4.2 Vermittelnde Instanzen. Wer spricht?

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Wenn sich Jelineks Theatertexte seit Das Lebewohl grundsätzlich immer mehr vom aristotelischen Paradigma des klassischen Dramenaufbaus gelöst haben, so markiert Schnee Weiß eine diesbezügliche Ausnahme. Der Text präsentiert sich nicht als durchgängige Textfläche, sondern orientiert sich (wieder) an der Drei‐Akt‐Struktur. Der letzte dieser drei Akte trägt den Titel Epilieren im Himmel und ruft dadurch einen weiteren dramatischen Intertext auf, an dem sich Schnee Weiß orientiert: nämlich Oskar Panizzas Liebeskonzil. Diese 1895 entstandene antikatholische Skandalgroteske19 spielt im Himmel, in der Hölle und am Hof des Borgiapapstes Alexander VI. und lässt u.a. einen senilen Gottvater, einen mental retardierten Christus, mehrere Engel und das von Teufel und Salome gezeugte »Weib« auftreten. In Schnee Weiß kehren diese Figuren als Sprachmasken wieder und spannen einen vertikal organisierten (Herrschafts‑)Raum auf.

Dominiert wird dieser Raum von der Sprechinstanz Gottvater, die wie folgt angekündigt wird: »Auftritt Gottvater oder ein Freiwilliger, der aber Autorität ausstrahlen muß, vielleicht, genauso gut, der Chef des Skiverbands persönlich, ja, der in Person oder zumindest personifiziert« (SW, S. 87). Ihm gehören »die Schlepplifte, die Zuglifte, die Zerreißlifte und die Lifte, bei denen ein Seil gerissen ist« (SW, S. 53). Gottvater personifiziert die Verstrickung von Sport, Tourismus, Machtmissbrauch sowie Raubbau an Mensch und Natur, um die Schnee Weiß leitmotivisch kreist. Ihm zur Seite steht Jesus, der – an der Decke hängend und vor Blut tropfend – die römisch‐katholische Kirche als (Re‑)Produktionsinstitution geschlechtlicher Asymmetrien und Zeugin von strukturellem Machtmissbrauch vorführt: »In meiner Kirche sitzen die Männer oben. Die Frau wird als Mann zweitrangig gesehen, weil sie keiner ist. Wer kann, raubt sie, entfernt sie aus der Öffentlichkeit und jagt sie ins Gebirg hinauf« (SW, S. 31).

Die Frau aber, die nun als Sprechinstanz ins Spiel kommt, verkehrt diese Ordnung auf perfide Weise in ihr Gegenteil. Sie »[s]chaut an die Decke, von der es blutig herabtropft« (SW, S. 32), und setzt zu einem Lamento an, das Jesus nicht im Sinne Maria Magdalenas beklagt, sondern ihn vielmehr anklagt: »Haben wir einen Wasserschaden? Schon wieder? Ein Schaden mehr, und natürlich wieder meiner, mein Leiberl ist schon ganz durchweicht. Sauerei! Diese Farbe geht außerdem nur schwer heraus. Bloß kein heißes Wasser nehmen, zuerst unbedingt kalt. Bei Blut immer kalt!« (SW, S. 32). Was der menstruierenden Frau in vielen Kulturen und Religionen angeheftet wird, nämlich unrein zu sein und somit die Ordnung zu bedrohen bzw. zu überschreiten,20 wird hier dem gekreuzigten Jesus Christus zum Vorwurf gemacht: »Können Sie mit dem blöden Herumtropfen nicht aufhören? Schauen Sie mich an, alles rot!, es geht schon bis in die Unterhose, bis auf den Boden«. (SW, S. 32) Die bestehende Ordnung wird invertiert.

In der Bakchen‐Tragödie des Euripides, die in Schnee Weiß auf unterschiedliche Weise aufgerufen wird, nimmt eine solche Verkehrung der (Geschlechter‑)Ordnung eine zentrale Rolle ein. Thebens Frauen verlassen Haus und Kinder und ziehen als Mänaden ins Gebirge, wo sie jagend all das über Bord werfen, was Frauen grundsätzlich zugesprochen wird. Sie mutieren zu »männlich« agierenden Frauen, die auf Pentheus – der wie hypnotisiert ist von der Idee, das orgiastische Treiben zu beobachten – eine ganz besondere Faszination ausüben. Pentheus möchte der Women‐only‐Veranstaltung unbedingt selbst beiwohnen. Unbeschadet könne dies aber nur inkognito gelingen, so Dionysos. Er schlägt daher vor, Pentheus als Frau zu verkleiden, und entpuppt sich dabei als ambitionierter Kostümbildner und geschickter Reproduzent genderspezifischer (Maskerade‑)Codes:

Dionysos:
Umhülle erst mit Byssoskleidern deinen Leib!
Pentheus:
Wie? Soll man mich zu Weibern zählen, mich, den Mann?!
Dionysos:
Daß sie dich nicht töten, wenn man dich als Mann dort sieht.
Pentheus:
Auch wohl gesprochen! Was bist – warst du längst schon klug!

