3.4 Gesten alterisierender Nostrifizierung

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Viele Theatermacher*innen, die sich Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen bislang angenommen haben, fassen das darin auftretende Wir als Chorfigur auf, die es mit »authentischen« Refugees zu besetzen gelte. So erarbeitete etwa das Künstlerkollektiv »Die schweigende Mehrheit sagt JA!« ihre Performance Schutzbefohlene performen Jelineks Die Schutzbefohlenen (Regie: Bernhard Dechant, Tina Leisch) mit Asylwerber*innen der Aufnahmestelle Traiskirchen. Die Erfahrungen dieses kollaborativen Probenprozesses flossen dabei in die Inszenierung ein, wie Regisseurin Tina Leisch anmerkte: »Wir arbeiten mit Sätzen aus Jelineks Text und Sätzen, die in den Proben entstehen. Und mit Sätzen, die in den Proben als Reaktion auf Jelineks Sätze entstehen. […] Wir arbeiten mit ÜbersetzerInnen in mehreren Sprachen, mit Refugees, die schon länger in Österreich sind und schon Deutsch können. Und mit Händen und Füßen.«64 Die Produktion wurde 2015 mit dem österreichischen Nestroy‐Spezialpreis ausgezeichnet.

Auch Peter Carps Inszenierung von Die Schutzbefohlen, die 2016 am Theater Oberhausen realisiert wurde, sieht Refugees auf der Bühne vor. Hier aber ist es ein schweigender Chor von Geflüchteten, der den Text vier Schauspieler*innen überlässt, die das Wir kurzerhand in ein »Sie« transformieren: »Was bei Jelinek ursprünglich die Klage der Betroffenen selbst ist, wird hier zur Konversation einer vierköpfigen Gesellschaft, die konservative und libertäre Positionen der öffentlichen Diskussion um Zuwanderung und Überfremdung unter sich aufteilt«65, heißt es dazu in der Nachtkritik von Friederike Felbeck.

Die beiden skizzierten Produktionen stehen exemplarisch für eine international zu beobachtende Tendenz, Die Schutzbefohlenen gemeinsam mit Geflüchteten zu erarbeiten. Den Anstoß für derartige partizipative Zugänge gab Nicolas Stemanns Urlesung des Textes am 21. September 2013 in der Hamburger St. Pauli Kirche, wo seit Juli 2013 afrikanische Refugees untergebracht waren. Gemeinsam mit einem Teil dieser Menschen präsentierten dort Schauspieler*innen des Thalia Theaters Hamburg den Text. Das Projekt bildete die Basis für die Uraufführung, die am 23. Mai 2014 im Rahmen des Festivals Theater der Welt in Mannheim Premiere feierte. Für die Koproduktion zwischen dem Hamburger Thalia Theater und dem Festival Theater der Welt in Mannheim entschied sich Stemann, sowohl mit (ausgebildeten) Schauspieler*innen des institutionalisierten Theaterbetriebs wie auch mit Laien zu arbeiten. Die dazugehörige Statist*innenausschreibung, auf die die Theaterwissenschafterin Hanna Voss aufmerksam gemacht hat, lautet wie folgt:

Mind. 20 Statisten gesucht für die Eröffnungsinszenierung von Theater der Welt!
Für die Inszenierung Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek sucht der Regisseur Nicolas Stemann dringend Statisten. Wir suchen eine gemischte Gruppe, also alle Altersgruppen, Geschlechter und ethnische Zugehörigkeiten sind willkommen. Das Stück verhandelt die Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa. […] Voraussetzungen:
– flexible Verfügbarkeit […] – Lust auf der Bühne zu stehen, in der Gruppe einen Text zu sprechen (keine Sprechausbildung notwendig) und wahrscheinlich auch physisch anstrengende Aktionen auszuführen.
Die Tätigkeit wird vergütet entsprechend der am Nationaltheater üblichen Sätze für Statisten.66

