4.7 Ästhetiken des Dissoziativen

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Das ikonografische Zitat der Pronomosvase, das Jelinek in die Online‐Publikation von Schnee Weiß einarbeitet, beschwört nicht nur den genuin performativen Impetus von Jelineks Theatertexten. Es stellt darüber hinaus ein Scharnier dar, das die beiden in Schnee Weiß zitierten antiken Prätexte Die Bakchen und Die Satyrn als Spürhunde miteinander verbindet. Wie Mark Griffith anschaulich demonstriert hat, verbildlicht die Pronomosvase – die in der Forschung in Seite A und Seite B unterteilt wird – die untrennbare Verstrickung von Tragödie und Satyrspiel, indem sie sowohl Schauspieler des »hehren« Genres wie auch Satyr‐Choreuten abbildet.75 Zudem zeigen die beiden Seiten der Vase sowohl mythologische Szenen rund um den (Theater‑)Gott Dionysos als auch die (theaterspezifische) Aufführungsrealität von Tragödie und Satyrspiel. Mit anderen Worten: Eine Seite der Vase illustriert Dionysos, die Satyrn und die Mänaden als mythologische Figuren, während die andere Seite Schauspieler, Musiker und Satyr‐Choreuten auftreten lässt. So wie Tragödie und Satyrspiel miteinander verknüpft sind, erweisen sich beide Seiten der Pronomosvase als ineinander verschlungen: Sie spielen zusammen und bedingen sich gegenseitig.



Abbildung 14: Apulischer Volutenkrater (Pronomosvase). Pronomos‐Maler. Detail. Museo Archeologico Nazionale di Napoli 3240. Um 400 v. Chr. Aus: Taplin, Oliver/Wyles, Rosie (Hg.): The Pronomos Vase and its Context. Oxford: Oxford University Press 2010, S. XVf. (Inlay).

Diese Verknüpfungen von Satyrspiel und Tragödie sowie von Mythos und Theatralität, die das Artefakt der Vase zum Vorschein bringt, manifestieren sich in Schnee Weiß mittels der intertextuellen Verwebung eines spezifischen Satyrspiels (nämlich Die Satyrn als Spürhunde) und der Bakchen‐Tragödie des Euripides. Wenn nun ausgerechnet die Bakchen zitiert werden, dann ruft Jelineks Theatertext dadurch einmal mehr den Dionysoskult in Erinnerung, der für die Rezeption der Pronomosvase und für das Verständnis des Satyrspiels so zentral ist. In den Bakchen fungiert dieser Kult um den Theatergott als Motor der tragischen Erfahrung und lässt dabei das immense Gewaltpotenzial erfahrbar werden, das der antiken Diskursform der Tragödie grundsätzlich inne ist. Und doch ist die Ästhetik der Gewalt, die Euripides in den Bakchen entwirft, in ihrer Drastik und in ihrem grenzüberschreitenden Potenzial beispiellos in der griechischen Tragödie: Wenn Agaue in der finalen Szene mit dem Kopf ihres eigenen Sohnes erscheint, dann vollzieht sie dadurch die Tatbestände Kindsmord, Kannibalismus und Menschenopfer und ruft mithin drei Tabus auf, die im Laufe der Zeit nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Interessant daran ist aber nicht ausschließlich, was hier gezeigt wird, sondern vielmehr wie dies geschieht. Eine genauere Beobachtung dessen nämlich lässt uns die Bakchen‐Tragödie als Vorläuferin einer posttraumatischen Ästhetik lesen, die in Jelineks Fortschreibung so deutlich zutage tritt.

Rufen wir uns den Verlauf der Tragödie in Erinnerung: Thebens König Pentheus weigert sich, dem neuen Gott Dionysos zu huldigen. Daraufhin rächt sich Dionysos an ihm, indem er Agaue, die Mutter des Pentheus, in Raserei versetzt. Im Wahn tötet Agaue ihren eigenen Sohn, den sie für ein wildes Tier hält. Wie sich dieses blutrünstige Massaker abspielt, wird in der Tragödie bzw. auf der Bühne nicht gezeigt, sondern a posteriori von einem Boten berichtet. An diesen Botenbericht schließt sich eine Ecce‐Szene an, in der Agaue nach und nach zu sich kommt. Die Szene beginnt damit, dass Agaue stolz mit ihrer Siegestrophäe auftritt. In Händen trägt sie den Kopf ihres eigenen Sohnes Pentheus, den sie jedoch – noch dem von Dionysos bewirkten Wahn verfallen – für den Kopf eines Berglöwen hält. Der Chor weiß um die Verblendung Agaues und fordert sie auf, ihre Beute den Mitbürger*innen zu zeigen: »Zeig nun, Unsel’ge, deine Siegesbeute den/Mitbürgern, deinen Fang, mit dem du heimgekehrt!« (Eur. Ba. 1200f.). Die darauffolgende Szene spannt sich zwischen dem Jagdstolz der Agaue, die ihrem Sohn den Fang präsentieren will, und dem Horror des wissenden Chors auf.

