3.2 Eigenartig andersartig

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


An wen aber richten die Danaiden ihr zwischen Klage und Hikesiegebet schwankendes Gesuch? Wer steht ihnen gegenüber? Die Adressierung mit dieser Frage offenbart einen weiteren dramaturgischen Eingriff, den Aischylos in Bezug auf den Mythos vornimmt. Der Dichter erweitert die Personenkonstellation um König Pelasgos und installiert dadurch eine Figur, die aus tragödientheoretischer Sicht eine einzigartige Funktion einnimmt: Pelasgos ist nur technisch gesehen Protagonist des Stückes; aus dramatischer Sicht fällt diese Funktion dem Chor zu.34 Die Figur des Pelasgos dient den Danaiden als Spielpartner, als Referenz mithin, die es den Schutzsuchenden erlaubt, ihre Überzeugungskür auszuagieren. Wie gestaltet sich nun diese Kür?

Bei Pelasgos löst das Zusammentreffen mit den Danaiden zunächst große Neugier aus. Seine Auftrittsverse stellen ihn als wissbegierigen, scharfsinnigen Beobachter vor, der im Kombinieren aller ihm ersichtlichen Informationen versucht, die Herkunft seines Vis‐à-vis zu analysieren. So sehr er sich aber auch bemüht – er wird nicht schlau aus den Schutzsuchenden. Zu widersprüchlich mutet die Erscheinung dieser unbekannten Schar an:

Pelasgos: 

Woher gebürtig soll ich den ungriechischen,
In fremder Kleidung und Verhüllung prangenden
Barbarenschwarm begrüßen? Nicht argolisch ist
Der Weiber Anzug, nicht hellenischem Brauch gemäß;
Und daß dem Land ihr sonder Herold, führerlos,
Niemandem gastbefreundet, hier dennoch zu nahn
Getrost gewagt habt, wunderbar erscheint es mir.
Zwar liegen nach der Schutzgewärtigen frommem Brauch
Ölzweige bei euch auf der Kampfgottheiten Herd;
Dies einzig kann entziffern ein hellenisch Aug;
Auf vieles sonst noch raten ließe Tracht und Art,
Wär uns zurechtzuweisen nicht dein Mund bereit,
Darum, so gib Antwort und sprich getrost zu mir. (Hik, 234–45)

Aus kulturhistorischer Sicht kommt dieser Rhesis eine Schlüsselbedeutung zu: Sie stellt einen der ältesten uns vorliegenden Belege dar, in denen vermeintlich fremde Völker anhand ästhetischer Kriterien als »Barbaren« festgemacht werden. Aber impliziert diese Bezeichnung tatsächlich eine Schmähung der Adressierten? Werfen wir einen kurzen Blick auf die Genealogie des Begriffs βάρβαρος (bárbaros), der ursprünglich einen Stotterer bezeichnete.35 Βάρβαροι (bárbaroi) wurden im antiken Hellas zunächst all jene gerufen, die schlecht bzw. unverständlich (Griechisch) sprachen. Die Bedeutung »fremdsprachig« nahm der Terminus mit seinem erstmaligen Erscheinen in der Literatur an, nämlich in der Ilias des Homer.36 Wann der Begriff zur Gesamtbezeichnung für nichtgriechische Völker mutierte, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Edith Hall konstatiert in ihrer einflussreichen Publikation Inventing the Barbarian: »There is indeed little evidence for the category ›the barbarians‹, encompassing the entire genus of non‐Greeks, until Aeschylus’ Persae of 472 BC.«37 Unbestritten ist, dass die Konnotationen »grausam« und »ausschweifend«, unter deren Vorzeichen der Barbarenbegriff als »europäische[s] Schlüsselwort«38 die Antike überdauert hat, nicht von Anfang an angelegt waren. Dieses Bild entsteht interessanterweise erst unter dem Eindruck der Perser des Aischylos (472 v. Chr.): In dieser Tragödie bezeichnen sich die Perser in ihrer Schilderung der Regentschaft durch den grausamen Despoten Xerxes selbst als »Barbaren« (vgl. Aisch. Pers. 371). Die Hellenen‐Barbaren‐Antithese, die das Selbstverständnis der Europäer*innen so unnachahmlich geprägt hat, basiert mithin auf einem wertenden Antagonismus zwischen (griechischer) Freiheit und (barbarischer) Unfreiheit.

