5 Vibrant Matter. Von tobenden Waffen, klagenden Geigen und vielsagenden Textilien

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Hat ein Hut Bekannte
Oder lebt er allein
Haben Möwen Verwandte
Kann eine Schulter traurig sein?
Hildegard Knef

Jelineks Tragödienfortschreibungen billigen dem Menschen eine paradoxe (Un‑)Sichtbarkeit zu. Einerseits rücken sie seine zerstörerische Kraft im Rekurs auf die Hybris tragischer (Anti‑)Helden wie Agamemnon (Ein Sturz), Herakles (Wut) oder Ödipus (Am Königsweg) ins Zentrum. Andererseits treten Menschen bei Jelinek als solche nicht zutage. Ihre Theatertexte führen bekanntlich keine psychologisch konzipierten Figuren ins Spiel. Vielmehr lassen sie Sprachmasken auftreten, hinter denen sich oftmals lediglich ein indeterminiertes, rätselhaftes Ich oder ein Wir verbirgt. Darüber hinaus finden wir in diesen Texten Entitäten, die das sogenannte Humane überschreiten. Worauf aber verweist diese spezifische Ästhetik?

Jelineks Strategie der Vermischung von Organischem und Anorganischem begegnet bereits in ihren frühen Theatertexten. In Raststätte oder: Sie machens alle etwa verabreden sich die beiden auftretenden Frauen mit zwei Männern, die als Elch und Bär verkleidet sind. Wir haben es also mit einem Kostümierungsszenario zu tun, bei dem sich, wie es Christian Schenkermayr auf den Punkt bringt, »das zentrale Karnevalsmotiv, für einen Tag in eine andere Rolle zu schlüpfen, mit einer zotigen Variation des klassischen Märchenmotivs der Metamorphose von Mensch zu Tier und umgekehrt [verbindet].«1 Transformativen Prozessen liegt auch die Figur des Fleischers in Stecken, Stab und Stangl zugrunde, wie wir folgender Regieanweisung entnehmen können: »[…] er ist übrigens in rosa Häkelkleidung mit Häkelschürze und trägt einen gehäkelten Schweinskopf über seinem eigenen, nimmt seinen Platz ein und überzieht ein, zwei faschierte Laibchen mit Häkel und überreicht sie Margit S., die die Laibchen an ihrer Kleidung festnäht.«2 Auch in Theatertexten wie Der Tod und das Mädchen I und II, In den Alpen, Das Werk, Rechnitz (Der Würgeengel), Bambiland, Ulrike Maria Stuart, Das schweigende Mädchen und Das Licht im Kasten spielen Plüsch, Plastik oder Pappmaschee tragende Rollen.3 Bemerkenswerterweise heben die diesbezüglichen Regievorschläge oftmals die chimärische Prozesshaftigkeit von Kostümierung und Dekostümierung hervor. So treffen wir etwa in Das schweigende Mädchen auf eine Passage, in der es heißt: »Die Plüschtiere: (ziehen langsam ihre Kostüme aus, abwechselnd, verschiedene Stadien des Aus‐ und Angezogenseins)4

Die in Jelineks Texten explizit zur Sprache gebrachten Materialien dienen aber nicht (nur) der Verwandlung einzelner Akteur*innen. Sie werden in metatheatraler Manier auch als solche in Szene gesetzt. Konstanze Fliedl hat in Bezug auf Materialien innerhalb von Jelineks Theatertexten Folgendes konstatiert: »Das Humanum wird in der Mediengesellschaft infantilisiert und bestialisiert zugleich. Aber diese Diagnosen werden auf Jelineks Bühne merkwürdig ›gepolstert‹, durch Plüsch eben und ›moosigen Samt‹[…]. Im Textilen ist das Humane verwirkt.«5 Dem möchte ich hinzufügen, dass die von Fliedl als »Requisiten« bezeichneten Dinge, die innerhalb von Jelineks Theatertexten auftreten, über eine spezifische Wirkmacht verfügen, die sich erst im performativen Zusammenspiel mit anderen (menschlichen und mehr‐als‐menschlichen) Akteur*innen entfaltet. Ich schlage vor, die damit verbundene dramaturgische Strategie als eine Ästhetik der Be‑Lebung zu lesen, die uns dazu einlädt, über die buchstäblichen und materiellen Strukturen (d.h. Verbindungen, Stoffe, Architekturen, technisches Equipment) innerhalb von Jelineks Theatertexten nachzudenken und die Arbeiten der Autorin vermehrt mit Positionen der New Materialisms und des Posthuman Feminism in Verbindung zu bringen.6

