3 Gesten im Dazwischen. Von der Unmöglichkeit des Wir

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


No »we« should be taken for granted when the subject is looking at other people’s pain.
Susan Sontag

Sechs Personen sitzen an der Längsseite einer Tafel, das Szenario wirkt improvisiert: Grablichter, handgeschriebene Namensschilder, Mikrofone mit Windschutzaufsatz in unterschiedlichen Farbschattierungen, ein Banner mit der Aufschrift 13 Days on Hungerstrike. Im Hintergrund zeichnet sich das Zimborium eines Hochaltars mit Heilandsfigur und vier Engelsfiguren samt Leidenswerkzeugen ab. Abwechselnd ergreifen die in Erscheinung Tretenden das Wort, den Blick konsequent nach vorne gerichtet, ein Gegenüber fixierend.

Wir schreiben den 3. Jänner 2013. Das Vienna Refugee Protest Camp hat zur Pressekonferenz in die Votivkirche geladen.1 Es handelt sich um einen denkwürdigen Moment, wie jemand auf dem Podium betont: Zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik Österreichs findet ein Protest statt, bei dem Geflüchtete selbst ihre Stimme erheben und für ihre Rechte auf‐ und eintreten. Wie war es dazu gekommen? Im November 2012 brach eine Gruppe von Asylwerber*innen und Sympathisant*innen vom Erstaufnahmezentrum Traiskirchen (Niederösterreich) in einem Protestmarsch Richtung Wien auf. Die Forderungen der Refugees2 betrafen u.a. eine Grundversorgung für Asylwerber*innen, freien Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen sowie die Einrichtung einer unabhängigen Instanz zur Überprüfung aller negativ beschiedenen Asylverfahren.3 Gemeinsam pilgerte man bis in die Wiener Innenstadt und schlug im zwischen Universität und Votivkirche gelegenen Sigmund‐Freud‐Park mehrere Zelte auf. Drei Wochen verweilten an die 70 Personen in diesem selbstorganisierten Camp. Am 18. Dezember schließlich, dem Internationalen Tag der Rechte der Migranten, suchten an die 30 Asylwerber*innen die Votivkirche als symbolischen Schutzraum auf. Die Erzdiözese Wien und die Caritas sicherten diesen Schutz zunächst zu. Der Wunsch nach einem Gespräch mit der damaligen Innenministerin Johanna Mikl‐Leitner (ÖVP) wurde den Geflüchteten jedoch nicht erfüllt. Stattdessen fand in der Abwesenheit der Protestierenden ein Runder Tisch mit Vertreter*innen aus Politik und Kirche statt. Man einigte sich darauf, ein von der Caritas eingerichtetes Notquartier zur Verfügung zu stellen. Die Refugees aber lehnten dieses Angebot ab. Es ging ihnen nicht um warme Zwischenunterkünfte, sondern um das Recht, zu bleiben. Am 23. Dezember traten 14 von ihnen in den Hungerstreik. Fünf Tage später wurde das Protest Camp von der Polizei geräumt. Die Kirche jedoch blieb von der Exekutive unangetastet. Am 3. März 2013 schließlich, nach elf Wochen des Protests und mehreren Hungerstreiks, übersiedelten die Geflüchteten in das nahe gelegene Servitenkloster, wo ihnen Kardinal Schönborn das Gastrecht zugesichert hatte. Auf die Konsequenzen der Widerstandsbewegung kann an dieser Stelle nur stichwortartig eingegangen werden: 27 der 60 Aktivist*innen erhielten einen negativen Asylbescheid und sieben der acht Refugees, die im Rahmen eines heftig kritisierten Fluchthilfeprozesses der Schlepperei angeklagt worden waren, wurden vom Gericht für schuldig erklärt.4

Die skizzierten Vorkommnisse rund um das Vienna Refugee Protest Camp bilden die Ausgangsbasis für den Theatertext Die Schutzbefohlenen, den Elfriede Jelinek am 14. Juni 2013 auf ihrer Website erstmals publizierte.5 Dieser ersten Version folgte eine zweite, die die Autorin im Oktober desselben Jahres unter dem Eindruck der zwei Bootsunglücke vor Lampedusa verfasste, bei denen mehr als 600 Flüchtlinge ertrunken waren.6 Ein Jahr später, nachdem die italienische Marineoperation Mare Nostrum durch das von Frontex konzipierte Programm Triton ersetzt worden war, kam es zu einer weiteren Überarbeitung des Theatertexts, die im November 2014 erschien. Dass Jelinek ihre hauptsächlich online veröffentlichten Arbeiten emendiert, um‐ und fortschreibt, stellt keine Seltenheit dar. An keinem anderen Werk aber hat sie sich derart intensiv abgearbeitet wie an den Schutzbefohlenen. So entstand 2015, anlässlich der Katastrophe, die sich am 26. August 2015 im österreichischen Parndorf (Burgenland) ereignet hatte, eine weitere Version. Damals waren 71 Menschen bei ihrem illegalen Versuch, von Ungarn nach Österreich einzureisen, in einem Kühlwagen qualvoll erstickt. Zusätzlich zu dieser letzten Überarbeitung des Textes verfasste Jelinek vier Addenda: Die Schutzbefohlenen. Appendix (18. September 2015), Die Schutzbefohlenen. Coda (29. September 2015/7. Oktober 2015), Die Schutzbefohlenen. Europas Wehr. Jetzt staut es sich aber sehr! (Epilog auf dem Boden) (21. Dezember 2015/4. März 2016) und Die Schutzbefohlenen. Philemon und Baucis (10. April 2016/21. April 2016).

