2.1 Antigone auf der Spur

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Das neue Theaterjahrtausend setzte mit einem immensen Interesse an der sophokleischen Antigone ein. Tatsächlich ist in den letzten Jahren eine beinahe unüberschaubare Fülle an Texten und Stückentwicklungen entstanden, die von einer passionierten Auseinandersetzung mit der antiken Frauenfigur zeugen. Exemplarisch verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten Werbung um Antigone (Wassilis Ziogha, 2001), Die Antigone des Sophokles (Herbert Kreppel und Heinrich Goertz, 2001), Antigone, Rebell, Apokalypse (Peter O. Rentsch, 2001), Antigone (Daniel Friedrich, 2004), Zus van (Lot Vekeman, 2005), Antigone (Yael Ronen, 2007), Die Stunde der Antigone (Claus Hubalek, 2007), Antigonick (Anne Carson, 2012), Antigona Oriental (Volker Lösch, 2012), Six Feet Under Theben oder Antigone verlässt das Stück (Klaus Michalski, 2012), antigone (contest) (MOTUS, 2012), Antigone: a play for today’s streets (Roy Williams, 2014), Antigone (John von Düffel, 2014), Antigone (Feridun Zaimoglu und Günter Senkel, 2016), Bühne frei für Mick Levčik (René Pollesch, 2016) und Nirgends in Friede. Antigone (Darja Stocker, 2016). Einzug gefunden hat der Stoff zudem in die Populärkultur: Filme wie Splice (2009) und Stoker (2012) oder aber die US‑amerikanische, auf George R. R. Martins Romanreihe A Song of Fire and Ice basierende TV‑Serie Game of Thrones (seit 2011) arbeiten mit Motiven der Antigone.

Historisch betrachtet stellt diese Konjektur kein Novum dar. Mit Freddie Rokem kann Antigone als faszinierendstes Werk der okzidentalen Theater‐ und Denkgeschichte überhaupt begriffen werden:

There is (probably) no other literary work in the Western canon that has inspired such a complex and multifaceted tradition of stage productions, adaptions, rewritings, canonized translations, as well as philosophical, psychoanalytical, political, ethical and activist readings as Sophocles’ Antigone.4

Verändert hat sich freilich die Brille, durch die auf die antike Tragödie geblickt wird. Wenn Ulrike Vedder in ihrem Beitrag Trauma und Mythos. Antigone in der Literatur nach 1945 noch konstatiert hat, dass Antigone »im 20. Jahrhundert zu einer bevorzugten Figur für die Auseinandersetzung mit Gewalt und Macht avanciert,«5 dann offenbart sich im 21. Jahrhundert ein diesbezüglicher shift. Mit Blick auf die zahlreichen Texte, Inszenierungen und (Tanz‑)Performances, die sich dieses mythisch‐tragischen Stoffes in den letzten Jahren angenommen haben, kann nunmehr behauptet werden, dass das aufbegehrende Handeln der Heldin nicht mehr ausschließlich im Fokus des Erkenntnisinteresses steht. Augenfällig wird nun zudem eine Hinwendung zu den Konzeptionen von Verwandtschaft, die in Antigone explizit und implizit aufgerufen werden.6 Diese Tendenz spiegelt sich auch in Elfriede Jelineks Antigone‐Fortschreibung wider. Das Prinzip des Widerstands, das Luce Irigaray in der Figur der Antigone verkörpert sah,7 rückt hier in den Hintergrund. Zum Vorschein kommt vielmehr eine Ich‐Instanz, die sich nichts und niemandem konkret in die Quere stellt. Es ist keine hehre Heldin, die in Kein Licht. Epilog? spricht, sondern vielmehr eine namenlose, zum Teil polyphon hörbar werdende Stimme, die beharrlich um eine spezifische Frage kreist, die die sophokleische Antigone in sich zusammenhält: Was ist es, das uns Menschen verwandt macht?

