5.3 Kleider. Machen. Leute.

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Wenngleich die New Materialisms zweifellos damit bestechen, die Handlungsfähigkeit, Macht und Autonomie von nichtmenschlicher Materie anzuerkennen, so birgt diese neue Disziplin aber auch Gefahren. Jane Bennett etwa ist immer wieder dafür kritisiert worden, die Aufmerksamkeit von der menschlichen Arbeit abzulenken und somit ein zentrales Anliegen des marxistischen Materialismus links liegen zu lassen. Gerade aber die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie, so die Altphilologin Edith Hall, »can sensitize us to the need for an unapologetically ›old materialist‹ aesthetics, which counterbalances the dangers of social and political disengagement raised by the new materialist emphasis on dehumanized materiality.«54 Tatsächlich wimmelt es in der griechischen Tragödie nur so von Dingen, die ihre volle semantische Bedeutung erst dann offenbaren, wenn sie als Produkte menschlicher Arbeit und der damit verwobenen Klassenfrage betrachtet werden – denken wir nur an das Argonautenschiff, das mit Gift getränkte Gewand der Creusa oder aber an den prunkvollen, mit Meerespurpur gefärbten Teppich, den Klytemnestra anlässlich Agamemnons Rückkehr aus Troja auslegen lässt.

In ihrem Artikel »Materialisms Old and New« erinnert Hall daran, dass der Begriff des Materialismus seit den späten 1880er‐Jahren beinahe ausschließlich mit der revolutionären politischen Philosophie von Karl Marx und Friedrich Engels in Verbindung gebracht worden ist.55 Marx und Engels verorten den Menschen bekanntlich als organisches Wesen, das in ständiger Interaktion mit anderen Organismen und seiner materiellen Umwelt steht. Sie betrachten die Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins als kulturell und historisch relativ, und zwar gerade weil es durch diese Interaktionen geprägt ist, insbesondere durch jene, die mit der Produktion überlebensnotwendiger Güter zusammenhängen. Diese Produktion hat in beinahe allen Menschheitsepochen eine enorme Menge an menschlicher Arbeit erfordert, die gekennzeichnet ist von Konflikten zwischen ausgebeuteten Arbeiter*innen und denjenigen, die von der Produktivkraft der Arbeiter*innen profitieren. Innerhalb von Jane Bennetts Konzept einer vital materiality wiederum stellt die menschliche Kraft nur einen bislang überstrapazierten Teil eines viel reichhaltigeren Gefüges aus humanen und nichthumanen Kräften dar.56 Und genau hier setzt Edith Halls Kritik an:

Bennett’s intellectual wriggling […] is complicated. Human subjects need to be downgraded in our appreciation of matter. Matter and objects have a vitality, instrumentality and, it is implied, an almost conscious agency of their own. We as humans are narcissists, cosmic imperialists who by imposing »subject«/»object« hierarchies somehow oppress inorganic elements, minerals, liquids, and gases as well as organic flora and fauna, at least if we do not acknowledge their immanence and vitality. And »human labor« and »socio‐economic entities« have, Bennett implies, unfairly monopolized the attention we humans pay to matter.57

Tatsächlich, so Hall weiter, sei der Beziehung zwischen materiellen Dingen, menschlicher Arbeit und Sozioökonomie noch nie auch nur annähernd genug Aufmerksamkeit geschenkt worden. Sicherlich würde das Vokabular des Vital Materialism unseren akademischen Interpretationswerkzeugkasten bereichern. »But the idea that scholars of culture have already done a good enough job of thinking about labor is preposterous.«58 Freilich sei der Anteil derjenigen, die in den USA oder in Europa heute im Bereich der Landwirtschaft oder der Industrie arbeiten, sehr gering. Im Gegensatz dazu aber stellen die in der Landwirtschaft Beschäftigten in afrikanischen Ländern wie etwa Burundi oder Sambia mehr als 90 Prozent dar. Jene Gesellschaft wiederum, die die griechische Tragödie hervorgebracht hat, sei in Bezug auf ihre Produktionsverhältnisse dem heutigen Sambia und Burundi viel nähergestanden als dem modernen Europa oder Nordamerika, unterstreicht Hall und kommt zu folgendem Schluss: »If we are fully to appreciate the role of materials and objects in a play written in the fifth century BCE in Athens, then we surely would be well advised to ask how those materials were thought about in that society as well as their vitality or thing‐power.«59

