2.2 Doing Mourning Doing Difference

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Wenn Elfriede Jelinek in Kein Licht. Epilog? das strukturelle Bauelement der Klage zitiert, dann ruft sie eine kulturelle Praxis auf den Plan, von der ein durchaus subversives Potenzial ausgeht. Im antiken Griechenland stellte die Bestattung von Toten einen der wenigen Bereiche dar, in denen Frauen die tragende Rolle spielten. Nachweisen lässt sich dies bereits für die mykenische Zeit,19 gültig ist diese Beobachtung aber auch noch für das moderne Griechenland, wie Margaret Alexiou, Loring Danforth und Gail Holst‐Warhaft eindrücklich gezeigt haben.20 So waren es bereits im archaischen Griechenland weibliche Verwandte, die dafür sorgten, den Leichnam zu waschen, zu salben, in ein Tuch zu hüllen und auf ein Bett (κλίνη) zu legen. Das Vollenden dieser Tätigkeiten leitete die Aufbahrung (πρόθεσις) ein, eine mehrtägige Trauerphase, die strengen Regeln zu folgen hatte. Darstellungen auf Sepulkralkeramiken zeigen uns, dass der Vater des oder der Verstorbenen grundsätzlich vor dem Haus wartete, um die Trauergäste zu empfangen. In der Zwischenzeit versammelten sich die weiblichen Familienmitglieder rund um die Bahre, um die Totenklage (γόος) zu performen.

Wie wir von Homer wissen, kam das Aufbahrungsritual der prothesis einer Ehrenpflicht gegenüber dem bzw. der Toten (γέρας θανόντων) gleich (vgl. Homer: Ilias 23,9; Odyssee 24,190). Die anführende Klagende (Mutter oder Ehefrau) befand sich dabei am Kopfende, die anderen Trauernden positionierten sich hinter ihr. Manche Vasenbilder zeigen auf der gegenüberliegenden Seite der Bahre weitere Frauen, hinter denen gemeinhin professionelle Klagende (θρῆνοι), d.h. Frauen, die für ihre Trauerperformance bezahlt werden, vermutet werden. Männer sind auf den uns erhaltenen, die prothesis darstellenden Exponaten tendenziell unterrepräsentiert, wobei es sich bei den abgebildeten Klagenden hauptsächlich um enge Familienangehörige wie Vater, Bruder oder Sohn handelt. Eine wesentliche Rolle wiederum spielten Männer im Zuge der ekphora, d.h. der Prozession zum Grab, die oftmals auf Pferdewägen erfolgte. Diese Prozession geschah unter großem Geleit und sah – zumindest ursprünglich – Klagerituale von Frauen vor. Im Anschluss an die ekphora wurde der Leichnam begraben oder verbrannt.21 Die Zeremonie endete mit der Errichtung eines Grabmals (sḗma; stḗlē), das mitunter mit Myrtenzweigen und Bändern geschmückt wurde.22

Begräbnisse waren also Gelegenheiten, die es nicht nur Männern ermöglichten, aktiv am öffentlichen Leben teilzunehmen. Der Tod und die von der Gesellschaft hochgehaltenen Rituale rund um ihn fungierten als gate opener für die attische Frau der gehobenen Mittelschicht, die ihr Leben grundsätzlich hauptsächlich innerhalb des eigenen oikos bzw. in dessen unmittelbarer Nachbarschaft verbrachte. Sie hatte sich quasi ausschließlich den häuslichen Pflichten zu widmen und war vom öffentlichen und militärischen Leben weitgehend ausgeschlossen. Rechtsautonomie auszuüben war Frauen im antiken Athen nicht möglich, sie konnten normalerweise keine sozialen und ökonomischen Entscheidungen ohne die Aufsicht eines Vormunds treffen. Die Teilnahme an politischen Versammlungen wurde ihnen ebenso verweigert wie die Aussage im Rahmen von Gerichtsprozessen. Außerdem verfügten Frauen über keinen Bürgerstatus.23 Diese scharfe Grenze zwischen der männlich dominierten polis und jener der Frau zugewiesenen häuslichen Sphäre des oikos war im Zuge der Totenzeremonien verwischt. Ihre dominante Rolle im Totenkult verlieh der Frau eine spezifische Agency, über die sie im Alltag gemeinhin nicht verfügte.