Hegel, der die Antigone‐Rezeption bis heute nachhaltig prägt, setzt Verwandtschaft unmissverständlich mit Blutsverwandtschaft gleich. Das (weibliche) Prinzip der Blutsverwandtschaft wird seiner Auffassung nach von Antigone repräsentiert, wohingegen Kreon für die (männliche) staatliche Autorität stehe.8 Judith Butler stellt diese Lesart in ihrer im Jahr 2000 erstveröffentlichten Abhandlung Antigone’s Claim radikal infrage.9 Sie entwirft eine Perspektive auf Antigone, die den sozial kontingenten Charakter von Verwandtschaft zum Vorschein bringt, und stürzt dadurch ein von Hegel statuiertes und von da an beständig reproduziertes binäres Denken in die Krise. Dass Antigone für die normativen Prinzipien von Verwandtschaft stehen kann, ist Butler zufolge schon aufgrund von Antigones Verstricktheit »in ein inzestuöses Erbe, das ihre eigene Position innerhalb der Verwandtschaftsbeziehungen erschüttert,«10 undenkbar. In einer luziden Analyse des sophokleischen Textes demonstriert Butler, dass Antigone, die »mit ihrem Handeln andere zwingt, sie als ›männlich‹ zu sehen,«11 keineswegs grundsätzlich im Namen der Götter der Blutsverwandtschaft agiert. In diesem Kontext bezieht sich Butler auf eine konkrete Passage aus Antigone, die ich hier etwas ausgedehnt und in der Übersetzung von Kurt Steinmann wiedergebe:

Antigone 
[…]
Denn nie, wär ich von Kindern Mutter auch gewesen,
noch wär ein Gatte mir im Tod dahingeschwunden,
hätt ich den Bürgern trotzend diese Müh mir auferlegt.
Im Sinne welcher Satzung sage ich dies nun?
Stürb mir der Gatte, könnt ich einen andern finden,
bekäm von ihm ein Kind auch, hätt ich eins verloren.
Da aber Mutter mir und Vater ruhn in Hades’ Reich
         geborgen,
gibt’s keinen Bruder mehr, der je mir wüchs heran.
Doch da ich nun nach solcher Satzung dich vor allen hab
         geehrt,
fand Kreon, dass darin ich hätt gefehlt
und zu Fürchterlichem mich erkühnt, o brüderliches
         Haupt!
Und nun führt er mich weg, mit Händen so mich
         greifend,
ohne Brautbett, ohne Hochzeit, nicht der Ehe Teil
erlangend, nicht das Glück, mir Kinder großzuziehn,
nein, so verlassen von den Lieben gehe ich,
die Unglücksel’ge, lebend in der Toten Gruft.12

Die Zeilen demonstrieren, dass Antigone zwar bereit ist, für ihren Bruder gegen das Gesetz zu verstoßen, dass sie das aber nicht für eine/n andere/n Angehörige/n getan hätte. Sie zieht in Betracht, gesetzeswidrig im Namen ihres Bruders zu agieren, würde dies aber nicht für jeden Verwandten tun. Butler zufolge steht Antigone dadurch »schwerlich für die Heiligkeit der Verwandtschaftsbindung […].«13

Hegels Antigone‐Lektüre, die Butler so schlüssig dekonstruiert hat, spiegelt ein biologistisches Denken von Verwandtschaft wider. Tatsächlich aber stellt eine solche Definition global gesehen ein Spezifikum dar, wie Christina von Braun in ihrer Publikation Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte eindrücklich aufgezeigt hat.14 Der Großteil der Menschheit geht nicht davon aus, dass Verwandtschaft durch Blutsbande konstruiert wird. Vielmehr definiert sich Verwandtschaft in vielen Teilen der Welt über gemeinsame Arbeit, einen gemeinsam kultivierten Boden, über die Teilung von Nahrung und Erinnerungen oder über das gegenseitige Übernehmen von Verantwortung. Verwandtschaft lässt sich also mit Marshall Sahlins als soziales Konstrukt beschreiben, als Beziehungsgeflecht, das performativ hergestellt werden kann:

