4.5 Wehe, sie spuren nicht! Verfahren der Gewalteinschreibung

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Die Spuren, die der Skisport der Natur sowie dem menschlichen Körper aufprägt und die sich als solche leitmotivisch durch den Theatertext Schnee Weiß schlängeln, lassen ex negativo die Weichheit einer Oberfläche zutage treten, die als Voraussetzung für das Manifestwerden eines jeden Abdrucks gilt. Bei Nietzsche ist es die Weichheit des Leibs, in die sich Praxen und Ereignisse gewaltvoll einprägen und dort erinnert werden. In seiner machttheoretischen Abhandlung Zur Genealogie der Moral, die in Schnee Weiß als intertextuelles Sediment fungiert, fragt Nietzsche danach, wie soziale Normen den Leib erreichen und ihn formen. In diesem Kontext führt er das »schlechte Gewissen« als Auslöser einer fatalen und unheimlichen »Erkrankung« an, die seinen Lauf infolge der Sozialisierung des Menschen genommen habe.53 Mit seiner Eingeschlossenheit »in den Bann der Gesellschaft und des Friedens« (ZGM, S. 76) hätten sich die Instinkte des ehemals frei schweifenden, abenteuerlustigen »Halbthier« (ZGM, S. 76) Mensch nach innen und damit gegen den Menschen selbst gerichtet. Befreit von äußeren Feinden und Widrigkeiten habe sich dieses zivilisierte Menschentier ein Gefängnis der Sitte errichtet, an dem es sich reibe, zerreiße, misshandle und wund stoße. Das schlechte Gewissen offenbart sich mit Nietzsche »als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins‐Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte« (ZGM, S. 77). In seinem Streben nach höchster Selbstquälerei habe der Mensch des schlechten Gewissens sich der Religion zugewandt, wo er seine eigenen abgelehnten »Thier‐Instinkte« (ZGM, S. 86) als Schuld gegen Gott umdeute. Als religiöses Wesen wirft er nunmehr »alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld« (ZGM, S. 86).

In Schnee Weiß haben wir es mit zwei bestimmten Gruppierungen von Tieren zu tun. Einerseits ist hier im Rückgriff auf das antike Satyrspiel von Kühen und Stieren die Rede, die grundsätzlich »in Herden auftreten« (SW, S. 6), und andererseits von Rehen und Hirschen, von geweihtragendem Wild also, das ein spezifisches Jagdvokabular auf den Plan ruft:

Ihr kluge Jäger, habt euch an die Fährte geheftet, so preiset, was?, wir haben doch gar keinen Preis gekriegt!, den holen immer die andren, keine Ahnung, was los ist, die steigen schnell auf die Ruhmesleiter die Sprossen hoch, oje, das ist aber gar nicht nett, da wird grade ein Kopf an die Wand genagelt!, wie das?, wie kommt das?, wie kommt dieser Kopf in die Zeitung?, hat er die jammervolle Last des Körpers verloren? (SW, S. 83)

In dem zitierten Abschnitt schimmert noch ein weiterer Intertext durch, den Jelinek in Schnee Weiß verarbeitet. Die Geste des Kopfabtrennens verweist auf einen transkulturell zu verortenden Brauch, dem sich die französische Psychoanalytikerin Marie Bonaparte in ihrer 1928 erschienenen Studie Über die Symbolik der Kopftrophäen gewidmet hat.54 Schnee Weiß befragt diesen Text an mehreren Stellen und zitiert ihn auch auf Ebene der Sprechinstanzen – tatsächlich tritt u.a. ein sprechender Kopf auf.