Diese Entgegensetzung blendet jedoch etwas Entscheidendes aus, wie Markus Winkler überzeugend gezeigt hat: Unerwähnt nämlich bleibt dabei der Umstand, dass der ökonomische Erfolg der Griechen und die damit in Zusammenhang stehende Idee der Freiheit wesentlich auf der Unfreiheit anderer, d.h. auf Sklavenwirtschaft fußen.39 Versklavte machten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. eine große Zahl der Gesamtbevölkerung Athens und Attikas aus. Das ist nicht zuletzt auch deshalb relevant, weil der überwiegende Teil dieser Menschen nichtgriechischer Herkunft war. Doch wird der Begriff bárbaros in den Persern keineswegs eindeutig pejorativ gebraucht. Aischylos zeichnet dort vielmehr ein äußerst differenziertes Bild der Perser und elaboriert in diesem Kontext die Zusammengehörigkeit des Griechischen und des »Barbarischen«.40

Auch in Aischylos’ Hiketiden hebt der Ausdruck des »Barbarenschwarms« nicht darauf ab, die Mädchen als wilden Mob zu bestimmen. Ebenso wie in den Persern dient der Begriff bárbaros aber auch hier einer hellenozentrisch motivierten Abgrenzung. Die Distinguierung, die Pelasgos zunächst über die Kleidung bzw. die Verhüllung der rätselhaften Frauen vornimmt, setzt sich in den darauffolgenden drei Versen fort. Nun ist es das autonome und führungslose Auftreten der Frauen, das nur einen einzigen Schluss zuzulassen scheint: Bei der Gruppe muss es sich um eine »ungriechische« handeln. Doch siehe da, etwas lässt König Pelasgos stutzen. Die Mädchen tragen Ölzweige, d.h. sie enacten eine spezifische Geste der Hikesie, die darin besteht, wollumwundene Zweige des Olivenbaums an einen Altar zu tragen und diese dort – bis zur Gewährung des Bittgesuchs – zu deponieren.41 Diese Geste beschreibt einen typisch hellenischen Brauch und ist als solche, wie Pelasgos betont, ausschließlich von Griechen zu dechiffrieren.

Die Geste fungiert in den Hiketiden mithin als Marker von Humandifferenzierungen, die sich an religiösen bzw. ethnischen Leitkategorien orientieren. Und wirklich – wenige Verse später werden die Mädchen behaupten, aus Argos zu stammen: »Hör’s kurz und klar. Argiverinnen dürfen wir/Uns rühmen, Enkel jener hochbeglückten Kuh« (Aisch. Hik. 271–73). Pelasgos reagiert empört auf diese Affirmation und betont einmal mehr das äußere Erscheinungsbild der Frauen, das ihn zu ethnografisch motivierten Interpretationen ermutigt:

Pelasgos: 

Unglaublich sagt ihr, unerhört, ihr Fremdlinge,
Daß dies Geschlecht von Argos euch sei stammverwandt;
Den Weibern Libyens seid ihr wahrlich ähnlicher,
Doch nun und nimmer unsren hier einheimischen;
Eh mag der Nilstrom nähren solche Blumenflur,
Der kyprische Zug in euer mädchenhaft Gesicht
Von dem Stempel eingepräget sein, der euch gezeugt;
Für Inder, die nomadisch auf der trabenden
Kamele Saumtierrücken fern das Heideland
Längs Aithiopias Marken scheu durchschweifen solln,
Für mannentwöhnte, menschenbluteslüsterne
Amazonen würd ich, wärt ihr Bogenschützen, ehr
Euch halten. Wissen möcht ich drum genau belehrt,
Wiefern nach Argos dein Geschlecht und Stamm gehört. (Aisch. Hik. 277–90)