Mit dem Auftritt des Kadmos folgt nun der zweite Abschnitt der Ecce‐Szene. Kadmos fordert die Diener auf, Pentheus’ Leichenteile, die nach mühevoller Suche endlich zusammengetragen werden konnten, zu präsentieren. An die Zeige‐Geste, die der gesamten Ecce‐Szene eingeschrieben ist, knüpft sich die schleichend aufkommende Erkenntnis der Agaue. Oskar Werner übersetzt die dazugehörige Schlüsselpassage wie folgt:

Kadmos: 
Weh, weh, kommt die Erkenntnis euch, was ihr getan,
Leid leidet ihr dann, furchtbar! Doch wenn bis zum
Schluß
In diesem Zustand stets ihr bleibt, in dem ihr seid,
Nicht glücklich zwar, glaubt ihr euch doch nicht ohne Glück.
Agaue:
Was ist nicht gut dran oder gibt zur Trauer Grund?
Kadmos:
Zuerst zum Himmel sende deine Augen hin!
Agaue: 
Nun gut; doch warum rätst du mir, ihn anzuschauen?
Kadmos: 
Ist’s noch der gleiche, oder siehst du anders ihn?
Agaue: 
In hellerm Glanz als früher, göttlich heiterer.
Kadmos: 
Und was die Seele dir verstört, ist es noch da?
Agaue: 
Ich weiß nicht, was du sagen willst. Doch werd ich mir
Bewußt, daß gegen früher anders wird mein Sinn. (Eur. Ba. 1259–1270)

Während die Glieder des zerrissenen Pentheus dem Publikum gezeigt werden, beginnt Agaue also, die Puzzleteile der Erinnerung an die eigens verübte Gewalttat nach und nach zusammenzusetzen. Es ist ihr noch nicht möglich, das Geschehen zu rekonstruieren. Ihr amnestischer Zustand deutet auf eine Form der psychischen Dissoziation, die als typische Reaktion infolge eines traumatisierenden Ereignisses gilt. Als »dissoziativ« wird gemäß der ICD‑10 ein »teilweiser oder völliger Verlust der normalen Integration der Erinnerung in die Vergangenheit, ins Identitätsbewusstsein, in die Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie in die Kontrolle von Körperbewegungen«76 verstanden. Dieser Verlust verläuft bei Agaue akut in direkter Verbindung mit dem traumatisierenden Ereignis, das im Zuge der traumatischen Stresssituation nicht zulänglich im autobiografischen Gedächtnis abgespeichert worden ist.

Zu Beginn des Gesprächs mit ihrem Vater Kadmos kann Agaue das entsetzliche Erlebnis (noch) nicht kontextualisieren. Im Verlauf der Stichomythie (die sich nunmehr wie ein Patient*innengespräch liest77) zwingt Kadmos dann seine Tochter zur Erkenntnis, indem er auf ihren Sehsinn setzt – d.h. auf einen Sinn, der bislang abgespalten gewesen zu sein scheint. Tatsächlich traut Agaue ihren Augen zunächst nicht, bis sie die Auswirkung der verübten Gewalt de facto erkennt:

Agaue:
Ha, was erblick ich? Was trag ich in Händen da?
Kadmos:
Blick nur drauf hin; erkenne deutlich, was es ist!
Agaue:
Ich sehe größtes Leid, ich Unglückselige! (Eur. Ba. 1280–1282)

Die wiederkehrende Erinnerung nun lässt Agaue den eigenen Herzschlag intensiv empfinden: »Sprich; in Erwartung was du sagst, klopft mir mein Herz« (Eur. Ba. 1288). Das Tragödienpublikum wird hier Zeuge einer unwillkürlichen Wahrnehmung von Agaues autonomem Nervensystem. Das klopfende Herz, von dem Agaue spricht, verweist auf eine Empfindung, die der Trauma‐Therapeut Peter Levine zum Wahrnehmungskanal sensation zählt. Dieser Wahrnehmungskanal setzt sich darüber hinaus aus dem kinästhetischen Gewahrsein (Muskelanspannung, Bewegungsimpulse), der Propriozeption (Wahrnehmung der eigenen Körperteile im Verhältnis zueinander und zur Umgebung) und dem vestibulären System (Gleichgewichtssinn) zusammen.78 Er bildet einen von insgesamt fünf Kanälen, die laut Levine in ihrem Zusammenspiel die Erfahrungen jedes Individuums ausmachen: sensation, image, behaviour, affect und meaning (SIBAM). Unter Dissoziation versteht Levine eine Spaltung dieser unterschiedlichen Elemente.79

Eine solche Spaltung wird auch bei Agaue erkennbar. Das von ihr selbst beobachtete und verbalisierte Herzklopfen lässt an eine spezifische Form der Dissoziation denken, der im psychotraumatologischen Kontext mit dem Begriff des Hyperarousal begegnet wird. Unter Hyperarousal versteht man

[…] a condition in which the patient’s nervous system is always on alert for the return of danger. This symptom cluster includes hypervigilance, insomnia, difficulty concentrating, general irritability, and an extreme startle response. Some clinicians believe that this abnormally intense startle response may be the most characteristic symptom of PTSD […].80

Aktuell stuft das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM‐IV‐TR) Hyperarousal als eines der drei Symptomcluster der PTBS ein (neben Intrusion/Wiedererleben und Numbing).81 Im Kontext der Tragödie regt der Begriff dazu an, die durch Agaue vorgeführte Wirkmacht von phobos und eleos einer neurophysiologischen und psychologischen Revision zu unterziehen – was an dieser Stelle nicht hinlänglich geschehen kann.