Die Stellenanzeige ist aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Zum einen erfolgt sie äußerst kurzfristig, nämlich knapp zwei Wochen vor Premiere. Zum anderen rufen die darin formulierten Einstellungskriterien nicht nur Kategorien wie Alter und Geschlecht, sondern auch jene der Ethnizität auf. Tatsächlich wird später ein Großteil des Publikums davon ausgehen, dass es sich bei den Chormitgliedern um »reale Asylsuchende aus Mannheim«67 handelt. Die Annahme liegt nahe, sind die Namen der Chormitglieder doch im Gegensatz zu den anderen Spielenden im Programmheft nicht ausgewiesen. Dort heißt es:

Es spielen Thelma Buabeng
Ernest Allan Hausmann
Felix Knopp Isaac Lokolong Daniel Lommatzsch
Barbara Nüsse Dennis Roberts Sebastian Rudolph
und ein Flüchtlingschor Live‐Musik Daniel Regenberg
Live‐Video Claudia Lehmann68

In Wirklichkeit aber bestand dieser sogenannte Flüchtlingschor bei der Uraufführung in Mannheim zur Hälfte aus Statist*innen, die andere Hälfte setzte sich aus vormaligen Asylwerber*innen zusammen. Kurzfristig angeheuert, nämlich zwei Wochen bzw. eine Woche vor Premiere, wurden auch die Schauspieler*innen Thelma Buabeng und Ernest Allan Hausmann (beide BIPoC).69

Mit dieser Besetzungspolitik partizipiert Stemann an einem Phänomen, das dem institutionalisierten Sprechtheater seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert eigen ist: Im Trachten nach sogenannten typgerechten Besetzungen tendiert Theater (nach wie vor) dazu, Kategorisierung des Körpers zu produzieren bzw. Humandifferenzierungen zu reproduzieren. Ellen Koban, Friedemann Kreuder und Hanna Voss beschreiben dieses Phänomen wie folgt:

Während sich »die Kunst« mehrheitlich auf freiheitliche Prinzipien wie Gleichberechtigung und Toleranz beruft und soziale Kategorisierungen auf der Bühne als solche auszustellen und zu verflüssigen vermag, integriert die Institution bei Weitem nicht alle darstellenden Künstler/innen. So prägen beispielsweise normative, in den (Bildungs‑)Kanon eingeschriebene Vorstellungen die Erwartungen der Rezipient/innen vor sowie die Entscheidungen der Produzent/innen hinter der Bühne in Bezug auf die »typgerechte« Besetzung von Rollen wesentlich mit.70

An dieser Problematik partizipiert aber auch die Praktik des Blackfacing, die bis vor Kurzem noch völlig unhinterfragt im mitteleuropäischen Theater zum Einsatz gelangte, wie uns Katrin Sieg erinnert: »In the spring of 2012 […], this practice bacame the object of public protest and stirred heated debates in the theatres, at academic conferences, and in the cultural pages of national dailies. Since then a new term has entered the German language: the practice is now referred to as ›blackfacing‹ in German.«71 Umso brisanter erscheint die Tatsache, dass auch in Stemanns Uraufführung der Schutzbefohlenen solche Praktiken zum Einsatz gelangten.72 Infolge der Kritik, die es dafür hagelte, verzichtete Stemann für die Aufführungsserie am Hamburger Thalia Theater darauf und arbeitete seine Inszenierung radikal um. Der Chor bestand nunmehr fast ausschließlich aus Geflüchteten, wobei der Großteil von ihnen BIPoC waren.73 Das Thalia Theater ergreife dadurch, so behauptete Ludwig Greven in der Wochenzeitung Die Zeit, »selbst Partei, wird politisch: für die Lampedusa‐Flüchtlinge und andere Asylsuchende, die an den gesetzlichen Regelungen und nach ihrer Auffassung an der Unbarmherzigkeit der staatlichen Behörden in Hamburg und ganz Europa scheitern.«74 Wie ich an anderer Stelle bereits ausgeführt habe, tappten Stemann und sein Team jedoch gerade durch die Miteinbeziehung von sogenannten authentischen Refugees in eine Falle: Sie affirmierten dadurch hier/dort‐Distinktionen und damit einhergehend ein Denken von Grenzen, das die Individuen beider Seiten egalisiert.75 Ein Close Viewing der Hamburger Premiere am Thalia Theater, das – unter besonderer Berücksichtigung von Auf‐ und Abtritten – den Beginn und das Ende der Aufführung fokussiert, soll diese These untermauern.