Die ethnografische Spezifik dieser Passage stellt insofern ein wichtiges Indiz dar, als sie auf die Tatsache verweist, dass sogenannte Fremde im antiken Griechenland primär über physische Aspekte bestimmt wurden, d.h. anhand ihrer Größe, der Farbe ihrer Haut, Haare und Augen, aber auch anhand ihrer Kleidung.42 Als solche lässt die Hellenen‐Barbaren‐Antithese bei Aischylos bereits Ansätze der deterministischen Klimazonentheorie des Poseidonios erahnen, die im Neuhumanismus ihre Renaissance erleben und zeitgleich entstehende Rassentheorien prägen sollte.43 Markus Winkler verweist vor diesem Hintergrund auf Johann Joachim Winckelmanns kanonische Schrift Geschichte der Kunst des Altertums (1764), die die Ethnozentriertheit der Griechen‐Barbaren‐Antithese besonders dort zum Vorschein bringt, wo die »ethnografischen Befunde aus ästhetischer Perspektive beurteilt werden.«44 Die Vorrangstellung Griechenlands, das Pars pro Toto für Mitteleuropa steht, wird dabei von Winckelmann hauptsächlich klimatheoretisch begründet, wie folgende Passage demonstriert:

Regelmäßiger aber bildet die Natur, je näher sie nach und nach wie zu ihrem Mittelpunkt geht, unter einem gemäßigten Himmel […]. Folglich sind unsere und der Griechen Begriffe von der Schönheit, welche von der regelmäßigsten Bildung genommen sind, richtiger, als welche sich Völker bilden können, die, um mich eines Gedankens eines neuern Dichters zu bedienen, von dem Ebenbilde ihres Schöpfers halb verstellt sind.45

Manifestiert sieht Winckelmann die Schönheit, von der er spricht, in der weißen Hautfarbe, die er mit einer völlig haltlosen Behauptung in Verbindung bringt: »Da nun die weiße Farbe diejenige ist, welche die mehrsten Lichtstrahlen zurückschickt, folglich sich empfindlicher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist […].«46 Aus diesem rassistischen Zitat spricht ein ästhetisch begründeter Eurozentrismus, der bis heute nachwirkt und der sich mit Bernhard Waldenfels als »raffinierte Form des Ethnozentrismus«47 begreifen lässt.48 Wiewohl die Hellenen‐Barbaren‐Antithese, auf der dieses Denken fußt, sich bereits in Aischylos’ Hiketiden vorzufinden ist, so stellt sich im Hinblick auf diese Tragödie dennoch die Frage, ob Pelasgos’ Verständnis von Abstammung tatsächlich ausschließlich ethnosomatisch inspiriert ist.

Tatsächlich, so möchte ich behaupten, konfrontieren die Danaiden den auf ihr physisches Aussehen fokussierten Pelasgos mit einem performativen Denken von Zugehörigkeit, das von der Forschung bislang unterbelichtet geblieben ist. Die Danaiden nämlich ignorieren die Beschreibungen ihrer Körper durch den König weitgehend und beharren auf den gemeinsamen Wurzeln, indem sie ein weiteres Mal auf die Mythologie rekurrieren:

Chor:
Es soll des Heratempels Schlüsselwalterin
In Argos’ Landen Io einst gewesen sein,
Die, wie es gleichfalls aller Menschen Sage weiß –
Pelasgos:
Und weiter, heißt’s nicht, daß sie Zeus umarmet hat?
Chor:
Ja, ihre Liebe ward vor Hera offenbar.
Pelasgos:
Und welches Ende nahm der Götter Zwist darauf?
Chor:
Es schuf zur Kuh sie Argos’ Göttin zürnend um.
Pelasgos:
Nicht wahr, es ging nun Zeus zur schöngehörnten Kuh?
Chor:
So sagt man; ein kuhbrünstger Stier war’s an Gestalt.
Pelasgos:
Was tat des Zeus Gemahlin drauf in ihrer Macht?
Chor:
Den allesschaunden Hüter sandte sie der Kuh.
Pelasgos:
Wie nennst du den einsam allerspähnden Hirten, sprich?
Chor:
Argos, den Sohn der Erde, den drauf Hermes schlug.
Pelasgos:
Und was verhing sie nun der unglücksel’gen Kuh?
Chor:
Den Stich der Bremse, den brennenden, rastlos jagenden –
Pelasgos:
Der aus der Heimat weit in weiter Flucht sie trieb.
Chor:
Jawohl; du sagest dies völlig überein mit mir.
[…] (Aisch. Hik. 291–309)