Wie ich weiter oben argumentiert habe, besteht Jelineks Arbeit am Mythos und seinen Fortschreibungen darin, bestimmte Objekte und Materialitäten aus antiken Tragödien auszugraben, diese auf virulente Ereignisse und gegenwärtige Umgebungen prallen zu lassen und dadurch eine der Tragödie inhärente spezifische Thing‐Power in Szene zu setzen. Diese Thing‐Power aber tritt in Jelineks Theatertexten niemals losgelöst von humaner Arbeitskraft und menschengemachter Ausbeutung zutage. Der Homo sapiens selbst bildet eine Leerstelle, um die Jelineks Tragödienfortschreibungen kontinuierlich kreisen. Ganz besonders eindrücklich zeigt sich dies anhand des Spannungsfelds der Mode, für das Jelinek bekanntlich ein Faible hat. So liegen nicht nur mehrere Essays vor, in denen sich die Autorin explizit mit Modeschöpfern auseinandersetzt.60 Auch in ihren theaterästhetischen Aufsätzen fungiert Mode mitunter als Folie – etwa in ihrem programmatischen Text Ich möchte seicht sein (1983), in dem Jelinek den Verzicht auf herkömmliche Figuren anhand des Bildes einer Modeschau beschreibt.61 Darüber hinaus aber sind in den letzten Jahren auch mehrere Theatertexte entstanden, in denen sich Jelinek explizit an Fragen der Mode abarbeitet. Im Gegensatz zu ihren Essays – und diesem Umstand wurde in der Forschung bislang wenig Beachtung geschenkt – fungiert Mode in ihren für die Bühne konzipierten Arbeiten als Referenzrahmen für hochpolitische Auseinandersetzungen mit einem kapitalistischen System, in dem der Luxus einiger weniger durch die erzwungene Arbeit vieler ermöglicht wird. Welche Rolle nun die griechische Tragödie und die darin figurierenden Materialien in diesem Kontext spielen, möchte ich exemplarisch anhand des Theatertexts Das Licht im Kasten aufzeigen, der in der ersten Spielzeit des Intendanten Wilfried Schulz im Jänner 2017 am Düsseldorfer Schauspielhaus in der Regie von Jan Philipp Gloger uraufgeführt worden ist.62

Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!) lässt sich eigentlich als Recycle‐Arbeit betrachten. Der Text verwendet große Teile des Theatertexts Die Straße. Die Stadt. Der Überfall., den Jelinek anlässlich des 100. Geburtstags der Münchner Kammerspiele im Jahr 2012 verfasst hat. Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. ist gespickt mit Auszügen aus Euripides’ Bakchen und Roland Barthes‘ Die Sprache der Mode und verarbeitet darüber hinaus Teile des Passagen‐Werks, in dem sich Walter Benjamin intensiv mit unterschiedlichen Kleidungsstilen und ‑stücken im Kontext eines sich im Wandel befindenden Paris auseinandersetzt und dabei gleichzeitig eine Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts skizziert.

Mode – so lesen wir in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte – generiert sich stets im Zitieren einer vergangenen Tracht und hat dadurch »die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische, als den Marx die Revolution begriffen hat.«63 Interessanterweise treffen wir innerhalb von Jelineks Œuvre mehrmals auf diesen Gedanken. So heißt es etwa bereits in der Laudatio anlässlich der Verleihung des Erich‐Fried‐Preises an ihre Schriftstellerfreundin Elfriede Gerstl:

