3.5 Schiffbruch mit Zuschauer*in

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Einen anderen Zugang als Nicolas Stemann, der in seinen Jelinek‐Inszenierungen bekanntlich stets mit opulenten, wirkmächtigen Bildern laboriert, wählte Michael Thalheimer für die österreichische Erstaufführung der Schutzbefohlenen am Wiener Burgtheater. In einem Interview vor Probenbeginn äußerte sich der Regisseur wie folgt: »Ich habe keine Lust auf eine Liveband oder auf Videoeinspielungen. Ich bleibe da puristisch. Der Weg, den ich mit meiner Jelinek‐Aufführung beschreiten möchte, ist einer der Reduktion und Einfachheit.«94 Tatsächlich konzentrieren sich Thalheimer und sein Team in erster Linie auf den Text und auf die Arbeit am chorischen Sprechen. Im Gegensatz zur Uraufführung fokussiert die Strichfassung der Wiener Produktion auf die Bezüge zur Besetzung der Votivkirche, die sich in Steinwurfnähe zum Burgtheater befindet. Als Ausgangspunkt für die Inszenierung wählt Michael Thalheimer das Bild des Kirchenschiffs.95 Er lässt den Ausstatter Olaf Altmann einen dunklen, sakral anmutenden Raum entwerfen, an dessen Fluchtpunkt ein überdimensioniertes Kreuz aufleuchtet. Das von Friedrich Rom konzipierte Lichtdesign lenkt den Blick des Publikums rasch auf einen gefluteten Bühnenboden. Spätestens nachdem sich die ersten Schauspieler*innenkörper aus dem Kreuz, das sich als enger Bühnenaufgang entpuppt, geschält haben, sie in das knöcheltiefe Wasser stürzen und bald ein Konglomerat aus rudernden Armen und Beinen entsteht, wird die anfängliche Assoziation eines kirchlichen Schutzraums brüchig. Was zunächst als Dom erscheint, mutiert nach und nach zu einem tiefen, ausweglos anmutenden (Auffang‑)Becken.


Abbildung 12: Elfriede Jelinek: Die Schutzbefohlenen. Regie: Michael Thalheimer. Burgtheater 2015. Foto: Reinhard Werner.

Der Chor, den Thalheimer konsequent an der Rampe agieren lässt, ist ein gesichtsloser. Diesen Eindruck bewirken zunächst die bunten Masken, die die Darstellenden tragen und die an angeschwemmten Plastikmüll denken lassen. Ähnliche Effekte erzeugen aber auch drei bestimmte Lichteinstellungen, mit denen in der Inszenierung auffallend oft gearbeitet wird: nämlich 1. das Spitzenlicht, das Schatten in den Gesichtern der Darstellenden erzeugt, 2. das Gegenlicht, das die Darstellenden auf Silhouetten reduziert, und 3. das Frontallicht, das einerseits flache Figuren erzeugt (etwas, das Jelinek bereits in ihren frühen theaterästhetischen Essays fordert96) und andererseits Konfrontation bzw. eine Verhörsituation suggeriert. D.h. wir haben es mit einem Szenario zu tun, das die Position der Zusehenden in den Vordergrund rücken lässt. Thalheimer entscheidet sich für die klassische Guckkastenvariante und somit für eine klare Trennung zwischen Darstellenden und Publikum.

Durch die betonte Gegenüberstellung von Schauspieler*innen, die auf ausgeleuchteter und gefluteter Bühne agieren, und Zuseher*innen, die im anonymen Dunkeln auf zugewiesenen Plätzen verharren, zitiert die Inszenierung eine Konstellation, der Hans Blumenberg 1979 unter dem Titel Schiffbruch mit Zuschauer eine umfangreiche kulturhistorische Abhandlung gewidmet hat. Blumenberg kommt darin zum Schluss, dass »[d]ie Kontraposition von festem Land und unstetem Meer als die für das Paradox der Daseinsmetapher leitende Schematik«97 gelten müsse. Tatsächlich befördert eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Topos Schiffbruch mit Zuschauer nicht nur wertvolle Erkenntnisse in Bezug auf die ideengeschichtliche Entwicklung Europas. Sie lässt auch Rückschlüsse hinsichtlich eines eng damit verknüpften und stets im Wandel begriffenen Verständnisses von Schau‐Spiel zu.