Wie Aischylos lässt auch Stemann den Theaterabend vom Chor eröffnen. Wir haben es mit einer Gruppe von 25 Performenden zu tun, die sich im Skandieren der Parole »We are here and we will fight, freedom of movement is every­body’s right« an der Rampe des Thalia Theaters formiert, und zwar im Dunkeln – die Körper der Choreuten sind nur schemenhaft wahrzunehmen. Wenn Juliane Vogel in Rekurs auf Hannah Arendt behauptet, dass jeder Auftritt »den Eintritt in ›a space of appearance‹«76 markiert, dann ist dieser Raum des Erscheinens bei Stemann ein obskurer. Das In‑Erscheinung‐Treten erweist sich hier als Akt, der weniger an ein Erscheinungs‐Bild gekoppelt ist als vielmehr an das Wirkprinzip der Performanz. Hannah Arendt hält in Vita Activa fest:

Handelnd und sprechend offenbaren die Menschen jeweils, wer sie sind, zeigen aktiv die personale Einzigartigkeit ihres Wesens, treten gleichsam auf die Bühne der Welt, auf der sie vorher so nicht sichtbar waren, solange nämlich, als ohne ihr eigenes Zutun nur die einmalige Gestalt ihres Körpers und der nicht weniger einmalige Klang der Stimme in Erscheinung traten.77

Die auf der Bühne des Thalia Theaters im Dunkeln Erscheinenden erlangen ihre Identität dadurch, dass sie im öffentlichen Raum sprechen und (also) handeln. Gerade in diesem performativen Aspekt zeigt sich mit Arendt aber auch die Einzigartigkeit eines jeden/einer jeden: »Sprechend und handelnd unterscheiden Menschen sich aktiv voneinander, anstatt lediglich verschieden zu sein; sie sind die Modi, in denen sich das Menschsein offenbart.«78 Indem Stemann die Performenden als Chorkörper sprechen, d.h. agieren lässt, inszeniert er auf aporetische Weise die Einzigartigkeit aller in Erscheinung Tretenden. Die Dunkelheit der unausgeleuchteten Bühne erscheint in diesem Zusammenhang wie ein Urzustand, aus dem heraus sich der Mensch sprechend und handelnd in eine bereits (vor‑)existierende Welt einschaltet – »[…] und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür übernehmen,«79 lesen wir bei Hannah Arendt.

Gleichzeitig sensibilisiert dieser Auftritt für die politische Schlagkraft von Versammlungen, die laut Judith Butler nicht ausschließlich an den geschriebenen oder gesprochenen Diskurs, der öffentlichen Protesten inhärent ist, gekoppelt ist. Von Bedeutung ist vielmehr, dass wir es dabei mit verkörperten Handlungen zu tun haben. Dementsprechend strapazieren die Körper, die sich in Stemanns Inszenierung an der Bühnenrampe versammeln, ein Recht zu erscheinen:

[…] I want to suggest only that when bodies assemble on the street, in the square, or in other forms of public space (including virtual ones), they are exercising a plural and performative right to appear, one that asserts and instates the body in the midst of the political field, and which, in its expressive and signifying function, delivers a bodily demand for a more liveable set of economic, social, and political conditions no longer afflicted by induced forms of precarity.80

