierlich an einem Theater, das sich jenseits von erzählbaren Erfahrungen situiert, das nach dem Trauma zu verorten ist. Wie aber tritt das sogenannte Posttraumatische in Theatertexten hervor, die (noch) auf eine Fabel zurückgehen? Dieser Frage nähere ich mich nun abschließend mit Blick auf Euripides’ Bakchen, die Jelinek in Schnee Weiß intertextuell aufgreift.

Endnoten

57 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. https://www.icd-code.de/icd/code/F43.1.html [Zugriff am 4.9.2019], Herv. SF.

58 Vgl. Wuttig, Bettina: Das traumatisierte Subjekt. Geschlecht – Körper – Soziale Praxis. Eine gendertheoretische Begründung der Soma Studies. Bielefeld: transcript 2016, S. 251.

59 Brown, Laura S.: »Not Outside the Range. One Feminist Perspective on Psychic Trauma.« In: Psychoanalysis, Culture and Trauma 48/1 (1991), S. 119–133, hier S. 121.

60 Ebd., S. 122.

61 Cvetkovich, Ann: An Archive of Feelings. Trauma, Sexuality and Lesbian Public Cultures. Durham: Duke University Press 2003, S. 2.

62 Zum Phänomen der verletzenden Rede vgl. v.a. Butler, Judith: Excitable Speech: A Politics of the Performative. London: Routledge 1997. In Bezug auf Praktiken des Invektiven vgl. die Projekte und Publikationen des interdisziplinär organisierten SFB 1285 Invektivität – Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung unter der Leitung von Lars Koch: https://tu-dresden.de/gsw/sfb1285 [Zugriff am 28.8.2019].

63 Der Psychiater und Traumaforscher Bessel van der Kolk bemerkt, dass die Fähigkeit, Gefühle in Worte zu fassen, bei vielen Traumatisierten in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Emotionen können dann nur mehr in Form einer körperlichen Dysfunktion ausgedrückt werden (vgl. van der Kolk, Bessel A.: »Die Vielschichtigkeit der Anpassungsprozesse nach erfolgter Traumatisierung: Selbstregulation, Reizdiskriminierung und Entwicklung der Persönlichkeit.« In: McFarlane, Alexander C./van der Kolk, Bessel A./Weisaeth, Lars (Hg.): Traumatic Stress. Grundlagen und Behandlungsansätze. Theorie, Praxis und Forschungen zu posttraumatischem Streß sowie Traumatherapie. Paderborn: Junfermann 2000, S. 169–194, hier S. 181.

64 Pierre Janet, zit.n. van der Kolk, Bessel A.: »Trauma und Gedächtnis.« In: McFarlane, Alexander C./van der Kolk, Bessel A./Weisaeth, Lars (Hg.): Traumatic Stress, S. 221–240, hier S. 227.

65 Vgl. Bering, Robert/Schedlich, Claudia/Zurek, Gisela: »Psychotraumatologie und PTBS.« In: DNP 17 (2016), S. 40–50, hier S. 42.

66 Vgl. zum folgenden Absatz: Neuner, Frank/Schauer, Maggie/Elbert, Thomas: »Narrative Exposition.« In: Maercker, Andreas (Hg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. Heidelberg: Springer 2013, S. 327–350, hier S. 331.

67 Ebd., S. 331.

68 Ebd., S. 329.

69 Ebd., S. 329.

70 Ebd., S. 329. Vgl. dazu auch Neuner, Frank et al.: »Narrative Exposure Therapy for the Treatment of Traumatized Children and Adulescents (KIDNET): From Neuro‐Cognitive Theory to Field Intervention.« In: Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America 17 (2008), S. 641–664.

71 Rosenthal, Gabriele: »Traumatische Familienvergangenheiten.« In: Dies. (Hg.): Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Gießen: Psychosozial Verlag 1997, S. 35–50, hier S. 40.

72 Zur Kategorie der Metonymie bei Jelinek vgl. Biebuycj, Benjamin/Martens, Gunther: »Metonymia in memoriam. Die Figürlichkeit inszenierter Vergessens‐ und Erinnerungsdiskurse bei Günter Grass und Elfriede Jelinek.« In: De Winde, Arne/Gilleir, Anke (Hg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutschsprachigen Literatur nach 1989. Amsterdam/New York: Rodopi 2008, S. 243–272.

73 Wuttig, Bettina: Das traumatisierte Subjekt, S. 137.

74 Ebd., S. 275.