Elfriede Gerstl hat eine eigene Sprache dieser Mode entwickelt, indem sie von der sogenannten repräsentierten Kleidung der Modezeitschriften weggegangen ist und in die Vergangenheit hinein, obwohl sie diese Vergangenheit eigentlich fürchten müßte, so wie die mit ihr umgesprungen ist, und die Vergangenheit schleift ja in einer langen Schleppe jede Menge Leben, das endgültig vorbei ist, hinter sich her. Alte Kleider gesammelt, aber nicht oder nicht nur aus Geldmangel, sich neue zu kaufen: Elfriede geht einfach weiter. […] Die berühmte Benjamin’sche »Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt« – nur daß wir uns jetzt unsre Anoraks, alten Burberrys oder Jackerln anziehen und mit ihnen in das Einst gehen, das nicht verlorengegangen ist. Damit wir uns das Jetzt draus basteln können, das dann wieder wie neu ausschaut, jedenfalls ist es nicht von gestern.64

Die marxistische Quintessenz des Benjamin‐Zitats hallt aber auch in Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. nach, wo es heißt:

Hier können Sie es sehen, daß die Mode noch länger lebt und immer wieder kommt, selbst wenn sie tot ist; mit dem Tigersprung in die Vergangenheit, aus der sie sich blutende tropfende Beute geholt hat, kommt sie wieder zurück in die Gegenwart, wenn auch nur kurz, hallo!, denn bald wird sie sich eine andre Vergangenheit holen gehen, es geht ja nach hinten genausoweit wie nach vorn […].65

Mode, so lässt sich Jelineks Befund verdichten, fungiert im Bürgertum grundsätzlich als Chiffre für Herrschaftsmacht. Ist es in der Gerstl‐Rede von 1999 der Anorak, der für diese von Benjamin informierte Denkübung herhalten muss, so lässt Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. »einen leichten Blouson, nein, so ein Wort verwendet man heute nicht mehr, wie nennt man das heute, eine den Körper umspielende, doch nicht efeuhaft umklammernde Jacke?« (STR) auftreten. Gemäß des Prinzips der Mode legt Jelinek mithin Verschüttetes frei und wählt nach eigenem Ermessen diskursive »Fetzen« (STR) aus, die mit Benjamin als »Lumpen« oder »Abfall der Geschichte«66 beschrieben werden können. So klingt hier nicht nur Roland Barthes‘ Sprache der Mode durch, die den Blouson in ihre Analyse der (Kleidungs‑)Arten und Gattungen miteinschließt. Darüber hinaus ruft der zitierte Efeu das Kult‐Accessoire der Bakchen auf und weckt dadurch Assoziationen an eine Tragödie, in der Kleidung unmittelbar mit dem ihr inhärenten Potenzial von Tarnen und Täuschen verbunden ist. Einmal mehr also zeigt sich mit Die Straße. Die Stadt. Der Überfall., dass Jelineks intertextuelles Schreibverfahren, das sich hier als Rekurs auf Text‐ilien des Vergangenen fassen lässt, an Benjamins Konzept des dialektischen Bildes denken lässt, das eine sprunghafte Relation zwischen Vergangenem und Gegenwart beschreibt.

Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. fungiert in Das Licht im Kasten als Ausgangstext, als Leitfaden gewissermaßen, den Jelinek konsequent fortspinnt und mit weiteren Fäden verknüpft. So heißt es in der Quellenangabe, die sie dem Text in gewohnter Weise nachstellt:

Material, diesmal in homöopathischen Dosen, aber trotzdem muß es gesagt sein: Roland Barthes: Die Sprache der Mode Euripides: Bakchen (Übers.: Kurt Steinmann) Na ja, und Heidegger muß natürlich auch sein, wie immer, diesmal darfs ein bisserl mehr sein, ihm tut es nicht weh, aber vielleicht der Zeit in ihrer Ursprünglichkeit. Die weiß jetzt vielleicht nicht mehr, wo sie ursprünglich entsprungen ist, und kann daher nicht mehr zurück. Dank an alle Blogger und Poster, das sage ich hier ausdrücklich, sonst wirft mir jemand vor, abgeschrieben zu haben, was ich natürlich, wie üblich, getan habe.