Das Bild der politischen Selbstkonstitution, das Stemanns Auftrittsästhetik entwirft, wird jedoch paradoxerweise genau in jenem Moment gebrochen, in dem der Chor buchstäblich in die »Sphäre der Sichtbarkeit«81 eintritt. Die Körper der Choreuten sind nunmehr kalt ausgeleuchtet, ihre Gesichter werden erkennbar. Akustisch‐performativ in Erscheinung treten jetzt drei Personen, die im Zentrum der Hinterbühne sichtbar werden und von dort aus ansetzen, den Jelinek‐Text abwechselnd, hin und wieder auch unisono, vom Blatt zu lesen. Das warme Licht, in das sie getaucht sind, hebt sie deutlich von den mittlerweile verstummten Choreuten an der Rampe ab, lässt sie paradoxerweise hervor‐treten. Verstärkt wird dieses Phänomen durch drei Mikrofone, die die Stimmen der ausgebildeten Schauspieler unterstützen. Im Gegensatz zum »Flüchtlingschor« verfügen diese Darsteller mithin über technische Mittel der akustischen Amplifikation, die für das Erscheinen in der politischen Sphäre unabdingbar sind, wie Judith Butler unterstreicht:

[…] »the people« are not just produced by their vocalized claims, but also by the conditions of possibility of their appearance, and so within the visual field, and by their actions, and so as part of embodies performance. Those conditions of appearance include infrastructural conditions of staging as well as technological means of capturing and conveying a gathering, a coming together, in the visual and acoustic fields. The sound of what they speak, or the graphic sign of what is spoken, is as important to the activity of self‐constitution in the public sphere (and the constitution of the public sphere as a condition of appearance) as any other means.82

Das Gefälle, das zwischen den in Erscheinung tretenden Darstellern und dem verstummten Chor augenscheinlich wird, bleibt über einige Minuten bestehen – dann zieht Stemann den Chor gänzlich ab und überlässt den drei Ensemblemitgliedern die gesamte Bühne. Es dauert nicht lange, bis die drei mitsamt ihren Mikrofonstativen an die vorderste Bühnenkante rücken und die Lücke, die der abgezogene Chor hinterlassen hat, füllen.

Wenngleich Stemanns In‑Szene‐Setzung der Auf‑, Ab‐ und Hervortritte augenscheinlich auf ein Erfahrbarmachen spezifischer Ausgrenzungsmechanismen abzielt, so (re‑)produziert die Arbeit dadurch ein spezifisches Doing Refugee, das sich, wie Hanna Voss überzeugend argumentiert hat, »im Zusammenspiel von ethnischen Merkmalen auf sprachlicher Ebene und offensichtlicher Unprofessionalität bzw. einem Mangel an professioneller Darstellungskompetenz [vollzieht].«83 Diese »performative Hervorbringung von ›Flüchtlingen‹«84 findet nicht nur auf inszenatorischer Ebene statt. Bezeichnenderweise manifestiert sie sich auch in der Applausordnung der Hamburger Premiere, die ich im Folgenden skizzieren möchte.

Sobald aus dem Zuschauer*innenraum Applaus aufkommt, gruppieren sich die sechs Ensemblemitglieder sowie der Musiker an der Bühnenrampe. Dem üblichen Procedere des Stadt‐ und Staatstheaterbetriebs entsprechend, fassen sie sich an den Händen und verbeugen sich, bevor zwei der Darsteller*innen Richtung Hinterbühne eilen und den »Flüchtlingschor« aus dem Off holen. Sichtlich euphorisiert laufen nun die Choreuten an die Bühnenkante, um sich Hand an Hand zu verneigen. Was die Situation aber bemerkenswert macht, ist das Verhalten der Ensemblemitglieder: Diese positionieren sich nämlich, während der Chor seinen Applaus entgegennimmt, hinter den Choreuten und stimmen in den Beifall des Publikums mit ein. Erst danach kommen sie an die vordere Bühnenkante, reihen sich in die mittlerweile ziemlich lange Menschenkette der Choreuten ein und verbeugen sich gemeinsam mit ihnen.


Abbildung 11:Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen. Regie: Nicolas Stemann. Thalia Theater Mannheim 2014. Probenfoto: Christian Charisius/APA/picturedesk.com.