In Über die Symbolik der Kopftrophäen konsolidiert Bonaparte den Ethnologen Isidor Scheftelowitz, der sich aus religionsspezifischer Perspektive mit dem Hörnermotiv auseinandergesetzt und dabei unterschiedliche Tierformen untersucht hat, die Götter vielerorts angenommen hatten.55 Pan etwa, der ursprünglich als Bock verehrt worden war, behielt im Zuge seiner Vermenschlichung nur mehr die Hörner. Eine ähnliche Entwicklung kann anhand der griechischen Satyrn nachgezeichnet werden: Auch sie verfügten ursprünglich über die Gestalt eines Bocks, während später lediglich die Hörner an ihr tierisches Wesen erinnerten. Vor diesem Hintergrund erklärt Bonaparte die Symbolkraft des Horns und seine Werdung zur »Trophäe – von der mächtigen Gesamtheit eines anderen höheren Wesens abgelöst, dem man auf diese Weise seine Eigenschaften, seine Kraft geraubt hat, um diese nun für sich selbst zu haben.«56 Diesen spezifischen Aneignungsprozess setzt der Theatertext Schnee Weiß in Szene:

Der Kopf: (recht gemütlich und jovial, in alpenländischem Tonfall, aber nicht fallen dabei!) Wo immer die Kopftrophäen, geschrumpft oder nicht, geschändet oder nicht, als Fetisch verziert oder nicht, auftauchen, ersetzen sie sofort die phallischen Trophäen, welche nicht nur bei Skilehrern erhältlich sind, aber man muß sie sich in jedem Fall verdienen, durch Jugend und Schönheit […]. Die Skilehrer, ein paar Kilo Schnee unter sich, ein paar Kilo Haar auf sich, die meiste Zeit flüchten sie vor ihren Schülerinnen; und werden sie eingefangen, dann erkennen sie sie schon am nächsten Tag nicht mehr, da spielen sich Tragödien ab! Barmherzigkeit ist hier nicht zur erlangen, wenn die Skilehrer dermaßen begehrt sind, ich habe gehört, die Mänaden prügeln sich schon um sie, die ihnen doch was beibringen sollen, und das tun sie auch, und wenn erst die Mutter nahe ist als Unheil, ui, dann geht’s dem Opfertier schlecht! Das Kind winselt sie an, aber erst muß es sein Spielzeug wegräumen, dann wird ihm von der Mutter dafür die Schulter mitsamt dem Engelsflügel ausgerissen, kein guter Deal, die Frau bedenkt nicht, was es zu bedenken gibt, doch so kommt man zu der Kopftrophäe, man reißt die restlichen Glieder, die man dann nicht mehr benötigt, außer für den Sport, die reißt man aus, ein Gott macht den Müttern die Hände leichter und den Omas die Erde, wenn sie ihre Kinder und Enkerln abmontieren. (SW, S. 70–71)

Die Passage verquickt die psychoanalytischen Ausführungen Bonapartes zur Symbolik der Kopftrophäen mit Anspielungen auf den Sparagmos der Agaue in den Bakchen. Die Mutter, die in der euripideischen Tragödie dem Wahn verfällt und den eigenen Sohn unwissentlich in Stücke zerreißt, erscheint dabei als Handlangerin des Gottes Sport, der den menschlichen Körper opfert, ausschlachtet, missbraucht und zerstört. Im Rückgriff auf den antiken Prätext destilliert Jelinek mithin eine spezifische Ästhetik der Gewalt, die den Körper als Produkt disziplinierender Praktiken erscheinen lässt. Dieser Körper präsentiert sich als Fläche, in den sich mit Nietzsche gesprochen auch Sitten und Gepflogenheiten schmerzvoll einschreiben.

Im Unterschied zum Brauch der Kopftrophäe, dessen Wurzeln sich um den gesamten Erdkreis spannen und sich bis in die Antike zurückverfolgen lassen, sind es in der Genealogie der Moral die Sitten und Bräuche des sogenannten modernen Menschen, die hier vorgeführt und von Nietzsche als Disziplinierungspraktiken gelesen werden. Sie vollstrecken sich nicht am Körper des Tieres, sondern am Leib des Menschen, wo das Zufügen von Schmerzen Nietzsche zufolge ein spezifisches Körpergedächtnis konstruiert, das die Einhaltung sozial implementierter Normen gewährleistet. So bezeichnet Nietzsche die »Strafe als ein Gedächntissmachen« (ZGM, S. 72), spricht aber auch von der »Strafe als Fest« (ZGM, S. 72). Asketische Rituale, Kastrationsakte und Strafpraktiken des Staates unterscheidet er insofern nicht voneinander, als er darin bestimmte »Überwältigungsprozesse« vermutet, die es als solche zu benennen gelte (vgl. ZGM, S. 69). Habe man seit jeher den Zweck der Strafe darin gesehen, zu strafen, so würden sich hierin lediglich Anzeichen davon zeigen, »dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat […]« (ZGM, S. 68). Nietzsche hebt also die Gewalt von gesellschaftlich akzeptierten und tradierten Praktiken hervor, durch die das im Werden begriffene (und immer unfertige) Subjekt an eine Norm angeähnelt werden soll. Diesen Prozess, der Spuren am Leib hinterlässt, bezeichnet er als Mnemotechnik.