Bereits bei Lukrez kreist die Schiffbruch‐Imagination um die Kategorie des Blickes und offenbart mithin die relationale Dynamik dieser Konfiguration.98 In seinem Naturgedicht De rerum natura führt Lukrez als leitende Empfindung, die unbeteiligte Augenzeugen eines Schiffbruchs teilen, den Genuss ob des eigenen erhabenen Standorts an. Im zweiten Buch seines Naturgedichts De rerum natura lesen wir:

Suave, mari magno turbantibus aequora ventis e terra magnum alterius spectare laborem; non quia vexari quemquamst iucunda voluptas, sed quibus ipse malis careas quia cernere suavest.99

Der Dichter fordert uns mit seiner Schiffbruch‐Metapher also dazu auf, uns mit unserer eigenen Rolle des Zuschauers zufriedenzugeben. Bei Montaigne wiederum – der sich in seinen Essais mehrmals an Lukrez abarbeitet – nimmt dieses Plädoyer eine ganz andere Qualität an, wie Blumenberg unterstreicht. Montaigne nämlich rechtfertige »den Zuschauer des Schiffbruchs nicht mit seinem Recht auf Genuß, sondern seine durchaus als boshaft qualifizierte Befriedigung (volupté maligne) mit dem Erfolg seiner Selbsterhaltung.«100 Der Zuschauer stünde »kraft der Befähigung zu dieser Distanz ungefährdet auf dem festen Ufer«101 und überlebte »durch eine seiner unnützen Eigenschaften: Zuschauer sein zu können.«102 Bei Weitem radikaler fällt die Lukrez‐Lektüre von Voltaire aus, der dem Dichter einen fatalen Irrtum unterstellt. Im Erinnern eines Schiffbruch‐Ereignisses, dem Voltaire tatsächlich beobachtend beigewohnt hat, attestiert dieser sich selbst a posteriori zwar Unbehagen, jedoch keinerlei autoreflexives Verhalten. Es sei vor allem Neugierde gewesen, die dieses Erlebnis geprägt habe.103 Eine Replik hierauf liefert der italienische Schriftsteller und Ökonom Abbé Galiani, der an Voltaires Überlegungen anschließt und zu folgendem Schluss kommt:

Ich gestehe, er hat in allem recht; nur hat er vergessen einzusehen, daß die Neugier eine Leidenschaft oder, wenn sie [sic!] wollen, eine Empfindung ist, die in uns nur erregt wird, wenn wir uns völlig sicher vor jedem Risiko fühlen. Die geringste Gefahr benimmt uns alle Neugier, und wir beschäftigen uns nur noch mit uns selbst und unsrer eigenen Person. DAS ist der Ursprung aller Schauspiele. Verschaffen Sie zunächst den Zuschauern sichere Plätze, dann entfalten Sie vor ihren Augen den Anblick einer großen Gefahr […]: je sicherer der Zuschauer und je größer die Gefahr ist, die er sieht, desto mehr interessiert er sich für das Schauspiel. Dies ist der Schlüssel zum ganzen Geheimnis der tragischen, epischen, komischen Kunst.104

Die sichere Distanz zu einem dargestellten, furchteinflößenden Ereignis wird also von Galiani als Voraussetzung für eine ästhetische Erfahrung bestimmt, die Friedrich Schiller 20 Jahre später, nämlich 1792, als »Vergnügen an tragischen Gegenständen« benennen sollte.105 Eine solche Distanz kann in der griechisch‐antiken Tragödie auf unterschiedlichen Ebenen ausgemacht werden. Zum einen besteht ein grundsätzliches temporäres Gefälle zwischen der archaischen Zeit, der die dramatisierten Mythen eingeschrieben sind, und der Gegenwart des Tragödienpublikums. Offensichtlicher ist darüber hinaus eine räumliche Distanz, die sich nicht nur in der klaren Abgrenzung von Bühne und Zuschauer*innenraum widerspiegelt, sondern zudem in einer geopolitischen Differenz zwischen dem Ort der Handlung und dem Ort der Aufführung. Die Altphilologin Froma Zeitlin hat darauf hingewiesen, dass die meisten der erhaltenen Tragödien nicht dort spielen, wo sie gezeigt werden, nämlich in Athen, sondern in Argos, Theben oder Troja.106 Es kann also mit Bernd Seidensticker festgehalten werden, dass die antike Tragödie grundsätzlich »die Leiden anderer in einer Situation und Welt präsentiert, die nicht direkt die eigene ist (allotrios ist seit Gorgias und Platons Staat der Terminus dafür).«107