[…]
Dionysos:
Ich kleide dich – ins Haus geh ich mit dir – dort an.
Pentheus:
In was für Tracht? In Frauen –? Nein, das weckt mir Scham.
Dionysos:
Du hast nicht Lust mehr, die Mainaden anzuschaun?!
Pentheus:
Welch eine Tracht wird, sagst du, mir nun angelegt?
Dionysos:
Ein Lockenhaar, langwallend, breit ich dir aufs Haupt.
Pentheus:
Das zweite Stück dann meiner Tracht – was wird das ein?
Dionysos:
Ein Schleppgewand, und eine Binde um den Kopf.
Pentheus:
Und fügst du mir zu dem noch etwas andres bei?
Dionysos:
Der Hand den Thyrsos, und des Hirschkalbs fleckig Fell.
Pentheus:
Nein, ich vermag’s nicht Frauenkleider anzuziehn.21

Trotz anfänglicher Skepsis lässt sich Pentheus schließlich auf die Maskerade ein. Wenn er von Dionysos in den Palast gebracht wird und somit in die Sphäre der Frau eindringt, dann manifestiert sich hier die Inversion der Geschlechterordnung auch auf räumlicher Ebene. Ähnliches können wir in Bezug auf die »zivilisierten« Frauen Thebens konstatieren, die den häuslichen oikos mit der rauen Schneelandschaft des Berg Kithairon getauscht haben, der ihnen nunmehr als Refugium für Berauschung, Lustmetzelei und Opferkult dient. Als Mänaden agieren sie außerhalb statt innerhalb der Stadt, sind nachtaktiv statt tagaktiv, jagen, anstatt zu behüten, und essen das selbst erlegte Fleisch roh, anstatt es zu kochen. Sie beschreiben mithin eine Umkehr der als sittlich geltenden sozialen Polisordnung.22 Die klassischen, auf einer Opfer‐Täter*innen‐Dichotomie basierenden Geschlechterzuschreibungen werden hier umgekehrt bzw. gestört. »Das Weibliche« ist in dieser Tragödie doppelt konnotiert und steht dem Narrativ des schwachen Geschlechts diametral gegenüber. So firmiert zwar das feminine Auftreten Pentheus’ einerseits als Zeichen seiner Niederlage, doch verkörpert dasselbe Gehabe gleichzeitig versteckte Macht (vgl. Eur. Ba. 945–956).23

Die Störung der (Geschlechter‑)Ordnung, die in den Bakchen als Motor der dramatischen Handlung fungiert, hallt in Jelineks Theatertext Schnee Weiß nach. Wenn Die Frau hier den tropfenden Mann alias Jesus dazu anhält, sie nicht mit seinem Blut zu besudeln, dann nimmt der Text dadurch eine »performative Konstruktion von Blasphemie«24 vor, die Helga Mitterbauer in Bezug auf Panizzas Liebeskonzil konstatiert und die über das groteske Verfahren der Inversion verläuft. Die Sprechinstanzen Gottvater, Jesus und Die Frau verkörpern unterschiedliche Sphären, die auf spezifische Macht‐ und Herrschaftsverhältnisse verweisen. Die Rollenbilder, die damit in Zusammenhang stehen, werden von den Textträger*innen entweder in verzerrter Manier reproduziert oder aber radikal verkehrt. Dadurch entstehen groteske Verschiebungen kulturell tradierter Geschlechterverhältnisse; es kommt zu einer Sichtbarmachung und gleichzeitig zu einer Störung bestehender gesellschaftlicher Normen und Ordnungen.

