2 Antigone post Fukushima. Kontaminierte (Sprech‑)Flächen

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Wo ist der Morgen den wir gestern sahn?
Heiner Müller

Wir erinnern uns: Im März 2011 bebte Japans Erde. Vor der Sanriku‐Küste der Region Tōhoku bauten sich gigantische Tsunami‐Flutwellen auf, die binnen kürzester Zeit über 22.000 Menschen unter sich begruben. Gleichzeitig kam es im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi zu einer Reihe von Störfällen, die zu mehreren Kernschmelzen führten. Große Mengen an Radioaktivität wurden freigesetzt und kontaminierten Luft, Wasser, Boden und Nahrungsmittel der lokalen Umgebung nachhaltig. Über den tatsächlichen Hergang der Havarie und die Anzahl der Opfer informierten die Kraftwerk‐Betreiberfirma TEPCO (Tokyo Electric Power Company) und die japanische Regierung nur bruchstückhaft. 100.000 bis 150.000 Menschen wurden evakuiert. Unzählige zurückgelassene Tiere verhungerten. Die Langzeitauswirkungen der Katastrophe sind immer noch nicht abschätzbar. Die atomare Verseuchung, die »Fukushima« der Erde vererbt hat, entzieht sich jeder sensoriellen Wahrnehmung. Man sieht sie nicht, riecht sie nicht, hört sie nicht. Die Bedrohung, die von ihr ausgeht, ist nicht unmittelbar erfahrbar. Das Bild, das wir uns von ihr machen, konstituiert sich ausschließlich aus Informationen von Boten, deren Glaubwürdigkeit auf dem Spiel steht.

Wie über dieses unfassbare Resultat menschlicher Hybris sprechen? Wie den Spuren der Auslöschung begegnen, die das unsagbare Unglück hinterlassen hat? Wie die Opfer betrauern, deren Bestattung mitunter von der japanischen Regierung untersagt worden ist? In ihrem Fukushima‐Requiem Kein Licht. Epilog?, das Jelinek exakt ein Jahr nach der atomaren Katastrophe veröffentlichte,1 begegnet die Autorin diesen Fragen in Form einer Relektüre der sophokleischen Antigone. Entstanden ist eine Arbeit, die auf den ersten Blick wie ein Prosatext anmutet. Tatsächlich aber offenbart bereits die im Untertitel verpackte Regieanweisung das spezifisch‐performative Potenzial von Kein Licht. Epilog?. Die Tragödienfortschreibung setzt mit folgenden Worten ein:

Eine Trauernde. Sie kann machen, was sie will: (EP)

Diese Formel, die eine eigentümliche Zwischenposition zwischen (Text‑)Titel und (Spiel‑)Text einnimmt, zeichnet den über keinerlei dezidierte Sprecherangaben verfügenden Epilog? unmittelbar als Theatertext aus. Darüber hinaus kann sie als ironischer Rückverweis auf Ein Sportstück gelesen werden, das der Regisseur und Bühnenbildner Einar Schleef 1998 am Wiener Burgtheater zu einer legendären, achtstündigen Uraufführung gebracht hat. Dort heißt es in der dem Theatertext vorangestellten Regieanweisung: »Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt. Machen Sie, was Sie wollen.«2 Während sich diese Spielanleitung als trotziger Imperativ lesen lässt, erscheint die anfängliche Regieanweisung in Kein Licht. Epilog? auf den ersten Blick als lapidarer, Resignation versprühender Nebentext. Tatsächlich aber haben wir es bei den Zeilen Eine Trauernde. Sie kann machen, was sie will mit dem Formzitat der Klage zu tun – und also mit einem Verweis auf eine ursprünglich durchaus widerständige weibliche Kulturtechnik: Klage ist im antiken Griechenland keineswegs mit Schicksalsergebenheit gleichzusetzen. Sie ruft vielmehr lautstarke und wütende Frauen auf den Plan, deren (selbst‑)zerstörerische Trauerpraktiken ausgerechnet im Zuge der Demokratisierungsbewegung des Staatsmanns Solon verboten worden sind, wie ich im Folgenden noch genauer zeigen werde. In der Tragödie lebt diese subversive Kulturtechnik fort. Trauer und Rache sind dort grundsätzlich eng miteinander verstrickt. Und es sind hauptsächlich weibliche Charaktere, die diese Verknüpfung herstellen, wie die Philologin Helene Foley eindrücklich belegt hat.3 Ein sprechendes Beispiel hierfür liefert die Antigone‐Tragödie des Sophokles, auf der Jelinek ihren Text aufbaut. Die Protagonistin des Textes bedient sich ganz bewusst spezifischer Gesten der Klage, um Ungerechtigkeit kompromisslos und politisch motiviert ins Licht zu rücken.

Das folgende Kapitel fragt danach, in welcher Form der Klagegestus, der die sophokleische Antigone durchzieht, in Jelineks Tragödienfortschreibung nachlebt. Für dieses Unterfangen wird Kein Licht. Epilog? zunächst in den Kontext der intensiven Antigone‐Rezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts gestellt. Darauf folgt eine an der Schnittstelle von gesellschaftspolitischem und theaterhistorischem Erkenntnisinteresse angesiedelte Archäologie der weiblichen Totenklage und der damit verbundenen Gesten. Diese Analyse bildet die Basis für eine eingehende Untersuchung der threnetischen Dramaturgie bei Sophokles und Jelinek. Der abschließende Teil erkundet die Spielräume, die der spezifische Klagegestus, den Kein Licht. Epilog? im Rückgriff auf die sophokleische Antigone zitiert, eröffnet. Der Blick wird sich gen Tokyo richten, wo Jelineks Theatertext in der Regie von Akira Takayama 2012 zur Uraufführung gelangte.

Endnoten

1 Der Text entstand als Addendum zu dem Theatertext Kein Licht. und wurde am 12.3.2012 auf Jelineks Website veröffentlicht (http://elfriedejelinek.com/ffukushima.htm [Zugriff am 29.5.2020] = Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte), im Folgenden zitiert mit der Sigle EP. 2013 schließlich entstand ein dritter Teil, den Jelinek mit Prolog? Da kann man ja jede Menge anbauen! Also ich meine nicht: in der Erde. betitelte (Vgl. Janke, Pia: Elfriede Jelinek: Werk und Rezeption. 2 Bände: Bd. 1. Wien: Praesens 2014, S. 183. Vgl. hierzu auch das Unterkapitel Vibrant Matter.)

2 Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 7. Jelinek reagierte mit dieser Bemerkung auf Frank Castorfs Inszenierung von Raststätte oder: Sie machens alle (Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 1995), in der die Autorin als Sexpuppe auf die Bühne gebracht worden war. (Explizit äußerte sich Jelinek zu diesem Regieeinfall in ihrem Essay Die Puppe (2000). Vgl. dazu auch das Kapitel Zu einer Ästhetik des Paratragischen.

3 Vgl. Foley, Helene: Female Acts in Greek Tragedy. Princeton: Princeton University Press 2001.