Aischylos nimmt hier die Verknüpfung zweier Mythen vor. Zum einen greift er auf den Danaiden‐Mythos zurück, der das Motiv des Gattenmords fokussiert und das Moment der Verfolgung nur peripher berührt.49 Zum anderen baut der Dichter den Mythos rund um Io, die Geliebte des Zeus, ein: In dieser Erzählung wird Io, die von der eifersüchtigen Hera, der Gattin des Zeus, in eine Kuh verwandelt worden ist, durch den Stich einer Bremse in die Flucht geschlagen und ist nunmehr dazu verdammt, rund um die Welt zu irren. Bedeutend ist vor allem, wie Aischylos die Verknüpfung dieser beiden Mythen vornimmt. Pelasgos nämlich lässt die Behauptung der Danaiden, von Io abzustammen, nicht einfach so gelten. Vielmehr hält er die Frauen in einer kreuzverhörartigen Stichomythie dazu an, ihm den Mythos bis ins kleinste Detail zu schildern. Auch er beteiligt sich an der Puzzlearbeit – Stück für Stück rekonstruieren die beiden Parteien den Mythos, bis Pelasgos schließlich konstatiert: »Wohl scheinet ihr ursprünglich Teil an diesem Land/zu haben« (Aisch. Hik. 325–26). Das Streitgespräch zwischen Pelasgos und den Danaiden veranlasst den Altphilologen Jonas Grethlein zu der Behauptung, dass es »die Abstammung von Io« sei, durch die »die Danaiden trotz ihres Aussehens nicht völlig fremd [sind].«50 Ich möchte im Gegenzug argumentieren, dass es die Performativität des Narrativen ist, die hier identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend wirkt. Das gemeinsame Reenacten des Mythos ermöglicht den Danaiden und Pelasgos – aber auch dem Tragödienpublikum – eine Erfahrung kollektiver Erinnerung, die einen verbindenden und verbindlichen Effekt hat: Pelasgos erkennt die gemeinsame Abstammung der Danaiden an.

Einerseits also wird in Aischylos’ Hiketiden ein Fremdbild über ästhetische und habituelle Komponenten hergestellt. Andererseits wird das Gemeinsame über die Geste des Schutzgesuchs, das verbindende historische Erbe und die performative Praxis des Erzählens erfahrbar. In dieser Zusammenschau ergibt sich für Pelasgos ein äußerst undurchsichtiges Bild. Die ambivalente Position, die die Frauen aus topografischer und topologischer Sicht einnehmen, indem sie sowohl outside als auch inside sind, spiegelt sich in ihrem zwiespältigen Status wider; die Danaiden erscheinen fremd und gleichzeitig vertraut. Diese Unentscheidbarkeit lässt sich auch auf stilistischer Ebene konstatieren. So sind im zweiten Hauptteil der Parodos Elemente eingebaut, die sich weder einem Gebet noch einer Hikesiebitte zuordnen lassen.51 Mit diesem dramaturgischen Kniff verstärkt Aischylos den befremdenden Eindruck, den die Danaiden auf Pelasgos bzw. auf die Rezipient*innen der Tragödie machen. Die Frauen erscheinen einerseits als epeludes, d.h. als Fremde, Immigrantinnen, und andererseits als homaimos, d.h. als Blutsverwandte, als Argiverinnen.52 Die Tragödie unterminiert mithin eine klare Differenzierung zwischen »Griech*innen« und »Barbar*innen«. Fremdheit und Eigenheit fallen in der Figuration der Danaiden zusammen.