Und danke, Penelope! (LI)

Der Titel des Textes spielt auf einen Leuchtkasten an, der das Supermodel Gisele Bündchen in einer Werbung für H&M zeigt: »[…] genau wie die Frau im Schaukasten, so möchte ich aussehen, in genau so einem Kasten möchte ich allen Menschen vorgeführt werden, wie ich Kleidung vorführe!, aufgetakelt oder gleich als Plastik gegossen, am besten sofort, bevor ich verhungere, so einen Körper möchte ich haben […]« (LI). Die hier hörbar werdende Ich‐Instanz bringt in einem schier nicht enden wollenden Redefluss alles aufs Tapet, was mit dem Phänomen der Mode in Verbindung gebracht werden kann: Aspekte des Verbergens und Sich‐Zeigens, des Tarnens und Täuschens, die Schnelllebigkeit der Mode und die dahinterstehende Werbemaschinerie, den Gruppenzwang, den Mode vor allem auf junge Frauen ausübt, die Zurichtung von Mode tragenden Körpern, aber auch von Körpern, die diese in Billiglohnländern unter schlicht untragbaren Bedingungen produzieren, und nicht zuletzt die massive Umweltverschmutzung, die mit der Herstellung und dem Vertrieb von Mode vorangetrieben wird. Vor diesem Hintergrund verweist der Untertitel Straße? Stadt? Nicht mit mir! nicht nur auf den oben beschriebenen, 2012 verfassten Theatertext, den Jelinek nunmehr fortschreibt. Er alludiert auch die ökologischen und sozioökonomischen Problematiken eines Konsumverhaltens, das sich von der Straße weg immer mehr in Richtung Online‐Shoppen verlagert:

Was die Bezahlung betrifft, wollen Sie es erst recht nicht wissen, morgen wird es auch wieder anders sein, aber heute steht fest, für immer steht ab sofort fest, daß die Produktion in Südeuropa zu schwach ist, denken wir an die Türkei, die aber gar nicht will, daß wir an sie denken, gemessen an jener in Indien, Bangladesh oder China, klar, das ist, wo die Musik für die Produktion von Massenkonsumartikeln spielt, die ich meide wie die Pest, denn ich bin was besonderes und will was besonderes, so, und deswegen nehme ich auch den Rock für 24, 90 und das Top für 19, 90, das ist weniger, als Sie sich vorgestellt haben, aber nicht weniger, als Sie sich vorstellen können, die nehme ich, vorhin habe ich sie im Leuchtkasten gesehen, gleich kaufe ich sie, morgen, wenn schon wieder Montag ist, es geht aber auch am Sonntag, nur wird da nicht zugestellt, morgen kaufe ich was andres, denn ich will anders aussehen als Sie, die sich soeben den billigeren Rock, ganze zehn Euro billiger als meiner, gekauft haben, wenn schon Massenkonsum, dann aber richtig, das heißt nicht mit mir! (LI)

Das Licht im Kasten arbeitet sich beständig an den Bedingungen ab, unter denen Mode in Billiglohnländern wie Bangladesch gefertigt, getragen und wieder weggeworfen wird. Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist nicht neu: Jelinek setzte sich bereits 2013 in Nach Nora, einer Fortsetzung ihrer Ibsen‐Paraphrase Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft, intensiv damit auseinander.67 Anlass für jenen Text gaben die zahlreichen Unfälle in bzw. Einstürze von Fabrikshäusern in Dhaka, die immer wieder zu unzähligen toten und verletzten Arbeiter*innen führten und nach wie vor führen. »Dann wieder ein Brand. Schon wieder einer! Dann ein neuer Einsturz. Schon wieder einer! Dann eine neue Kollektion. Schon wieder eine! Die Mode ist ja das Immer‐Wieder, aber anders.«68 Wie wir wissen, ist Dhaka das Zentrum der systematisch ausgelagerten Produktion multinationaler Modekonzerne. Allein bei H&M arbeiten in Bangladesch etwa eine halbe Million Menschen, und zwar für Löhne, die kaum zum Überleben reichen.69 Folgerichtig zitiert Jelinek ein Spiegel‐Interview mit H&M‐Vorstandschef und ‑Miteigentümer Karl Johan‐Persson, der in Nach Nora tatsächlich adressiert wird: »Und Sie gehen also auch äußerst restriktiv mit den Chemikalien in der Kleidung um? Sie sammeln gebrauchte Kleidung wieder ein und führen Sie dem Recycling zu? Was könnten Sie noch tun? Sie könnten sicher noch einiges tun!«70