Applaus ist, wie Bettina Brandl‐Risi festgestellt hat, eine »kollektive Geste«.85 Darüber hinaus aber handelt es sich dabei um eine Geste, die einer spezifischen Dialektik von Inklusion und Exklusion unterliegt. Diejenigen, die einer performenden Person oder Gruppe applaudieren, konstituieren sich zu einer Gemeinschaft von Huldigenden. Gleichzeitig findet just in diesem Moment eine Distanzierung zu dem emporgehobenen, gefeierten Gegenüber statt. Dabei wird eine Grenze gezogen, die im Falle der Guckkastensituation an der Rampe verläuft. Applaus kann mithin als alterisierend‐nostrifizierende Geste begriffen werden, die gemeinschaftsstiftend fungiert und gleichzeitig ein Boundary Making evoziert.

In der Hamburg‐Premiere von Stemanns Schutzbefohlenen‐Inszenierung jedoch verläuft die Applaus‐Grenze nicht zwischen Zusehenden und Darstellenden, sondern zwischen professionellen Darstellenden und Laien, die in diesem Falle Refugees sind und die von Stemann nach dem Schlussapplaus als solche markiert werden: »Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle noch einmal den Darstellerinnen und Darstellern des Flüchtlingschors zu danken, ohne die ich diese Inszenierung nicht hätte machen können und machen wollen, und die hier großartig dazu beigetragen haben.«86 Daraufhin folgt eine Auskunft über den Aufenthaltsstatus der Spielenden. Was einerseits als respektvolle, politisch engagierte Geste gelesen werden kann, affirmiert andererseits ein Denken, das zwischen »den Unsrigen« und »den Anderen« unterscheidet. Die Funktion der Selbstverortung, die Stemann in diesem Kontext als Regisseur einnimmt, verweist auf ein grundsätzliches Problem, das die Unterscheidung von »Menschensorten«87 nach sich zieht: Wir/Die‐Unterscheidungen unter Menschen werden niemals von einem Objective Eye getroffen, sondern platzieren den oder die Unterscheidende/n jeweils selbst auf einer Seite. Damit sind, wie der Soziologe Stefan Hirschauer unterstreicht, Valenzen verbunden, die von minimalen Präferenzen für die sogenannten Unsrigen bis hin zu auffälligen Valorisierungen und Diskreditierungen reichen: »Unterscheidungen machen dabei ebenso unterschiedlich wie gleich, sie haben eine polarisierende Vorderseite und eine homogenisierende Kehrseite; sie egalisieren oder ›versämtlichen‹ die Elemente auf beiden Seiten der Unterscheidung (z.B. ›die Schwarzen‹ und ›die Weißen‹).«88

Damit in Zusammenhang steht ein weiteres Phänomen, das sowohl im alltagsweltlichen wie auch im medialen Diskurs weitgehend ausgeblendet wird: Humane Individuen verfügen nicht nur über eine bestimmte, isolierte »Mitgliedschaft«, die sich an Konzepten wie Ethnizität, Rasse, Gender, Religion, Alter etc. orientiert. Sie haben solcherlei »Mitgliedschaften« immer schon als Mehrfachzugehörigkeit, wie die Juristin Kimberlé Crenshaw bereits in den 1990er‐Jahren hervorgehoben und damit eine Intersektionalitätsdebatte angestoßen hat, die die Gender Studies nachhaltig geprägt hat.89 Drama und Theater tendieren traditionsgemäß dazu, diesen Umstand der Mehrfachzugehörigkeit auszublenden und bestimmte Mitgliedschaften zu exponieren. Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen aber steht einer solchen Tendenz diametral gegenüber. Hier treten weder Figuren noch Sprechinstanzen, sondern vielmehr ein polymorphes Sprechen auf, das für die Vielschichtigkeit von Zugehörigkeit sensibilisiert. So könnte die Schlüsselfrage, die das ominöse Wir des Jelinek’schen Textes aufwirft, folgendermaßen lauten: Welche ästhetischen Praktiken erlauben es, die Kontingenz von Zugehörigkeit zu demonstrieren?