Foto einer antiken, bauchigen Vase mit Malereien.Abbildung 3: Prothesis. Bauchamphora Athen. NM 804. Mitte 8. Jh. v. Chr. Foto: Steven Zucker. https://smarthistory.org/dipylon-amphora/ [Zugriff am 20.3.2023].

Doch wäre es falsch, zu behaupten, dass die Kulturtechnik der Klage ein weibliches Monopol darstellte. Auch Männer waren in Klagerituale involviert – sie agierten schlichtweg anders darin. In der Sepulkralkeramik zeigt sich dies bereits eindrücklich auf mehreren erhaltenen Vasen der spätgeometrischen Phase I (760–735 v. Chr.). In allen Klagedarstellungen, die wir auf Vasen dieser Stilepoche abgebildet finden, haben wir es mit zwei Gruppen von Personen zu tun, die sich ausschließlich durch ihre Gestik voneinander unterscheiden. So heben die Mitglieder der einen Gruppe beide Arme und lassen die Hände über dem Kopf zusammenkommen. Die anderen wiederum strecken nur einen Arm empor.24

Interessanterweise verzichteten die Maler dieser Epoche auf die Ausgestaltung sogenannter primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale. Der kleine Pinselstrich, der in Darstellungen des Spätgeometrisch II (735–700 v. Chr.) eingesetzt wurde, um einen Penis zu markieren, bzw. die beiden Pinselstriche auf Brusthöhe, die offenbar eine weibliche Brust andeuten sollten, fehlen hier noch. Der Vergleich mit Klagedarstellungen aus späteren Stilepochen lässt jedoch den Rückschluss zu, dass wir es bei den Figuren, die beide Arme emporrecken, mit klagenden Frauen zu tun haben, während jene, die nur einen Arm heben, als klagende Männer identifiziert werden können. So hält der Gräzist Hans van Wees fest: »Given that, in both LGI [Late Geometric I, Anm. SF] and LGII [Late Geometric II, Anm. SF], the sexes make distinct gestures of lamentation whenever we can distinguish them by dress or physical characteristics, it seems reasonable to identify men and women by these gestures even when we cannot otherwise tell the sexes apart.«25 Die Schlussfolgerung von Hans van Wees leuchtet ein, doch scheint mir hier ein anderer Umstand bei Weitem interessanter zu sein. Geschlecht wird in frühen Klagedarstellungen nicht via geschlechtsspezifischer Attribute zementiert, sondern erscheint vielmehr als rituelle, iterative Praxis. Gender offenbart sich mithin im Sinne Judith Butlers als »created through sustained social performances.«26

Schwarzweiß Foto einer antiken Vase
Abbildung 4: Prothesis. Becher Athen. 1280. 2. Viertel 7. Jh v. Chr. Inv. 1280 Kerameikos, Foto © Deutsches Archäologisches Institut Athen (D‐DAI‐ATH‐Kerameikos‑04941), Fotograf: unbekannt.

Das doing difference, das wir bereits auf den Vasenbildern des Spätgeometrischen ausmachen können, setzt sich in Klagedarstellungen der darauffolgenden Stilepochen fort. In der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. jedoch kommt es zu einem entscheidenden gestisch‐affektiven shift. Die Klagenden strecken nunmehr einen Arm aus, während sie den anderen Arm auf Ohrhöhe zur Wange führen. Die gekrümmten Finger suggerieren dabei eine Bewegung, die keinen Zweifel zulässt: Diese klagenden Frauen zerkratzen ihr Gesicht mit den eigenen Fingernägeln. Trauer wird nun mithin als hochemotionaler, menschlicher Affekt erlebbar.27