Auch in Das Licht im Kasten treffen wir auf diskursive Überreste, die an die zahlreichen Opfer von Fabrikkatastrophen in Bangladesch gemahnen – etwa an jene 1.138 Menschen, die im Zuge des Einsturzes des Fabrikgebäudes Rana Plaza im Jahr 2014 getötet worden waren. »Da nähen sie hin, die Näherinnen, da gehen sie dahin, dieselben, lebendig begraben, erschlagen, verbrannt, zerstückelt« (LI). Die T‑Shirts, die im sogenannten Westen zu Schleuderpreisen gekauft werden können und die daraufhin – wie uns Jelineks Text an mehreren Stellen lehrt – im Schnitt 1,4‐mal getragen und dann bereits wieder weggeschmissen werden – all diese T‑Shirts werden in Fabrikhäusern wie dem Rana Plaza produziert. Adler, C&A, Zara und viele andere lassen dort produzieren.

Die Möglichkeit, Kleidungsstücke bequem von zu Hause aus zu kaufen und dafür eine Geldsumme zu zahlen, die sich hierzulande als Angehörige der Mittelschicht innerhalb einer Arbeitsstunde verdienen lässt, lasse uns etwas Wesentliches verlernen, so Edith Hall in ihren Überlegungen zur griechischen Tragödie und den New Materialisms. Diese Option verunmögliche es uns nach und nach, den finanziellen und ideellen Wert jenes Kleidungsstücks sinnlich zu erfahren, das in Bangladesh noch heute in mühevoller, stundenlanger Handarbeit traditionell aus Baumwolle bzw. Seide hergestellt und von den Frauen als nationale Tracht getragen werde – nämlich der Sari. Gleichzeitig aber, so Hall weiter, verunmögliche uns unser pervertiertes Shoppingverhalten, hinlänglich zu verstehen, was es bedeutet, wenn Medea an Jasons neue Braut ein ungewöhnlich schön gemustertes Gewand schickt, von dem sie sagt, es sei ihrer Familie vom Sonnengott Helios persönlich geschenkt worden: »[…] in Olympian religion and its related mythical narratives, the objects requiring the most labor to produce them are represented as being made by and for gods, as virtual impossibilities in the world of human production. Maximal human effort is conceived as somehow theios, divine.«71 Die von dem (durch Medea freilich vergifteten) Kleid ausgehende Kunstfertigkeit und Kostbarkeit betont die Geste der Großzügigkeit, die Medea der Prinzessin gegenüber signalisieren möchte. Die Thing‐Power dieses Kleides ist also untrennbar verknüpft mit den Seidenraupen, Baumwollsträuchern oder Flachspflanzen, die es hervorgebracht haben, aber auch mit den vielen menschlichen Arbeitshänden, durch die die Fasern gegangen sind. Diese produktive, be‑lebte Thing‐Power steht der tödlichen Substanz, mit der Medea die Robe vergiftet, diametral gegenüber.

Heute wiederum – und hier kehre ich zu Jelineks Theatertext zurück – ist Gift grundsätzlich an der Herstellung von Kleidung und am Tod der darin involvierten Arbeiter*innen beteiligt. In Das Licht im Kasten heißt es folgerichtig:

Dieser Bikini besteht also aus ganzer, gesamter, gesunder Baumwolle, dafür ist er so klein, daß er nicht einmal die Blöße einer Ameise bedecken könnte, und dennoch treibt er in Indien jährlich ca. 100 000 Bauern in Sachen Baumwolle in den Tod. Sie töten sich, jede Stunde einer, mit dem Unkrautgift, das sie vorher auch in die Baumwolle gejagt haben. (LI)