Zwischen agonalen Zuschreibungen changierend macht der Chor der Danaiden greifbar, was Bernhard Waldenfels in Rekurs auf Edmund Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität als Paradox der Fremderfahrung beschrieben hat. Waldenfels spricht in diesem Kontext »von einer Zugänglichkeit des Unzugänglichen, einer Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit, einer Unverständlichkeit in der Verständlichkeit […].«53 Das Fremde erweist sich seiner Auffassung nach grundsätzlich als mit dem Eigenen verstrickt und vice versa:

Fremderfahrung bedeutet nicht, daß Eigenes und Fremdes, Eigenleib und Fremdleib, Muttersprache und Fremdsprache, Eigenkultur und Fremdkultur einander gegenübertreten wie Monaden, die in sich abgeschlossen sind. Eigenes, das gleichursprünglich mit dem Fremden auftritt und aus der Absonderung von Fremdem entsteht, gehört einem Zwischenbereich an, der sich mehr oder weniger und auf verschiedene Weise ausdifferenziert. Am Anfang steht nicht die Einheit einer Lebensform, auch keine Pluralität persönlicher und kultureller Lebensformen, in denen die Einheit sich lediglich vervielfältigt, sondern am Anfang steht die Differenz. Nicht nur das Attribut »fremd«, sondern auch das Attribut »eigen« hat einen relationalen Charakter. Wer wäre ich und was wäre mir zu eigen, wenn sich meine Eigenheit nicht von anderem absetzen würde?54

So wie sich die Fremdheit nur in Abgrenzung zu einer bestimmten Eigenheit denken lässt, benötigt die Eigenheit eine Fremdheit, um sich konstituieren zu können. Diese Aporie verweist auf Fragen der Relationalität, die in Bezug auf die Hiketiden des Aischylos neu zu stellen sind. Gleichzeitig ist damit eine Denkfigur aufgerufen, die Jelineks Die Schutzbefohlenen wie ein Moebiusband durchzieht. Das chorähnliche Wir der Schutzbefohlenen ist ohne ein »Anderes« nicht zu erfahren.

Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen plädiere ich dafür, das in Die Schutzbefohlenen auftretende Wir als leeren Signifikanten aufzufassen bzw. dieses Wir als Produkt unterschiedlicher diskursiver Elemente und hegemonialer Artikulationen zu lesen. Jelineks Theatertext verfügt weder über Figuren im herkömmlichen Sinn noch über ausgewiesene Stimminstanzen, wie wir sie etwa in den Texten Kein Licht. oder FaustIn and out vorfinden. Im Unterschied zur antiken Vorlage ist der Sprechtext der Schutzbefohlenen nicht auf konkrete Spieler*innen aufgeteilt; es wird kein Chor ausgewiesen und kein ihm gegenüberstehender König. In Erscheinung tritt hier eine Figuration, die sich jeder Zuschreibung entzieht. Dieses Wir evoziert ein polymorphes Sprechen, das auf paradoxe Weise die Unmöglichkeit eines jeden Wir feiert. Wie Waldenfels unterstreicht, ist dieses Wir eben nicht als simple Vermehrung eines Ich und Du zu verstehen. »Das performative ›Wir‹ des Aussagevorgangs deckt sich nicht mit dem konstativen ›Wir‹ des Aussagegehalts.«55 In der Regel bin »ich« es, die »wir« sagt, oder ist es eine andere Person, die im Namen des Wir spricht. Das Wir benötigt grundsätzlich eine/n Fürsprecher*in, die oder der eine Gruppe vertritt. Aussagen wie »Wir Österreicher« oder »We refugees« verwischen die Differenz, die zwischen dem Subjekt des Sprechakts und dem Gehalt des Sprechakts besteht. Ebendiese Differenz setzt der Text Die Schutzbefohlenen in Szene. Die Tragödienfortschreibung leuchtet die Position der Fürsprechenden oder – wie es bei Jelinek heißt – der »Stellvertreter« des Wir aus und lenkt die Aufmerksamkeit auf die performativen Mechanismen, die im Konstruktionsprozess von Identität und Alterität zutage treten. Damit berührt die Autorin elementare Fragen von Zugehörigkeit, die im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ebenso brisant sind wie aktuell im Kapitalozän.