Was nun aber die Exponate dieser Zeit aus theaterwissenschaftlicher wiewohl aus genderspezifischer Sicht so interessant macht, ist die immense performative Signalwirkung, die von ihnen ausgeht. Erstmals wird Klage als eine Kulturtechnik vorgeführt, die auf explizit autoaggressiven Gesten beruht. Im Schwarzfigurigen wird ein weiteres Motiv augenfällig, das auf eine solche (selbst‑)zerstörerische Kraft der Klage verweist. Hier werden Klagende sichtbar, die sich die eigenen Haare raufen. Während diese Geste in literarischen Quellen sowohl bei Frauen als auch bei Männern beobachtet werden kann, ist sie in der Sepulkralkeramik ausschließlich bei weiblichen Figuren nachweisbar.28 Bemerkenswerterweise ist die Handlung selbst jedoch nie dargestellt. Wir haben es lediglich mit attributiven Indizien zu tun, die suggerieren, dass das Ritual unmittelbar vorher stattgefunden haben muss. Zeugnis darüber geben entweder die betont manierierte Ausgestaltung von offenem, wirrem Haar oder aber lose Haarsträhnen, die die Dargestellten in Händen halten. Auf die Gesten des Gesichtzerkratzens, des Haareraufens sowie auf jene des Schlagens auf die eigene Brust, die wir auf weißgrundigen Gefäßen abgebildet vorfinden können, ist in der Sepulkralkeramik ausschließlich für die Darstellung von Frauen zurückgegriffen worden, wie die Archäologin Claudia Merthen herausgearbeitet hat.29

Alarmierend ist nun, dass es ebendiese aggressiven Gesten sind, die der Staatsmann Solon im Zuge seiner Reform aus dem Jahr 594 v. Chr. mit einer bestimmten Gesetzgebung einzudämmen trachtete. Er schränkte die Klageperformance durch eine spezifische Restriktion der Partizipation von Frauen an Begräbnisritualen drastisch ein. Die Teilnahme an der ekphora, d.h. an der Prozession zum Grab, war nunmehr ausschließlich Frauen älter als 60 und engen Verwandten erlaubt. Diese Prozession musste jetzt außerdem frühmorgens und in absoluter Stille durchgeführt werden. Die Aufbahrung (prothesis) wiederum hatte neuerdings innerhalb des Hauses (endon) stattzufinden.30

Die Gesetze des Solon, die diese Einschränkungen vorsehen, liegen uns nicht explizit vor. Wir wissen ausschließlich von Dritten darüber, etwa von Plutarch, der in seiner Abhandlung über Solon festhält: »Bei einer Leiche sich zu zerkratzen und zu zerschlagen, förmliche Trauerlieder abzusingen, ein lautes Geheul anzustimmen bei der Bestattung von fremden Personen, – dies Alles schaffte Solon ab.«31 Hinweise über die Eindämmung der weiblichen Totenklage finden wir auch in Ciceros Abhandlung De legibus. Hier heißt es in Bezug auf die Codices, die »post aliquanto«, d.h. einige Zeit nach Solons Gesetzgebung, erlassen worden sind: »Nachdem also der Aufwand auf drei Tücher, eine kleine purpurfarbene Tunika und zehn Flötenspieler eingeschränkt worden war, beseitigte das Gesetz auch die Totenklage: ›Die Frauen sollen sich die Wangen nicht zerkratzen und keinen ›Lessus’ während der Bestattung haben.‹«32 Ins Auge sticht hier der Terminus lessus, bei dem wir es mit einem hapax legomenon zu tun haben, d.h. mit einem Begriff, der kein zweites Mal in der Literatur auftaucht.33 Seine Herkunft ist ungewiss, wie wir Plutarchs Ausführungen entnehmen können:

Die alten Ausleger Sextus Aelius und Lucius Acilius sagten, sie verständen dies nicht hinlänglich, vermuteten aber, es handle sich bei »Lessus« um irgendeine Art von Trauerkleid. Lucius Aelius meinte, »Lessus« sei so etwas wie ein Wehklagen aus Trauer, wie es auch das Wort selbst ausdrückt. Dies halte ich umso mehr für richtig, als das Gesetz des Solon genau dies verbietet.34

Lessus lässt mithin die visuelle wiewohl die akustische Dimension der weiblichen Totenklage in einem Bild, in einer Geste erscheinen. Leider aber liegen uns über das explizite Lautbild der Klage keinerlei verlässliche Quellen vor. Auch hier sind wir hauptsächlich auf Schilderungen des Verbots angewiesen, die wir bei Plutarch, aber auch in den Nomoi Platons finden. So erachtet es Platon bereits als unziemlich, »dass man den Toten beweinen solle, […], wohl aber soll es verboten sein, Totenklage und Jammergeschrei außerhalb des Hauses anzustimmen und desgleichen, dass man den Leichnam öffentlich durch die Straßen trage und beim Zuge durch die Straße Klagelaute ausstoße […].«35