Tatsächlich wirbt H&M bereits seit geraumer Zeit damit, das eigene Image mit der Marke »Conscious« aufzupolieren und wurde dafür im Jahr 2006 von der US‑amerikanischen Organisation Clean Production Action für die Reduktion von Chemikalien ausgezeichnet.72 Sogar Greenpeace lobte das Unternehmen 2015 dafür, PFC‐Chemikalien aus seiner Produktion eliminiert zu haben.73 Was in diesem Kontext jedoch verdeckt bleibt oder wird, sind die katastrophalen Arbeitsbedingungen, unter denen H&M nach wie vor produzieren lässt und die vor allem Frauen treffen.74 »Menschen, die es gar nicht gibt, arbeiten für solche, die man besser gar nicht sehen sollte. Niemand sieht etwas, niemand weiß etwas, und doch entsteht dieses Kleid unter arbeitsamen Händen, die leider bald unter Schutt und Trümmern verschwinden und auch sofort begraben werden« (LI).

Freilich geht Jelinek von einem Publikum aus, dem diese Missstände durchaus bewusst sind. Im direkten Adressieren der Zusehenden (»[…] soll ich Ihnen sagen, wie Sie aussehen könnten?« (LI), »Sie wollen schließlich was davon haben, daß Sie angeschaut werden […]« (LI)) konfrontiert der Text uns mit einer spezifischen Abgestumpftheit und Resignation, die wir angesichts der skandalösen Arbeits‐ und Umweltbedingungen, unter denen Mode fabriziert wird, entwickelt haben:

Wir wollen billige Preise, über Menschenleben sprechen wir jetzt einmal nicht, die können für sich selbst sprechen, ein andermal. So steht es geschrieben, und zwar nicht nur hier, und nicht nur hier lesen Sie es nicht, bittesehr, hier steht es trotzdem, wenn auch nicht nur, aber nirgendwo steht, daß es auf den Stoff nicht ankommt, der Stoff ist das Phantom der Mode. Die Menschen sind nackt, die Kleider sind die neuen des Kaisers, denn nur auf die Arbeit, die der Mensch in etwas hineinsteckt, und die Zinsen, die er für sich und seine Investition bekommt, kommt es an. (LI)

Anstatt jedoch näher auf die katastrophalen Missstände innerhalb der Modeindustrie einzugehen, verbleibt der Text – wie Dramaturgin Felicitas Zürcher hervorstreicht – stets »an der Oberfläche, versprüht weiter giftig‐gute Laune und weigert sich, sich angemessen mit den Opfern auseinanderzusetzen.«75 Das Licht im Kasten lässt uns allein mit unserer Verantwortung(slosigkeit) in Bezug auf die von uns konsumierten Modeprodukte.

Fragen ließe sich in diesem Zusammenhang aber auch, wie sich die Arbeitsbedingungen jener gestalten, die in Theaterinstitutionen abseits des Rampenlichts agieren. Und wie ist es überhaupt grundsätzlich um das Licht bestellt, das uns aus den Guckkästen der subventionierten Theaterhäuser entgegenleuchtet?


Abbildung 15: Elfriede Jelinek: Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!). Regie: Jan Philipp Gloger. Schauspielhaus Düsseldorf 2017. Foto: Sebastian Hoppe.

Tatsächlich weisen sämtliche Theaterspielstätten, die im deutschsprachigen Raum großteils zwischen 1820 und 1970 erbaut oder wiedererrichtet worden sind, einen erheblichen energetischen Optimierungsbedarf auf. Eine 2019 durchgeführte Studie des Instituts für Energieeffiziente Architektur der Technischen Hochschule Köln hat ergeben, dass der durchschnittliche Strombedarf einer Spielstätte je nach Größe bei 200 bis 2.000 Gigawattstunden pro Jahr liegt. Bei Weitem am meisten Strom frisst dabei die Beleuchtung, gefolgt von Lüftungsanlagen.76 Carolin Kley, die die Datenanalyse vorgenommen hat, sagt dazu: »Nach unseren Analysen ist die Beleuchtung, vor allem aufgrund der Scheinwerfer im Theatersaal und auf der Bühne, durchschnittlich der größte Stromverbraucher. Ebenfalls einen hohen Verbrauch verursachen die Lüftungsanlagen mit der entsprechenden Konditionierung der Luftmengen. Entsprechend hohe Spitzenlasten gibt es während der Vorstellungen. Über das Jahr hinweg ist der Stromverbrauch relativ gleichmäßig.«77 Das Licht im Kasten spielt diese Problematik nicht dezidiert an. Aber laden Jelineks genuin metatheatralen Texte, die uns die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Mensch(en) und Materie so drastisch vor Augen führen, etwa nicht dazu ein, Problematiken der Ausbeutung und der Ressourcenknappheit auch im Hinblick auf die Institution Theater zu beleuchten?