Am deutlichsten tritt das Unvermögen Agaues, das Geschehene be‑greifen zu können, in der finalen Passage der Stichomythie zwischen Agaue und Kadmos zutage. Dort heißt es:

Agaue: 
Der teure Leib des Sohns – wo ist er, Vater, sprich!
Kadmos:
Was ich mit Mühe aufgespürt – ich bring es hier.
(Winkt den Trägern.) 
Agaue: 
Ist es ein Ganzes, Glied zu Glied gefügt, wie’s ziemt?
Kadmos: 
Zum Ordnen blieb bei all dem Suchen nicht die Zeit.
(Agaue sieht die auf der Bahre liegenden Körperteile.) 
Agaue: 
O grausam, arg zerstörter – meines Sohnes Leib!
(Verhüllt ihr Haupt.) (Eur. Ba. 1298–1307)

Sobald Agaue die ihr vorgeführten Leichenteile des Sohnes erblickt, fügen sich ihre eigenen Erinnerungsbruchstücke zusammen. Agaue erkennt ihre Tat und macht dadurch die Doppelfunktion des Ecce begreifbar, auf die Dorothea Zeppezauer hingewiesen hat: »Den Toten allein zu zeigen, reicht nicht aus, denn er muss auch erkannt werden, um dann anschließend, in dem nicht erhaltenen Teil der Tragödie, beklagt zu werden.«82 Erst das Eingliedern des traumatisierenden Ereignisses in das autobiografische Gedächtnis ermöglicht mithin die kathartisch fungierende Klage. Somit erweist sich die Ecce‐Szene der Bakchen als posttraumatische Szene par excellence; sie beinhaltet unterschiedliche Coping‐Strategien, die Menschen infolge von zutiefst verstörenden und verwundenden Ereignissen entwickeln, und verweist auf eine Ästhetik des Dissoziativen, die in all ihrer Eindrücklichkeit in Jelineks Theatertext Schnee Weiß nachlebt.

Endnoten

75 Vgl. Griffith, Mark: Greek Satyr Play, S. 135f.; Easterling, Patricia E.: »A Show for Dionysus.« In: Dies. (Hg.): The Cambridge Companion to Greek Tragedy. Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 36–53; Hall, Edith: »Tragic Theater. Demetrios’ Rolls and Dionysus’ Other Women«, S. 163. Zur Bedeutung des Dionysoskults für die Tragödie vgl. Winkler, John J./Zeitlin, Froma (Hg.): Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama in Its Social Context. Princeton: Princeton University Press 1990.

76 Plag, Hans/Rahn, Ewald/Ströhle, Andreas: »Der sich und Andere bemühende Mensch (neurotisches Handeln, Persönlichkeitsstörungen und Psychosomatik).« In: Dörner, Klaus et al. (Hg.): Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Köln: Psychiatrieverlag 2019, S. 425–492, hier S. 445.

77 Vgl. Zeppezauer, Dorothea: Bühnenmord und Botenbericht, S. 204. In der Forschung wurde das Vorgehen des Kadmos mehrmals mit psychotherapeutischen Strategien zur Behandlung von amnestischen Symptomen enggeführt (vgl. hierzu exemplarisch Devereux, Georges (Hg.): Psychoanalysis and the Occult. New York: International Universities Press 1970, S. 41).

78 Vgl. Levine, Peter: Trainingsmanual zur Weiterbildung in der körperorientierten Traumaarbeit Somatic Experiencing. Murnau: Akademie für somatische Integration 2006.

79 Vgl. ebd. und Levine, Peter: Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. München: Kösel 2011, S. 178f. Vgl. dazu ferner Wuttig, Bettina: Das traumatisierte Subjekt, S. 240f.

80 Johnson, Sharon L.: Therapist’s Guide to Posttraumatic Stress Disorder Intervention. Amsterdam/Boston: Academic Press 2009, S. 8.

81 Ebd., S. 4.

82 Zeppezauer, Dorothea: Bühnenmord und Botenbericht, S. 206. In der einzigen Überlieferung der Bakchen (d.h. in der byzantinischen Handschrift) fehlt nach Vers 1329 eine längere Passage. Was folgte, ist einerseits durch den Rhetor Apsines bekannt, laut dem Agaue sodann die Glieder ihres Sohnes einzeln beklagt, und andererseits durch Gregor von Nazianz überliefert, der einige Verse des verlorenen Textes für die Compositio Membrorum verwendete (vgl. ebd., S. 201, FN 534).