Auffällig erscheint mir, dass sich alle zitierten Schreiber in ihrer Berichterstattung über die Restriktionen hinsichtlich der Begräbnisrituale auf explizite Gesten berufen. Dieser Fokus auf den affektiv‐performativen Gehalt des Klagegestus konstruiert ex negativo ein Frauenbild, das sich an Prinzipien des Chaotischen und des Unkontrollierten orientiert. Exponate der schwarzfigurigen Sepulkralkeramik spiegeln Derartiges wider.36 Die Frauen auf den uns erhaltenen Gefäßen und Steintafeln jener Periode verfügen über ein äußerst breites Gestenrepertoire, das vom Schlagen des Kopfes über das Zerren an den eigenen Haaren bis hin zu raumgreifenden Armbewegungen reicht. Dieses motorische Arsenal unterscheidet sich signifikant von dem der abgebildeten Männer: Dort fällt das Heben beider Arme grundsätzlich weg. Stattdessen strecken die maskulinen Figuren einen Arm wie zum Gruß empor, während der andere Arm gesenkt bleibt. Ein Beispiel hierfür liefert ein um 500 v. Chr. entstandener Einzelpinax des Sappho‐Malers, der ein familiäres Trauerritual rund um ein verstorbenes Kind abbildet. Diese Steintafel vermittelt eine in keiner anderen Periode der attischen Grabkunst auszumachende Atmosphäre des Chaotischen,37 die aus meiner Sicht hauptsächlich dank zweier spezifischer Kunstgriffe des Sappho‐Malers erreicht worden ist, die diesen als präzisen Beobachter performativer Prozesse erkennbar werden lassen.

Zum einen wird durch die Inschrift der Klagelaute OIMOI bzw. OIMIOI, die vor dem Gesicht der sich als Tante erweisenden Frauenfigur am Fußende der Bahre sowie vor der Figur des Vaters zu finden sind,38 die phonetische bzw. sonorische Dimension der rituellen Praxis erfahrbar. Zum anderen verleiht die ausdifferenzierte Gestaltung der Arme den trauernden Frauen eine immense Agilität. Wenngleich die abgebildeten Füße keine expliziten Rückschlüsse auf die erfolgte Bewegung im Raum erlauben, so deuten die Arme in ihrer gestischen Gesamtkomposition auf eine äußerst lebhafte rituelle Praxis hin.


Abbildung 5: Prothesis. Schwarzfiguriger Pinax des Sappho‐Malers. Louvre MNB 905. 500 v. Chr. Musée du Louvre. Foto: Jastrow.


Abbildung 6: Prothesis. Schwarzfiguriger Pinax. KHM IV 4398. 510 v. Chr. Foto: Kunsthistorisches Museum Wien.

Vor allem aber unterscheiden sich die volatilen Gesten der Frauen radikal von der statischen Performance, die wir bei den abgebildeten Männern beobachten können. Diese heben – wie für den Totenkult der damaligen Zeit typisch – lediglich einen rechten Arm. Der Gendergap, der sich aus der Differenz zwischen einer überaus bewegten Performance der Frauen und einem statisch anmutenden, uniformen Gestus der Männer ergibt, wird auch aus einem im Kunsthistorischen Museum Wien ausgestellten und hier abgebildeten Pinax ersichtlich.39