Eine Möglichkeit des Undoing Ethnicity besteht in einem von Soziolog*innen wie Stefan Hirschauer vorgeschlagenen Ansatz, kulturelle Unterscheidungen – anders, als das topologisch orientierte Konzept der Boundary dies tut – in der Zeit zu denken und auf die Momente der Aktualisierung und Neutralisierung von Zugehörigkeiten zu fokussieren: etwa auf biografische Wendepunkte, Unterbrechungen und Abbrüche.90 Das topologisch gedachte Konzept von Nationalität weicht dadurch Fragen, die man mit Hirschauer wie folgt formulieren könnte: »Welche subjektiv erlebte Zugehörigkeit ist wann und wie lange affektiv besetzt? Welche Faktoren bestimmen solche Konjunkturen in Institutionen und Interaktionen? Unter welchen historischen Bedingungen setzt sich eine Unterscheidung durch, welches Bedingungsgefüge setzt sie außer Kraft?«91 Theater und Performance verfügen über vielfache Möglichkeiten, Zugehörigkeit über solcherlei Fragen zu verhandeln und erfahrbar zu machen, dass es sich bei Bestandteilen einer Gruppe stets um »zeitlich fluktuierende Affekte, Prozesse der Kategorisierung, politische Rhetoriken, Organisationsleistungen und massenmediale Rahmungen«92 handelt. Besonders das postdramatische Theater, das sich durch ein großes Interesse an der Generierung und Reflexion vielschichtiger Zeiterfahrungen auszeichnet, eröffnet potenzielle Räume für ein solches Unterfangen. Die biografische Zeit der Künstler*innen tritt hier, folgt man Hans‐Thies Lehmann, gleichrangig an die Seite der Zeit des Dargestellten und der Darstellung.93 Tatsächlich wählt auch Stemann für Die Schutzbefohlenen einen solchen biografischen Ansatz: Am Ende der Aufführung erzählen die Mitglieder des sogenannten Flüchtlingschors an der Rampe stehend aus ihrem Leben und geben dabei sehr Persönliches preis. Aber werden dadurch tatsächlich Möglichkeiten erschlossen, Zugehörigkeit neu zu denken? Die Geschichten, die die Performenden erzählen, sind ausschließlich Fluchtgeschichten. Es sei dahingestellt, ob Stemann und sein Team die Sprechenden dazu angehalten haben, ihre Berichte dementsprechend zu gestalten. Unbestritten aber ist, dass die daraus resultierenden Szenen abermals ein Boundary Making evozieren zwischen den deklarierten bzw. sich als solche deklarierenden Refugees und den Ensemblemitgliedern des Thalia Theaters, die sich einem solchen autobiografischen Prozess eben nicht unterziehen (müssen).

Endnoten

64 Nägele, Sarah: »385 Tränen, 596 Lächeln.« https://thegap.at/385-traenen-596-laecheln 16.10.2015 [Zugriff am 6.3.2019]. Vgl. hierzu auch Leisch, Tina: »Schutzbefohlene, die sich in Traiskirchen kennen gelernt haben, performen Jelineks Schutzbefohlene.« https://www.schweigendemehrheit.at/schutzbefohlene-die-sich-in-traiskirchen-kennen-gelernt-haben-performen-jelineks-schutzbefohlene 1.10.2015 [Zugriff am 6.3.2019].

65 Felbeck, Friederike: »Home‐Zone‐Bewohner unter sich.« https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10741:die-schutzbefohlenen-am-theater-oberhausen-zaehmt-peter-carp-elfriede-jelineks-leidenschaftliche-fluechtlingsklage&catid=38&Itemid=40 3.2.2016 [Zugriff am 6.3.2019].

66 E‑Mail an das theaterwissenschaftliche Institut der Johannes Gutenberg‐Universität Mainz, zit.n. Voss, Hanna: »Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen zwischen Ästhetik und Institution.« In: Peter, Birgit/Pfeiffer, Gabriele C. (Hg.): Flucht, Migration, Theater. Dokumente und Positionen. Mainz/Wien: V&R unipress 2017, S. 165–176, hier S. 166.

67 Berger, Jürgen: »Im Zentrum der Menschenrechtskatastrophe.« In: Schwäbische Zeitung, 27.5.2014, S. 5.

68 Programmheft zur Uraufführung von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen (Regie: Nicolas Stemann), Festival Theater der Welt, Mannheim/Thalia Theater Hamburg, Premiere: 23.5.2014.