Endnoten

54 Hall, Edith: https://www.bloomsburycollections.com/book/the-materialities-of-greek-tragedy-objects-and-affect-in-aeschylus-sophocles-and-euripides/ch12-materialisms-old-and-new?from=search [Zugriff am 16.1.2021].

55 Vgl. Hall, Edith: »Materialisms Old and New.« In: Telò, Mario/Mueller, Melissa (Hg.): The Materialities of Greek Tragedy, S. 203–217, hier S. 204f.

56 Hall bezieht sich auf ein Interview, in dem sich Bennett wie folgt äußert: »I want to emphasize, even over‐emphasize, the contributions of non‐human forces […] in an attempt to counter the narcissistic reflex of human language and thought. What counts as the material of vital materialism? Is it only human labor and the socioeconomic entities made by men and women using raw materials?« (Khan, Gulshan Ara: »Vital Materiality and Non‐Human Agency: An Interview with Jane Bennett.« In: Browning, Gary et al. (Hg.): Dialogues with Contemporary Political Theorists. Basingstoke: Palgrave 2012, S. 42–57, hier S. 46., zit.n. Hall, Edith: »Materialisms Old and New«, S. 206.)

57 Hall, Edith: »Materialisms Old and New«, S. 206.

58 Ebd., S. 206.

59 Ebd., S. 207.

60 Vgl. Jelinek, Elfriede: »Das über Lager.« In: Gerstl, Elfriede/Wimmer, Herbert J. (Hg.): Ablagerungen. Linz: edition neue texte 1989, S. 16–20; Jelinek, Elfriede: »Mode.« In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 24.3.2000; Jelinek, Elfriede: »Anstatt einer Ausstattung.« In: Felderer, Brigitte: Rudi Gernreich. Fashion Will Go out of Fashion. Köln: DuMont 2000, S. 47–58; Jelinek, Elfriede: »In Fetzen.« In: kult April 2004, S. 25–30.

61 »Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. Weg mit den Menschen, die eine systematische Beziehung zu einer ersonnenen Figur herstellen könnten! Wie die Kleidung, hören Sie, die besitzt ja auch keine eigene Form, sie muß um den Menschen gegossen werden, der ihre Form IST. Schlaff und vernachlässigt hängen die Hüllen, doch dann fährt einer in sie, der spricht wie mein Lieblings Heiliger, den es nur gibt, weils auch mich gibt: Ich und der, der ich sein soll, wir werden nicht mehr auftreten.« (Jelinek, Elfriede: »Ich möchte seicht sein.« In: Theater 1983. Jahrbuch der Zeitschrift Theater heute, S. 102.) Zu Jelineks Auseinandersetzungen mit Mode vgl. auch Degner, Uta/Gürtler, Christa: »Mode als ästhetische Praxis. Zur poetologischen Relevanz von Kleiderfragen bei Elfriede Gerstl und Elfriede Jelinek.« In: Gürtler, Christa/Hausbacher, Eva (Hg.): Kleiderfragen. Mode und Kulturwissenschaft. Bielefeld: transcript 2015, S. 97–116.

62 Vgl. Jelinek, Elfriede: Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!) https://www.elfriedejelinek.com/flicht.htm 21.4.2017 [Zugriff am 15.1.2021] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte), im Folgenden zitiert mit der Sigle LI.

63 Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte.« In: Ders.: GS I/2. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 691–704, hier S. 701.