All diese Versionen und Zusatztexte arbeiten sich intertextuell an den Hiketiden des Aischylos ab, d.h. ausgerechnet an einer fragmentarisch erhaltenen Tragödie, die einen unvergleichlichen philologischen Irrtum provoziert hat. Jahrhundertelang ging man davon aus, dass es sich bei den Hiketiden um eines der frühen Werke des Aischylos, wenn nicht gar um die erste Tragödie überhaupt, handelte.7 Das, was Generationen an Altphilolog*innen zum Verhängnis wurde, war die Prominenz des Chors. Diese dramaturgische Partikularität wurde als »Unausgereiftheit« interpretiert. Die Hiketiden mussten also – so war man sich gewiss – in die Flegelphase des großen Dichters fallen. 1952 stellte der Fund des Oxyrhynchus‐Papyrus 2256, fr. 3 diese Hypothesen grundlegend auf den Kopf. Das Aufführungsdatum ist nunmehr deutlich später, nämlich nach jenem der Sieben gegen Theben anzusetzen.8 Tatsächlich ist die auffällige Vorherrschaft des Chors, mit der wir es in den Hiketiden zu tun haben, nicht nur aus theaterhistorischer, sondern auch aus politischer Sicht bemerkenswert. Der Chor besteht hier aus sogenannten fremden Frauen, die – um der Zwangsheirat mit ihren Cousins zu entgehen – von Ägypten nach Argos fliehen und dort Asyl erbitten. Dieser Chor ist es, der die elementaren Fragen und Probleme der demokratischen Ordnung aufwirft, um die das Stück im weiteren Verlaufe kreist. Diese Frauen sind es, die König Pelasgos ex negativo dazu bewegen, die Entscheidung über die Asylvergabe der Volksversammlung zu überlassen. Das Andere fungiert in den Hiketiden mithin als Kalibrierungsorgan zur Auslotung der eigenen politischen Ordnung. Auch in Jelineks Schutzbefohlenen bilden die Themen Flucht und Asyl den Hintergrund, vor dem die Demokratie auf ihre Inklusions‐ und Exklusionsmechanismen hin befragt wird. Und auch hier ist es eine zwischen Wir und Ich changierende plurale Figuration, die diesen Konnex evoziert.

Endnoten

1 Die vorangegangene Beschreibung bezieht sich auf eine Aufzeichnung der am 3.1.2013 in der Wiener Votivkirche abgehaltenen Pressekonferenz des Refugee Protest Camp Vienna, einzusehen unter https://dorftv.at/video/6088 [Zugriff am 5.2.2019].

2 Im Folgenden verwende ich den Begriff Refugee gemäß Art. 1A der Genfer Flüchtlingskonvention für »either a person who, owing to a well‐founded fear of persecution for reasons of race, religion, nationality, political opinion or membership of a particular social group, is outside the country of nationality and is unable or, owing to such fear, is unwilling to avail themselves of the protection of that country, or a stateless person, who, being outside of the country of former habitual residence for the same reasons as mentioned before, is unable or, owing to such fear, unwilling to return to it«. (https://ec.europa.eu/home-affairs/what-we-do/networks/european_migration_network/glossary_search/refugee_en [Zugriff am 16.2.2021]).

3 Vgl. u.a. die OTS‐Presseaussendung des Vienna Refugee Protest Camp vom 18.12.2012, einzusehen unter https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20121218_OTS0098/protestierende-fluechtlinge-suchen-schutz-in-der-votivkirche-bild [Zugriff am 5.2.2019].

4 Zum Verlauf des Protests und seinen politischen und strafrechtlichen Konsequenzen vgl. Kien, David: »Say It Loud and Say It Clear.« Refugee Protest Camp Vienna – Zeugnisse eines Aufstands. Wien: Mandelbaum 2017.

5 Vgl. Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. http://elfriedejelinek.com/fschutzbefohlene.htm 14.6.2013/8.11.2013/14.11.2014/29.9.2015/23.1.2017 [Zugriff am 5.2.2019] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte), im Folgenden zitiert mit der Sigle SCH.

6 Vgl. zum folgenden Absatz Felber, Silke: »(Re‑)Visionen des Heroischen. Elfriede Jelineks Iphigenie‐Fortschreibung im Kontext von Flucht‐ und Migrationskatastrophen.« In: helden. heroes. héros. Ejournal zu Kulturen des Heroischen 5.1. 2017. https://doi.org/10.6094/helden.heroes.heros./2017/01/02, S. 11–19, hier S. 12.

7 »Im 19. Jh. waren die Meinungen über den Aufbau der Danaiden‐Trilogie noch durchaus geteilt. Mit der Auffassung, die Hiketiden seien das erste Stück, konkurrierte eine andere, die es als zweites Stück ansetzte. Dieser Streit wurde durch die Autorität von Hermann Welcker und später Wilamowitz zugunsten der ersteren Position entschieden, und zwar mit so durchschlagendem Erfolg, daß der Eindruck entstehen konnte, es handele sich um gesichertes Wissen.« (Rösler, Wolfgang: »Der Schluß der Hiketiden und die Danaiden‐Trilogie des Aischylos.« 1993 https://www.rhm.uni-koeln.de/136/Roesler.pdf [Zugriff am 6.2.2019].

8 Vgl. hierzu v.a. Earp, Frank Russell: »The Date of the Supplices of Aeschylus.« In: Greece and Rome 22 (1953), S. 118–123.