It seems fair to say that the current anthropological orthodoxy in kinship studies can be summed up in the proposition that any relationship constituted in terms of procreation, filiation, or descent can also be made post‐natally or performatively by culturally appropriate action. Whatever is construed genealogically may also be constructed socially […].15

Die verbreitetste Verwandtschaftsauffassung bezieht sich auf den Boden, den Menschen miteinander teilen, den sie gemeinsam bestellen und von dem sie sich gemeinsam ernähren. Dieses Konzept führt mitunter dazu, dass die Kinder zweier Brüder ebenso verwandt sind wie die beiden Brüder selbst – und zwar, weil sie sich alle vom selben Boden ernähren.16 Ein Beispiel hierfür liefern die Maring im Hochland von Neuguinea. Das Sozialsystem dieses indigenen Volks, so der Anthropologe Edward LiPuma, basiere auf einem grundlegenden Gegensätzlichkeitsprinzip zwischen den Beziehungen von Teilen, Tausch und Handel.17 Diese Beziehungen fungieren als wesentliche Bedingungen für die Schaffung verschiedener Formen der Verbundenheit, wobei das Teilen die elementare Intra‐Clan‐Beziehung herstellt. Offensichtlich wird dies an der gemeinsamen Nutzung von Land, Nahrung und Brautgut. Das Geschenk der Verwandtschaft liegt für die Maring im Teilen und Tauschen von Land, Schweinen, Pflanzenmaterial und Nahrung. Ähnliches können wir bei den Iban von Kalimantan, einem in Südostasien beheimateten indigenen Volk, beobachten, den der Anthropologe Clifford Sather beforscht hat. Sather zufolge fungiert der nährende Reis innerhalb dieser Gemeinschaft als »transubstantiation of the ancestors.«18 Die Stammesmitglieder haben durch die (gemeinsam konsumierte) Nahrung Anteil am Geist ihrer verstorbenen Vorfahren. Ökologische Ressourcen firmieren folglich als elementare Träger von sozialen Beziehungen und verbinden nicht nur die Lebenden untereinander, sondern auch die Lebenden mit den Toten.

Die nährende Erde ist es auch, die die Geschwister Antigone und Polyneikes implizit verbindet – und zwar über den Tod hinweg. Auf dieser Erde sind sie gemeinsam aufgewachsen, von dieser Erde haben sie gelebt und in dieser Erde will Antigone ihren toten Bruder schlussendlich begraben. Der nährende Boden spielt in Antigone eine zentrale generationenübergreifende Rolle. Vor allem aber ist er es, an dem sich der tragische Konflikt entzündet. Tatsächlich nimmt der Boden in den Ausführungen des Wächters, der Kreon über die bezeugte Schandtat in Kenntnis setzt, eine prominente Stelle ein. Wenn Kreon ihn fragt, wer denn die Freiheit besessen habe, den Leichnam des Polyneikes mit Staub zu bestreuen und »heilgen Brauch« (Soph. Ant. 247) an ihm zu üben, antwortet der Wächter folgendermaßen:

Wächter 
Ich weiß es nicht; denn da war keines Pickels Stich
und keiner Hacke Aushub; spröde war der Boden,
trocken, ohne Riss, von Rädern nicht befahren,
und keine Spur war da von irgendeinem Täter. (Soph. Ant. 249–252)