64 Jelinek, Elfriede: »Zum Erich‐Fried‐Preis 1999.« In: Fliedl, Konstanze/Gürtler, Christa (Hg.): Elfriede Gerstl. Graz/Wien: Literaturverlag Droschl 2001, S. 50–51, Herv. SF.

65 Jelinek, Elfriede: Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. https://www.elfriedejelinek.com/fstrasse.htm 3.11.2012 [Zugriff am 11.2.2021] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte), im Folgenden zitiert mit der Sigle STR, Herv. SF.

66 Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.1, S. 574 und 575.

67 Vgl. Jelinek, Elfriede: Nach Nora. https://www.elfriedejelinek.com/fnachnora.htm 22.10.2013 [Zugriff am 16.2.2021] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Theatertexte).

68 Jelinek, Elfriede: Nach Nora.

69 Zu Jelineks Nach Nora im Kontext der untragbaren Herstellungsbedingungen von Billigmode vgl. Polt‐Heinzl, Evelyn: »Sticheln am Gewebe der Gesellschaft oder Variationen über die Legende von der individuellen Freiheit. Elfriede Jelineks Nora‐Komplex.« In: Felber, Silke (Hg.): Kapital Macht Geschlecht. Künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender. Wien: Praesens 2016, S. 88–97.

70 Jelinek, Elfriede: Nach Nora.

71 Hall, Edith: »Materialisms Old and New«, S. 208.

72 Vgl. Spönemann, Robert: »Der Code of Conduct von Hennes & Mauritz.« In: Ehmke, Ellen et al. (Hg.): Internationale Arbeitsstandards in einer globalisierten Welt. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 202–223.

73 Vgl. N.N.: »H&M und Zara produzieren sauberer, Nike fällt zurück.« https://www.greenpeace.de/presse/presseerklaerungen/hm-und-zara-produzieren-sauberer-nike-faellt-zurueck 19.3.2015 [Zugriff am 16.1.2021].

74 Vgl. z.B. Guilbert, Kieran: »H&M Accused of Failing to Ensure Fair Wages for Global Factory Workers.« https://www.reuters.com/article/us-workers-garment-abuse/hm-accused-of-failing-to-ensure-fair-wages-for-global-factory-workers-idUSKCN1M41GR 24.9.2018 [Zugriff am 16.1.2021]; N.N.: »Abuse is Daily Reality for Female Garment Workers for Gap and H&M.« https://www.theguardian.com/global-development/2018/jun/05/female-garment-workers-gap-hm-south-asia 5.6.2018 [Zugriff am 16.1.2021]; N.N.: »H&M will Betriebsräte loswerden.« In: Der Spiegel, 7.8.2011.

75 Zürcher, Felicitas: »Über Hüllen. Zu Elfriede Jelineks Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!).« In: Fladischer, Konstanze/Janke, Pia (Hg): JELINEK[JAHR]BUCH 2016–2017, S. 66–77, hier S. 73.

76 Das Forschungsprojekt Energetische Querschnittserhebung deutscher Theaterspielstätten und Monitoring Scharoun Theater Wolfsburg mit Schwerpunkt Komfortuntersuchungen unter der Leitung von Eva‐Maria Pape wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rahmen des Förderprogramms Forschung für Energieoptimiertes Bauen (EnOB) gefördert. Folgende Spielstätten nahmen teil: Opernhaus Bonn, Theater Krefeld, Theater Detmold, Theater Freiburg, Theater des Westens Berlin, Theater Nordhausen, Theater Osnabrück, Opernhaus Nürnberg, Schauspielhaus Nürnberg, Theater Mannheim, Theater Schwerin, Opernhaus Chemnitz, Schauspielhaus Chemnitz und für das Intensivmonitoring Scharoun Theater Wolfsburg. Zu den konkreten Ergebnissen vgl. den Projektendbericht: https://akoeln.de/wp-content/uploads/2019/11/THKoeln_AbschlussberichtTheaterspielstaetten.pdf [Zugriff am 11.2.2021].

77 N.N.: »Energieverbrauch und Raumklima in Theaterspielstätten.« https://www.presseportal.de/pm/118033/4235938 3.4.2019 [Zugriff am 11.2.2021].