Die dramatis personae der euripideischen Bakchen‐Tragödie, die Figuren aus Oskar Panizzas skandalträchtigem Liebeskonzil und die Sprechinstanzen in Elfriede Jelineks Schnee Weiß haben eines gemein: Sie repräsentieren grundverschiedene Welten, deren Kollision miteinander den dramaturgischen und thematischen Knotenpunkt der jeweiligen Theatertexte bildet. Damit rücken aber auch jene Instanzen in den Vordergrund, die zwischen derart vermeintlich unüberbrückbaren Sphären vermitteln. In den Bakchen des Sophokles sind dies die beiden Boten, deren Aufgabe darin besteht, Theben über die am Berg Kithairon bezeugten unfassbaren Lusthandlungen der Mänaden in Kenntnis zu setzen. Sie vermitteln mithin zwischen der »kultivierten«, »zivilisierten« Ordnung der polis und der außer sich geratenen Ordnung der »wilden« Bakchen. In Panizzas Liebeskonzil sind es Engel, die zwischen unterschiedlichen Sphären, d.h. zwischen Himmel, Hölle und dem Hof des Borgiapapstes kommunizieren.

Jelineks Schnee Weiß wiederum bietet sowohl einem Engel als auch einem Boten eine Kommunikationsplattform. Beide treten als paradoxale Figurationen des Dazwischen auf, denen ausschließlich eine vermittelnde Funktion zukommt. Als Hervorbringer von Kommunikation changieren sie zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Körper und Materie und nicht zuletzt zwischen den Geschlechtern. In Schnee Weiß aber kommt ihnen darüber hinaus eine Transferleistung zu, die aus theaterästhetischer Sicht hochinteressant anmutet. Hier treten Engel und Bote nämlich zwischen der Ebene des Haupttexts und jener des sogenannten Nebentexts auf und erweisen sich als Vermittlungsagenten zwischen Text‐ und Aufführungsebene. Werfen wir einen Blick auf den Beginn des zweiten Aktes, der sich wie folgt gestaltet:

Ein Engel: Was sehen wir hier? Einen Hotelkorridor. Jesus kommt und zieht sich im Gehen mit einer Zange die Nägel aus den Handflächen. Blut tropft, auch aus seinem Herzen, das am richtigen Ort, allerdings außen, angebracht ist. Er kann drauf zeigen, das ist aber unnötig und überflüssig. (Engel flattert ab) (SW, S. 29)

Im Gegensatz zu Ein Sportstück, wo der Nebentext die Gewalt zeigt, die der Haupttext verdeckt, wird der Nebentext hier vom Engel (aus‑)gesprochen. Dadurch erübrigt sich die dramaturgische Option einer expliziten Ecce‐Szene, wie sie für die Vorführung von Gewaltopfern in der griechischen Tragödie vorgesehen war.25 Mit Walter Benjamin könnte man stattdessen von einer demiurgischen Kraft des Wortes sprechen, über die dieser Engel verfügt.26 Tatsächlich erschafft er: »An der Decke des Hotelkorridors erscheint jetzt (Es geschieht.) ein leuchtender Kopf und wandert herum. Er trägt Skihelm, Skibrille, die Skistöcke hängen von ihm herunter« (SW, S. 45). Dieser (abgetrennte) Kopf, der ex negativo die Gewalttaten der Agaue und der Salome aufruft, wird daraufhin als Sprechinstanz hörbar. Dem Wort des Engels kommt mithin eine ungemeine Performativität zu. Es bringt Situationen und Figurationen von Gewalt hervor, indem es sie in Szene setzt.

Die erschaffende Bestimmung des Engels steht gleichzeitig in einer spezifischen Verbindung mit seiner berichtenden Funktion. In dieser materialisierenden Übermittlung liegt Michel Serres zufolge das eigentliche Potenzial der Engel. In seiner Publikation Die Legende der Engel schreibt Serres: »Die Engel […] übertragen. Wenn diese Botschaften endlich verstummen, wird das Wort Fleisch. Die wirklichen Botschaften sind das menschliche Fleisch. Der Sinn ist der Körper.«27 Dieser Akt der Verkörperung, den Serres am Beispiel der Verkündigungsszene Christi exemplifiziert, korrespondiert mit dem performativen Impetus Elfriede Jelineks und mit den Forderungen, die die Autorin explizit und implizit an das Theater heranträgt. Jelineks Theatertexte verlangen nach einem (Schauspieler*innen‑)Körper, der zum Sprechkörper wird. Wir erinnern uns an ihren programmatischen Essay Sinn egal. Körper zwecklos (1997), wo es heißt: »Die Schauspieler SIND das Sprechen. Sie sprechen nicht.«28 Mit der antimimetischen Verkörperung, die Jelineks Texte beanspruchen, geht aber gleichzeitig eine paradoxe Entkörperung einher, die Serres für die Vermittlungstätigkeit von Engel und Boten hervorhebt: »Der Körper des Boten erscheint oder verschwindet. Der Vermittler tritt hinter die Botschaft zurück. Er darf sich nicht in den Vordergrund drängen oder gar blenden oder gefallen wollen, er darf nicht in Erscheinung treten.«29