Die Elemente Erde und Wasser beispielsweise werden in Jelineks Tragödienfortschreibungen nicht nur explizit angesprochen – oftmals äußern sie sich auch selbst, etwa in In den Alpen, Das Werk, Die Kontrakte des Kaufmanns oder Ein Sturz. Das Sprechen, das diese Theatertexte evozieren, ist weder ein monologisches noch ein dialogisches. Es ist vielmehr ein symbiotisches Sprechen, das uns vor Augen führt, dass Agency immer als Effekt von Konfigurationen menschlicher und nichtmenschlicher Kräfte entsteht. Jelineks Texte scheinen dadurch eine Frage aufzurufen, die die politische Theoretikerin Jane Bennett in den Mittelpunkt ihrer einflussreichen Publikation Vibrant Matter gestellt hat: »How would political responses to public problems change were we to take seriously the vitality of (nonhuman) bodies?«7

Wenn Bennett von vitality spricht, dann versteht sie darunter die Kapazität von sogenannten Dingen, den menschlichen Willen zu beeinflussen und als eigenständige Akteur*innen in Erscheinung zu treten. Dadurch bricht Bennett radikal mit einer Vorstellung, die den meisten philosophischen Schulen des globalen Nordens seit Kant eingeschrieben ist – nämlich mit der Idee, dass Denken und Sein Hand in Hand gehen bzw. dass es keine von der menschlichen Erfahrung unabhängige Weltsicht geben kann. Einem Objekt eine innere Lebendigkeit zuzuschreiben, stellt für Bennett wiederum eine Möglichkeit dar, sowohl die Autonomie eines jeden Dings anzuerkennen als auch unsere Fähigkeit, Dingen sinnvoll zu begegnen, wenn sie uns dazu aufrufen. Anstatt das Konzept der Vitalität für die Beschreibung von Menschlichem zu reservieren, macht Bennett es für die ontologische Ergründung von Lebensmitteln, Steinen, Metall, Abfall und Stammzellen fruchtbar. Sie stützt sich dabei auf Bruno Latours Begriff des actor/actant, der sowohl auf Menschen wie auch auf Nichtmenschliche(s) anwendbar ist und sämtliche Entitäten mitmeint, d.h. alles, was imstande ist, Effekte zu erzeugen und Prozesse zu beeinflussen.

Im Glossar seiner Monografie Politics of Nature subsumiert Latour unter dem Begriff des actor »any entity that modifies another entity in trial; of actors it can only be said that they act; their competence is deduced from their performances; the action, in turn, is always recorded in the course of a trial and by an experimental protocol, elementary or not.«8 Ausgehend davon verschreibt sich Bennett der Entwicklung eines Vokabulars, »that adresses multiple modes and degrees of effictivity, to begin to describe a more distributive agency.«9 Das in diesem Zusammenhang von ihr entwickelte Konzept der Thing‐Power erscheint mir für die Auseinandersetzung sowohl mit der griechischen Tragödie als auch mit Jelineks Fortschreibungen dieser Texte nutzbar. Bennett stützt sich auf einen Schlüsselsatz aus Spinozas Ethik, der da lautet: »Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur.«10 Aus Spinozas Terminus res, den sie mit thing übersetzt, und dem Begriff conatus, unter dem sie die Kraft versteht, die in jedem Körper zugegen ist, leitet sich ihr Konzept der Thing‐Power ab, d.h. »the curious ability of inanimate things to animate, to act, to produce effects dramatic and subtle.«11