Endnoten

34 Vgl. Burian, Peter: »Pelasgus and Politics in Aeschylus’ Danaid Trilogy.« In: Wiener Studien. Zeitschrift für Klassische Philologie und Patristik. Wien: Böhlau 1974, S. 5–14, hier S. 13 bzw. Garvie, Alexander F.: Aeschylus’ Supplices. Play and Trilogy. Cambridge: Cambridge University Press 1969, S. 130.

35 Zur Geschichte des Terminus vgl. v.a. Opelt, Ilona/Speyer, Wolfgang: »Barbar I.« In: Klauser, Theodor et al. (Hg.): Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Supplement‐Bd. I. Stuttgart: Hiersemann 2001, Spalte 811–895 und Losemann, Volker: »Barbaren.« https://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/barbaren-e212470?s.num=0&s.f.s2_parent=s.f.book.der-neue-pauly&s.q=barbaren [Zugriff am 19.2.2019] (= Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike).

36 »In der Literatur begegnet das Wort zum ersten Mal bei Homer, aber nicht als Simplex, sondern in der Zusammensetzung barbaróphonos als Beiwort der Karer (Il. II 867).« (Jüthner, Julius: Hellenen und Barbaren. Aus der Geschichte des Nationalbewusstseins. Leipzig: Dieterich 1923, S. 2.)

37 Hall, Edith: Inventing the Barbarian. Greek Self‐Definition through Tragedy. Oxford: Clarendon Press 1991, S. 10.

38 Borst, Arno: »Barbaren. Geschichte eines europäischen Schlagworts.« In: Ders.: Barbaren, Ketzer und Artisten. Welten des Mittelalters. München/Zürich: Piper 1992, S. 19–31, hier S. 19.

39 Vgl. Winkler, Markus: Von Iphigenie zu Medea. Semantik und Dramaturgie des Barbarischen bei Goethe und Grillparzer. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 24f. Zu sogenannten Barbaren in der antiken Tragödie vgl. Bacon, Helen H.: Barbarians in Greek Tragedy. New Haven: Yale University Press 1961.

40 Vgl. Winkler, Markus: Von Iphigenie zu Medea, S. 25.

41 Zu Requisiten der Hikesie vgl. Dingel, Joachim: »Requisit und szenisches Bild in der griechischen Tragödie.« In: Jens, Walter (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie, S. 347–367, hier S. 353.

42 Vgl. Effenterre, Henri van/Effenterre, Micheline van: »Le côntrole des étransgers dans la cité grecque.« In: Thür, Gerhard et al. (Hg.): Symposion 1988: Voträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte. Köln, Böhlau 1990, S. 251–259, hier S. 252.

43 Vgl. Winkler, Markus: Von Iphigenie zu Medea, S. 58–63.

44 Ebd., S. 58.

45 Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, S. 147. Vgl. dazu auch Winkler, Markus: Von Iphigenie zu Medea, S. 58.

46 Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums, S. 148.

47 Waldenfels, Bernhard. Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 135.

48 Siehe hierzu auch Hodne, Lasse: »Winckelmann’s Apollo and the Physiognomy of Race.« In: Nordic Journal of Aesthetics 29/59 (2020), S. 6–35. Zum Konzept des Ethnozentrismus vgl. Bizumic, Boris: Ethnocentricsm. Integrated Perspectives. London: Routledge 2018.

49 Vgl. hierzu den Beginn des Unterkapitels In Between.

50 Grethlein, Jonas: Asyl und Athen, S. 56–57.

51 Vgl. Schnyder, Bernadette: Angst in Szene gesetzt, S. 73.

52 Vgl. zu diesen Zuschreibungen Mitchell, Lynette G.: »Greeks, Barbarians and Aeschylus’ Suppliants«, S. 217.

53 Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016, S. 115.

54 Ebd., S. 117.

55 Waldenfels, Bernhard: »Das Fremde denken.« In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4/3 (2007) https://zeithistorische-forschungen.de/3-2007/id=4743 [Zugriff am 27.2.2019].