Indem die Sprechinstanzen bei Jelinek zwischen einem solchen In‑Erscheinung‐Treten und Verschwinden changieren, rufen sie einen nur scheinbar banal anmutenden Grundsatz medialer Prozesse auf, den Sybille Krämer eindrücklich auf den Punkt gebracht hat. Die Philosophin hebt hervor, »dass unser Verhältnis zu uns selbst, zu den anderen und zur Welt durch eine Mittelbarkeit charakterisiert ist, die wesentlich auf Übertragungsvorgängen beruht; diese wiederum tendieren dazu, unsichtbar zu werden, so dass diese Mittelbarkeit als eine ›Unmittelbarkeit‹ in Erscheinung tritt.«30 Dieses Prinzip der (medialen) Übertragung mutiert in Schnee Weiß zum Leitmotiv. Der Theatertext fragt im interstrukturellen Rückgriff auf den antiken Botenbericht danach, auf welche Weise sich vermeintlich objektive mediale Berichterstattung über sexualisierte Gewalt konstituiert, und präsentiert Übertragungsverhältnisse dabei gleichzeitig als kulturstiftend und kulturzerstörend.

Endnoten

19 Das Liebeskonzil wurde 1895 unter Rückbezug auf den Blasphemieparagrafen §166 des Reichsstrafgesetzbuchs beschlagnamt. Im selben Jahr wurde Panizza zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt, die er absaß, bevor er in die Schweiz emigrierte.

20 Vgl. zu dieser Thematik Douglas, Mary: Purity and Danger. An Analysis of the Concepts of Pollution and Taboo. London: Routledge 1966.

21 Euripides: Die Bakchen. Übers. v. Oskar Werner. Stuttgart: Reclam 2013, S. 33 (821–835), im Folgenden zitiert mit der Sigle Eur. Ba. und der Versangabe.

22 Vgl. hierzu Zeitlin, Froma: Playing the Other: Gender and Society in Classical Greek Literature. Chicago: University of Chicago Press 1996, S. 344; Bremmer, Jan: »Transvestite Dionysos.« In: Padilla, Mark William (Hg.): Rites of Passage in Ancient Greece: Literature, Religion, Society. Lewisburg: Bucknell University Press 2003, S. 183–200, hier S. 193; Theodoridou, Natalia: »A Queer Reading of Euripides’ Bacchae.« In: Platform E‑Journal 3/1 (2008), S. 73–89, hier S. 77.

23 Vgl. Zeitlin, Froma: Playing the Other, S. 342.

24 Mitterbauer, Helga: »›Ihr Herrn, mir scheint, der Streit geht schon zu weit.‹ Performative Konstruktion von Blaspehmie am Beispiel von Oskar Panizzas Liebeskonzil.« In: Holzner, Johann/Neuhaus, Stefan (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 247–256.

25 Zur Funktion der Ecce‐Szene in der antiken Tragödie vgl. Zeppezauer, Dorothea: Bühnenmord und Botenbericht. Zur Darstellung des Schrecklichen in der griechischen Tragödie. Berlin/Boston: de Gruyter 2011, S. 178–206.

26 »[…] die Rhythmik, nach der sich die Schöpfung der Natur (nach Genesis I) vollzieht, ist: Es werde – Er machte (schuf) – Er nannte. – In einzelnen Schöpfungsakten (I,3; I,14) tritt allein das ›Es werde‹ auf. In diesem ›Es werde‹ und in dem ›Er nannte‹ am Anfang und am Ende der Akte erscheint jedesmal die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache. Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein, und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es.« (Benjamin, Walter: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen.« In: Ders.: GS II/1. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 140–157, hier S. 148.)

27 Serres, Michel: Die Legende der Engel. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1995, S. 274. Vgl. dazu auch Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Physik der Medialität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 75f.

28 Jelinek, Elfriede: »Sinn egal. Körper zwecklos.« http://elfriedejelinek.com/fsinn-eg.htm 1997 [Zugriff am 19.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zum Theater).

29 Serres, Michel: Die Legende der Engel, S. 102.

30 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Physik der Medialität, S. 103.