Nirgendwo begegnet uns die animierende, agierende, Effekte evozierende Kapazität sogenannter Dinge eindrücklicher als in den Texten der alten Tragiker. Der purpurne Teppich in AischylosAgamemnon, das Schwert in Sophokles’ Ajax, das giftige Kleid in EuripidesMedea – sie alle stellen Objekte dar, die in der Tragödie eine elementare dramaturgische Rolle spielen.12 Sie provozieren überraschende Wendungen, rufen unerwartete Reaktionen sowohl innerhalb der orchestra als auch im theatron hervor und sorgen mit für die aufregendsten Momente, die die Tragödie hervorgebracht hat bzw. nach wie vor hervorbringt. Gleichzeitig fungieren diese Dinge für das Tragödienpublikum als Brückenbilder zwischen den Zeiten, wie die Gräzistin Melissa Mueller in ihrer wegweisenden Publikation Objects as Actors hervorgehoben hat: »They are one of the primary media exploited by tragedy for bringing viewers into spatial, visual, and cognitive contact with the materials of the past as they were being used to explain the present.«13 Objekte werden in der Tragödie – d.h. innerhalb der Texte und in den Aufführungen dieser Texte – nicht schlichtweg von menschlichen Akteur*innen gebraucht, getragen oder be‑handelt, sondern entwickeln vielmehr ein spezifisches Eigenleben, eine Wirkmächtigkeit, die die ontologische Binarität von Mensch/Tier, Organischem/Anorganischem, Lebendem/Unbelebtem verwischt. Objekte offenbaren sich hier als Materialitäten, die ihre besondere Energie im dynamisch‐affektiv aufgeladenen Austausch mit anderen (menschlichen oder nichtmenschlichen) Akteur*innen entfalten. In der Tragödie werden sie zu Playern, die innerhalb eines relationalen Gefüges be‑lebt werden. Die damit verbundenen Transferbewegungen werden insbesondere – und dies ist nicht nur in Bezug auf theaterspezifische Materialitäten wie Maske und Kostüm festzustellen – im transitiven Prozess vom schriftlichen Text hin zur Bühne sichtbar. Der Fokus auf die Rolle von vermeintlich leblosen Objekten innerhalb der Tragödie erlaubt mithin wertvolle Rückschlüsse auf die Theatralität dieses Genres.

Jelinek macht die spezifische Agency, über die Objekte und Materialitäten in der griechischen Tragödie, aber auch im Satyrspiel und in der Komödie verfügen, sichtbar. Ihre Theatertexte changieren grundsätzlich zwischen dem sogenannten Humanen und dem Nicht(-mehr)‐Humanen, zwischen dem Lebendigen und dem Toten, zwischen Subjekt und Objekt, Person und Umwelt, Innen und Außen. Es sind Texte, die ein Zusammenspiel(en) unterschiedlicher organischer und nichtorganischer Akteur*innen provozieren. Diese spezifischen Interaktionen sind es auch, aus denen die – mitunter sogar titelgebenden – Affekte emergieren, die in Jelineks vielschichtigen, rhizomartigen Texten auftreten. Doch stellen sich diese Affekte nicht als etwas Subjektives, Persönliches dar, sondern vielmehr als überfließende, durch die Vermischung von Kognition und Gefühl entstehende Energien, die – vergleichbar mit olfaktorischen oder auditiven Wahrnehmungen – individuelle Grenzen überschreiten. Jelineks Texte hinterfragen dadurch die Vorstellung von Emotionen als psychologische Dispositionen eines autonomen Subjekts auf radikale Weise. Das performative Miteinander der von ihr zur Sprache gebrachten Aktanten setzt einen ansteckenden, expansiven Prozess in Bewegung, der in der unbestimmten Zone des Sowohl‐als‐auch stattfindet und dabei oftmals rätselhaft anmutende Gesten des Hybriden hervorbringt. Im Übereinanderschichten und Verknüpfen unterschiedlicher Materialitäten beschreiben Jelineks Theatertexte die Pfade affektiver Zirkulation und spüren die formalen und materiellen Transiträume auf, über die Empfindungen und Gefühle verbreitet werden. Das palimpsestartige Verfahren, das dabei zur Anwendung gelangt und dem im Folgenden nachgegangen werden soll, macht die Welt als komplexes Geflecht von organischen und anorganischen Dingen erfahrbar.14 Von Dingen mithin, die sich unvorhersehbar zusammenschließen und dadurch bestimmte – bei Jelinek freilich vornehmlich desaströs anmutende – Effekte erzeugen.