Auch Thalheimers Chor konfrontiert uns mit einer Welt, die der durchschnittlichen Burgtheaterabonnentin fremd ist. Ohne konkrete Orte zu nennen, ruft er bei uns Bilder von verzweifelten Boatpeople auf, mit denen wir tagtäglich medial bombardiert werden. Die Konstellation Schiffbruch mit Zuseher*in, die Thalheimer und sein Team wählen, fragt ex negativo danach, wie wir diesen Bildern gegenübertreten und wie sie uns affizieren. Tangieren uns die Berichte über Pushbacks, über die Schicksale der vielen Übriggebliebenen, die wir Europäer*innen in den Lagern von Moria und Co elend dahinvegetieren lassen, noch? Wie verhalten sich die Reaktionen, die sie in uns auslösen, zu den aristotelischen Wirkmechanismen phobos und eleos? Und (wie) lässt sich darüber im akademischen Kontext ausgehend von Jelineks Die Schutzbefohlenen sprechen, ohne zynisch zu werden?

Endnoten

94 Hayer, Björn: »Die Farben eines schwarzen Bildes. Zur österreichischen Erstaufführung von Die Schutzbefohlenen am Burgtheater. Michael Thalheimer im Gespräch mit Björn Hayer.« In: Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek‐Forschungszentrum 2014–2015. Wien: Praesens 2015, S. 72–80, hier S. 73.

95 Vgl. zu folgenden Ausführungen Felber, Silke: »Schiff. Bruch. Erleiden. Eine Bilderreise von Aischylos über Elfriede Jelinek zu Michael Thalheimer.« In: Felber, Silke/Pfeiffer, Gabriele C. (Hg.): Das Meer im Blick. Betrachtungen der performativen Künste und der Literatur. Rom: Artemide 2018, S. 99–109.

96 Vgl. hierzu z.B. Annuß, Evelyn: »Flache Figuren – Kollektive Körper.« In: Vogel, Juliane/Eder, Thomas (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. Paderborn: Fink 2010, S. 49–69; Vogel, Juliane: »›Ich möchte seicht sein.‹ Flächenkonzepte in Texten Elfriede Jelineks.« In: Vogel, Juliane/Eder, Thomas (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 9–18.

97 Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 13.

98 Vgl. Lukrez: Von der Natur/De rerum natura. Hgg. v. Hermann Diels. Berlin: Hofenberg 2013, S. 94.

99 Ebd., S. 94.

100 Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 21–22.

101 Ebd., S. 22.

102 Ebd., S. 22.

103 »C’est, à mon avis, la curiosité seule qui fait courir sur le rivage pour voir un vaisseau que la tempête va submerger. Cela m’est arrivé; et je vous jure que mon plaisir, mêlé d’inquiétude et de malaise, n’était point du tout le fruit de ma réflexion; il ne venait point d’une comparaison secrète entre ma sécurité et le danger de ces infortunés: j’étais curieux et sensible.« Voltaire: »Curiosité.« In: Ders.: Oeuvres complètes de Voltaire. Dictionnaire Philosophique I. Paris: Furne 1835, S. 339.

104 Galiani, Abbé: Briefe an Madame d’Epinay und andere Freunde in Paris (1769–1781). München: Kösel 1970, S. 196–197.

105 Vgl. Schiller, Friedrich: »Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen.« In: Ders.: Theoretische Schriften. Hgg. v. Rolf‐Peter Janz, unter Mitarbeit v. Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a.M.: DKV 2008, S. 234–250.

106 Zeitlin, Froma: »Thebes. Theater of Self and Society in Athenian Drama.« In: Winkler, John J./Zeitlin, Froma (Hg.): Nothing to Do with Dionysos? Athenian Drama and Its Social Context. Princeton: Princeton University Press 1990, S. 130–67.

107 Seidensticker, Bernd: »Distanz und Nähe. Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie.« In: Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hg.): Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 91–122, hier S. 92.