In Fukushima ist diese nährende, generationenübergreifend fungierende Erde kontaminiert. Sie offenbart sich – wie es in Kein Licht. Epilog? heißt – als »Material, das auch in der Zukunft noch töten wird können, oder, wenn Sie so wollen, sofort« (EP). Spuren von Gewalteinwirkung sind auch hier keine auszumachen – man sieht nichts, hört nichts, riecht nichts von der perfiden Verstrahlung, die die Umwelt für Generationen zur Sperrzone erklärt. Für ihre Kein Licht.‐Trilogie hat sich Elfriede Jelinek intensiv mit den Auswirkungen dieser diffusen Verseuchung auf Wasser, Boden, Mensch und Tier auseinandergesetzt. In Kein Licht. Epilog? fusionieren die Eindrücke, die die Autorin aus dem intensiven Studium der internationalen Berichterstattung rund um die atomare Katastrophe von Fukushima gewonnen hat, mit expliziten und impliziten Verweisen auf die sophokleische Antigone. Entstanden ist ein Spieltext, der das einzelne Individuum als todgeweihtes und unbetrauertes Nichts vorführt angesichts eines ungreifbaren Grauens, das als Spaltprodukt menschlicher Hybris zu entlarven ist. Kein Licht. Epilog? beschreibt eine kontaminierte (Sprech‑)Fläche, die durch ein wesentliches strukturelles Bauelement der griechisch‐antiken Tragödie zusammengehalten wird, nämlich durch das der Klage. Aufgerufen ist damit aber nicht nur eines der bedeutendsten ästhetischen Verfahren des Tragischen. Die Klage beschreibt darüber hinaus eine Kulturtechnik, an der sich die Entwicklung einer Gesellschaft ablesen lässt, in der die Geschlechter mehr und mehr auseinanderdriften. Diesen wachsenden Gendergap wiederum können wir nur nachvollziehen, indem wir den Gesten, die das Ritual der Klage konturieren, eine besondere Aufmerksamkeit schenken.

Endnoten

4 Rokem, Freddie: »The Limits of Logic: Heidegger’s and Brecht’s Interpretations of Antigone.« In: Pewny, Katharina/Gruber, Charlotte/Leenknegt, Simon/Van den Dries, Luk (Hg.): Occupy Antigone. Tradition, Transition and Transformation in Performance. Tübingen: Narr 2016, S. 13–32, hier S. 13.

5 Vedder, Ulrike: »Trauma und Mythos. Antigone in der Literatur nach 1945.« In: Kulcsár‐Szabó, Zoltán/Lörincz, Csongor (Hg.): Signaturen des Geschehens. Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz. Bielefeld: transcript 2014, S. 413–417, hier S. 413.

6 Vgl. hierzu v.a. Pewny, Katharina/Van den Dries, Luk/Gruber, Charlotte/Leenknegt, Simon (Hg.): Occupy Antigone bzw. die Arbeiten des Forschungsprojekts Antigone in/as transition an der Universität Gent und die daraus hervorgegangene Dissertation The Other Antigone[s]: Spotting the Différance in Contemporary Tragedy von Charlotte Gruber (Universität Gent, 2016).

7 Vgl. Irigaray, Luce: »Die ewige Ironie des Gemeinwesens.« In: Dies.: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Übers. v. Xenia Rajewsky, Gabriele Ricke, Gerburg Treusch‐Dieter und Regine Othmer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 266–281.

8 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten.« In: Ders.: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke in 20 Bänden. Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III. Hgg. v. Eva Moldenhauer und Karl M. Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 538–574.

9 Ich beziehe mich auf die deutschsprachige Übersetzung dieses Textes: Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Übers. v. Reiner Ansén. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013.

10 Butler, Judith: Antigones Verlangen, S. 12.

11 Ebd., S. 19.

12 Sophokles: Antigone. Übers. v. Kurt Steinmann. Stuttgart: Reclam 2013, S. 41 (905–920), im Folgenden zitiert mit der Sigle Soph. Ant. und der Versangabe.

13 Butler, Judith: Antigones Verlangen, S. 25.

14 Vgl. von Braun, Christina: Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Berlin: Aufbau Verlag 2018.

15 Sahlins, Marshall: »What Kinship Is (Part One).« In: Journal of the Royal Anthropological Institute 17/1 (2011), S. 2–19, hier S. 3.

16 Vgl. ebd., S. 3.

17 Vgl. LiPuma, Edward: The Gift of Kinship. Structure and Practice in Maring Social Organisation. Cambridge u.a.: Cambridge University Press 1988, S. 6.

18 Sather, Clifford: »The One‐Sided One. Iban Rice Myths, Agricultural Rituals and Notions of Ancestry.« In: Contributions to Southeast Asian Ethnography 10 (1993), S. 119–147, hier S. 130.