In Schnee Weiß ist es der bereits weiter oben beschriebene »Brauch« des Pasterns, anhand dessen Jelinek das Gewaltpotenzial von spezifischen, im Sport anzutreffenden Ritualen hervorkehrt. Der Theatertext rückt dadurch eine jahrelang unkommentiert vollzogene, tabuisierte Praktik der Erniedrigung ins Licht, die im Zuge der Enthüllungen durch die Skirennläuferin Nicola Werdenigg eine erstmalige mediale Diskursivierung und Problematisierung erfahren hat. Der Theatertext informiert uns darüber, dass bei dieser Praktik eine Tube »mit einem entschlossenen Ruck, oder wie auch immer, ich kann es mir nicht so recht vorstellen, in den Atemlosen gedrückt, dem das Atmen inzwischen ganz vergangen ist, hineingedrückt, nicht wahr, hineingeschmiert und reingestopft [wird]« (SW, S. 61, Herv. SF). Jelinek demaskiert dieses vermeintliche Initiationsritual mithin als Funktionsweise der Macht, die sich dem Leib schmerzvoll einschreibt, sich ihm einprägt, in ihn eingedrückt wird. »Schuhcreme am Genital?, die muß dort ja erst mal mühevoll hineingeschmiert werden, das muß dort an aufgebrachten Menschen angebracht werden, die Schmiere, oder?« (SW, S. 16, Herv. SF). Aus den Zeilen spricht Nietzsches Erkenntnis, dass nur das im Gedächtnis bleibt, was leiblich über Schmerzen erinnert wird. In Zur Genealogie der Moral heißt es dazu: »›Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.‹ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden« (ZGM, S. 50). Nietzsche gemahnt damit nicht nur an die Gedächtnis generierende Macht von schmerzvollen (Straf‑)Praktiken oder Ritualen. Er beschwört auch die physiologisch‐materielle Dimension des Körpers, in den sich Macht tief zu inskribieren imstande ist.

Jelineks Text, der sich naturgemäß jeder Art der Subjektkonstitution entzieht und keinerlei Figuren oder dramatis personae vorführt, präsentiert sich als eine solche Prägefläche – als Textkörper, in den Gewalt eingeschrieben und gleichsam sichtbar gemacht wird. Aber wie kann man die texttheatralen Verfahren, derer sich die Autorin in diesem Kontext bedient, beschreiben? Ist der Begriff des Posttraumatischen, den Katharina Pewny in Bezug auf Ein Sportstück vorgeschlagen hat, tatsächlich geeignet? Um dieser Frage nachzugehen, werde ich den Terminus zunächst einer kritischen Betrachtung unterziehen.

Endnoten

53 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. Stuttgart: Reclam 1988, S. 76, im Folgenden zitiert mit der Sigle ZGM.

54 Vgl. Bonaparte, Marie: Über die Symbolik der Kopftrophäen. Eine psychoanalytische Studie. Leipzig et al.: Psychoanalytischer Verlag 1928.

55 Vgl. Scheftelowitz, Isidor: »Das Hörnermotiv in den Religionen.« In: Archiv für Religionswissenschaften. Bd. XV. Leipzig: 1912, S. 451–487.

56 Bonaparte, Marie: Über die Symbolik der Kopftrophäen, S. 18 [Herv. SF].