Endnoten

1 Schenkermayr, Christian: »Ende des Mythos? – Beginn der Burleske? Versuch einer Annäherung an das Verhältnis von Mythendekonstruktion und burlesker Komik in einigen Dramen Elfriede Jelineks.« https://jelinetz2.files.wordpress.com/2013/02/xende-des-mythos.pdf [Zugriff am 14.10.2020].

2 Jelinek, Elfriede: »Raststätte oder: Sie machens alle.« In: Dies.: Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder: Sie machens alle. Wolken. Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 69–134, hier S. 22.

3 Zu Materialien innerhalb von Jelineks Theatertexten vgl. auch Kovacs, Teresa: »Criticizing ›Americanness‹, Criticizing ›Austrianness‹. Paul McCarthy, Mike Kelley, Elfriede Jelinek.« In: Fladischer, Konstanze/Janke, Pia (Hg.): JELINEK[JAHR]BUCH 2016–2017. Wien: Praesens 2017, S. 187–202.

4 Jelinek, Elfriede: Das schweigende Mädchen. Unveröffentlichtes Bühnenmanuskript. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2014, S. 217.

5 Fliedl, Konstanze: »Bühnendinge. Elfriede Jelineks Requisiten.« In: Bähr, Christine/Schößler, Franziska (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld: transcript 2009, S. 313–331, hier S. 319.

6 Vgl. hierzu exemplarisch Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press 2007; Bennett, Jane: Vibrant matter: A Political Ecology of Things. Durham: Duke University Press 2010; Braidotti, Rosi: Posthuman Knowledge. Cambridge: Polity Press 2019; Braidotti, Rosi: Posthuman Feminism. Cambridge: Polity Press 2021; Coole, Diana/Frost, Samantha (Hg.): New Materialisms: Ontology, Agency, and Politics. Durham: Duke University Press 2010; Sheldon, Rebecca: »Form/Matter/Chora: Object‐Oriented Ontology and Feminist New Materialism.« In: Grusin, Richard (Hg.): The Non Human Turn. Minneapolis: The University of Minnesota Press 2015, S. 193–222.

7 Bennett, Jane: Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, S. VIII.

8 Latour, Bruno: Politics of Nature. How to Bring the Sciences into Democracy. Cambridge: Harvard University Press 2004, S. 237.

9 Bennett, Jane: Vibrant Matter: A Political Ecology of Things, S. VIII–IX.

10 Vgl. ebd., S. 3.

11 Ebd., S. 2 und S. 6.

12 In der philologisch ausgerichteten Tragödienforschung kam Objekten bis vor Kurzem keinerlei Beachtung zu. Props stellten jahrhundertelang einen »extraordinary blind spot in the study of Greek theatre«506 dar, wie Rob Tordoff festgestellt hat (Tordoff, Rob: »Actors’ Properties in Ancient Greek Drama.« In: Harrison, George/Liapes, Vaios (Hg.): Performance in Greek and Roman Theatre. Boston et al.: Brill 2013, S. 89110, hier S. 89.

13 Mueller, Melissa: Objects as Actors. Props and the Poetics of Performance in Greek Tragedy. Chicago: The University of Chicago Press 2016, S. 5. Zum Verhältnis von Tragödie, New Materialisms und Affect Studies vgl. Mueller, Melissa/Telò, Mario (Hg.): The Materialities of Greek Tragedy. Objects and Affects in Aeschylus, Sophocles, and Euripides. London: Bloomsbury 2018. Zur Agency von (theatralen) Objekten und Materialien vgl. v.a. Posner, Dassia N./Orenstein, Claudia/Bell, John (Hg.): The Routledge Companion to Puppetry and Material Performance. New York: Routledge 2014 und Schweitzer, Marlis/Zerdy, Joanne (Hg.): Performing Objects and Theatrical Things. New York: Palgrave MacMillan 2014.

14 Zur Denkfigur der assemblage vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. v. Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Leipzig: Merve 1992.