Beiden Exponaten gemein ist eine durch sie erfahrbar werdende chaoti­sche Agilität, die von Begräbnisritualen der Entstehungszeit ausgegangen sein muss. Sie geben Zeugnis ab über eine spezifische Energie, die Solon mithilfe seiner Reform aus der Sphäre der polis zu verdrängen trachtete. Tatsächlich beschreibt Plutarch Solons Gesetzgebung als eine, die »jede Unordnung und Zügellosigkeit zu verhindern suchte.«40 Worauf aber zielte diese Bestrebung ab? In der Forschung herrscht dazu nach wie vor Uneinigkeit. Archäolog*innen und Philolog*innen wie Margaret Alexiou, Robert Garland und Richard Seaford gehen davon aus, dass Begräbnisrituale gefährlich für den Staat waren, da sie Rachefeldzüge zwischen rivalisierenden aristokratischen Gruppen befördert haben mögen.41 Dem möchte ich entgegenhalten, dass Solons Gesetze nicht nur Begräbnisse von Ermordeten oder Kriegsgefallenen betroffen haben, sondern dass sich diese auf sämtliche Beerdigungen bezogen. Vielmehr gehe ich davon aus, dass Solons Einschränkung der Klagerituale auf eine grundlegende Verdrängung der Frau aus der öffentlichen Sphäre abzielte – tatsächlich betraf seine Verbannung der Frau in den oikos nicht nur deren Rolle in Begräbnisritualen, sondern auch ihre Teilnahme an Festivals sowie ihre allgemeine Bewegungs‐ und Reisefreiheit. Bei Plutarch lesen wir: »Wenn eine Frau aus der Stadt ging, so durfte sie nie mehr als drei Kleider bei sich haben; auch an Speise und Getränken durfte sie höchstens im Werthe von einem Obolus […] mitnehmen; ihre Rohrmatte durfte nicht eine Elle übersteigen; sie durfte nicht bei Nacht reisen, außer zu Wagen und unter vorausgehender Beleuchtung.«42

Bemerkenswert erscheint mir aber vor allem, dass die Reglementierung der weiblichen Klagepraxis mit einer Abwertung des sogenannten Fremden einherging. Hinweise darauf finden wir abermals in Plutarchs Solon‐Biografie, und zwar in einem Kapitel, in dem Plutarch von Epimenides berichtet, der aus Kreta nach Athen kam und Solon dazu inspiriert haben soll, seine Gesetzgebung zu überdenken:

Er [Epimenides, Anm. SF] kam also, trat mit Solon in freundschaftliche Verhältnisse und leistete ihm viele ersprießliche Dienste; ja er bahnte ihm erst den Weg zu seiner Gesetzgebung. Er machte die Athener einfach bei ihren Gottesdiensten und gemäßigter in ihren Schmerzgefühlen, indem er mit den Trauergebräuchen sogleich auch einige Opfer verband und das Rohe, Barbarische entfernte, dem sich früher das weibliche Geschlecht fast durchgängig hingegeben hatte.43

Den Konnex zwischen vermeintlich Weiblichem und dem sogenannten Barbarischen, der hier zutage tritt, finden wir auch in der Orestie des Aischylos, und zwar in einer Schlüsselpassage der Choephoren, in welcher der Chor laut Regieanweisung die klassischen Trauergebärden klagender Frauen vollzieht und dieses Vorgehen autodeskriptiv kommentiert. Johann Gustav Droysen übersetzt diese Zeilen wie folgt: »Ich schlug mich trauernd arischen Schlags, nach kissischer/Wehklageweiber Rasewut.«44 Trauer wird hier also zum einen als »weiblich« abgewertet und zum anderen mit dem sogenannten Anderen konnotiert. Das kommt einem Paradigmenwechsel gleich, der eine spezifische Verschiebung der Wertung von Affekten markiert. Noch bei Homer weinten männliche Helden oft, viel und vor allem hemmungslos. Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefern die affektiven Reaktionen von Achill und Antilochos auf den berichteten Verlust des Patroklos in der Ilias. Die im Folgenden zitierte Passage aus dem Achtzehnten Gesang des Epos setzt mit der Todesnachricht ein:

Sohn des feurigen Peleus, ach, nun mußt du die schwerste
Traurige Botschaft erfahren – oh wär’ es nie doch geschehen! –
Patroklos liegt nun tot, und sie kämpfen bereits um den Leichnam,
Nackt wie er ist, denn die Waffen besitzt der geschmeidige Hektor.
Sprach’s, und jenen umfing die finstere Wolke der Trauer.
Gleich mit den beiden Händen den Staub, den geschwärzten, ergreifend
Überstreut’ er den Kopf und entstellte sein liebliches Antlitz,
Asche haftete rings am nektarduftenden Kleide.
Selbst aber lag er groß, lang niedergestreckt in dem Staube,
Raufte sein Haar und beschmutzt’ es zugleich mit den eigenen Händen.
Sklavinnen aber, erbeutet von Patroklos einst und Achilleus,
Jammerten laut vor Kummer des Herzens; hervor aus der Türe
Liefen sie her, den tapfren Achilleus umringend, und alle
Schlugen die Brust mit den Händen, und jeglicher wankten die Kniee.
Drüben jammerte auch Antilochos; tränen vergießend
Hielt er Achilleus’ Hände – der stöhnte im adligen Herzen –,
Fürchtend, es könnte sich dieser den Hals mit dem Eisen durchschneiden.
Schrecklich klagt’ er sein Leid; es hörte die herrliche Mutter,
Die bei dem greisen Vater saß in der Tiefe des Meeres.45