69 Vgl. Voss, Hanna: »Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen«, S. 169.

70 Kreuder, Friedemann/Koban, Ellen/Voss, Hanna (Hg.): »Vorwort.« In: Dies.: Re/Produktionsmaschine Kunst. Kategorisierungen des Körpers in den Darstellenden Künsten. Bielefeld: transcript 2017, S. 9–11, hier S. 9.

71 Sieg, Katrin: »Race, Guilt and Innocence. Facing Blackfacing in Contemporary German Theatre.« In: German Studies Review 38/1 (2015), S. 117–134, hier S. 117f.

72 Vgl. hierzu u.a. Wille, Franz: »Nur die ganze Welt.« In: Theater heute 7/2014, S. 6–10.

73 Hanna Voss hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich zu Beginn der Aufführungen auch die beiden Schauspieler*innen Hausmann und Buabeng unter den Chor mischten. Vgl. Voss, Hanna: »Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen«, S. 174.

74 Greven, Ludwig: »Hamburger Asyl‐Theater.« In: Die Zeit, 15.9.2014.

75 Vgl. Felber, Silke: »(Un)making Boundaries. Representing Elfriede Jelinek’s Charges (the Supplicants).« In: Sharifi, Azadeh/Wilmer, Steven Elliot (Hg.): Theatre and Statelessness https://www.critical-stages.org/14/unmaking-boundaries-representing-elfriede-jelineks-charges-the-supplicants [Zugriff am 11.3.2019] (= Critical Stages 14/2016).

76 Vogel, Juliane: »›Who’s there?‹ Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater.« In: Vogel, Juliane/Wild, Christopher (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin: Theater der Zeit 2014, S. 22–37, hier S. 22. Vogel bezieht sich auf Arendt, Hannah: The Human Condition. Chicago: University of Chicago Press 1958, S. 199.

77 Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper 2015, S. 219.

78 Ebd., S. 214.

79 Ebd., S. 214.

80 Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, S. 11.

81 Vogel, Juliane: »›Who’s there?‹ Zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater«, S. 27.

82 Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, S. 19f.

83 Voss, Hanna: »Doing Refugee in Nicolas Stemanns Die Schutzbefohlenen«, S. 168–169.

84 Ebd., S. 168.

85 Brandl‐Risi, Bettina: »Genuss und Kritik. Partizipieren im Theaterpublikum.« In: Kammerer, Dietmar (Hg.): Vom Publicum. Das Öffentliche in der Kunst. Bielefeld: transcript 2012, S. 73–90, hier S. 79.

86 Nicolas Stemann zit.n. dem mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Mitschnitt der Premiere von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen am Thalia Theater, 12.9.2014, Minute 121.30-122.00.

87 Hirschauer, Stefan: »Un/Doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten.« In: Zeitschrift für Soziologie 43/3 (2014), S. 170–191, hier S. 174.

88 Ebd., S. 174.

89 Vgl. Crenshaw, Kimberlé: »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color.« In: Standford Law Review 43/6 (1991), S. 1241–1299; Zu intersektionalen Fragestellungen vgl. zudem exemplarisch Winkler, Gabriele/Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript 2009; Carasthatis, Anna: Intersectionality: Origins,Ccontestations, Horizons. Lincoln: University of Nebraska Press 2016; Hill Collins, Patricia: Intersectionality. Cambridge: Malden 2016.

90 Vgl. Hirschauer, Stefan: »Un/Doing Differences.«

91 Vgl. ebd., S. 182.

92 Ebd., S. 172. Hirschauer bezieht sich hier auf Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg: Hamburger Edition 2007.

93 »Die Zeit‐Räume des postdramatischen Theaters eröffnen eine vielschichtige Zeit, die nicht Zeit des Dargestellten oder der Darstellung allein ist, sondern die Zeit der das Theater machenden Künstler, ihrer Biographie. So splittert sich der einst homogene Zeit‐Raum des dramatischen Theaters in heterogene Aspekte auf.« (Lehmann, Hans‐Thies: Postdramatisches Theater. Berlin: Verlag der Autoren 1999, S. 301.)