Im Gegensatz dazu strebt der Held der Tragödien danach, solche Gefühlsausbrüche zu unterdrücken bzw. zu verbergen. Herakles etwa wird (sowohl in der sophokleischen als auch in der euripideischen Darstellung) nicht müde zu betonen, dass er nie zuvor eine Träne vergossen habe. Gleichzeitig aber bezeichnet er dieses Verhalten als »weiblich«, was nunmehr einer eindeutigen Diskreditierung gleichkommt. So heißt es in den Trachinierinnen des Sophokles:

So geh, mein Kind, und fasse Mut! Erbarm dich mein,
der vielen leidtut, der wie eine Jungfrau laut
aufschluchzt im Weinen, und nicht einer dürfte wohl,
je sagen, daß der Mann hier sonst sich so verhielt.
Nein, klaglos immer beugt’ ich allen Übeln mich.
Statt eines solchen sieht man heut ein elend Weib!46

Die Trauergebärde erscheint nunmehr gekoppelt an ein explizit effeminiertes, mit Schwäche und Willfährigkeit konnotiertes Verhalten, das es zu vermeiden bzw. zu verbergen gilt. Dadurch entsteht ein Gefälle zwischen dem Idealtyp des gefestigten, (Tränen) kontrollierenden männlichen Helden und der ausufernden, unkontrollierten, klagenden Frau.

Endnoten

19 Tatsächlich handelt es sich bei der ersten erhaltenen menschlichen Figur aus der postmykenischen Phase um die Zeichnung einer klagenden Frau (vgl. Coldstream, John Nicholas: Greek Geometric Pottery. A Survey of Ten Local Styles and Their Chronology. London: Methuen 1968).

20 Vgl. dazu v.a. Alexiou, Margaret: The Ritual Lament in Greek Tradition. Cambridge: Cambridge University Press 1974; Danforth, Loring: The Death Rituals of Rural Greece. Princeton: Princeton University Press 1982; Holst‐Warhaft, Gail: Dangerous Voices: Women’s Lament and Greek Literature. New York/London: Routledge 1995.

21 Vgl. Sourvinou‐Inwood, Christiane: »Reading« Greek Death to the End of the Classical Period. Oxford: Clarendon Press 1995, S. 96.

22 Ausführlich zu griechischen Begräbnisritualen siehe v.a. Kurtz, Donna C./Boardman, John: Greek Burial Costums. London: Thames and Hudson 1971.

23 Die Bürgerschaft von Frauen wurde nicht politisch, sondern religiös vollzogen. Tatsächlich hatten viele Priesterinnen Bürgerstatus, was ihnen den Zutritt zu ausgewählten Kultveranstaltungen ermöglichte. Vgl. dazu Turner, Judy Ann: Hiereiai: Acquisitions of Feminine Priesthoods in Ancient Greece. Ph.D. Diss. University of California, Santa Barbara 1983.

24 Vgl. Ahlberg, Gudrun: Prothesis and Ekphora in Greek Geometric Art. Figures. Göteborg: Paul Aströms 1971.

25 Van Wees, Hans: »A Brief History of Tears: Gender Differentiation in Archaic Greece.« In: Foxhall, Lin/Salmon, John (Hg.): When Men Were Men. Masculinity, Power and Identity in Classical Antiquity. London/New York: Routledge 1998, S. 10–53, hier S. 20.

26 Butler, Judith: »Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory.« In: Theatre Journal 40/4 (1988), S. 519–531, hier S. 528.

27 Vgl. Kurtz, Donna C.: »Vases for the Dead, an Attic Selection.« In: Brijder, H. (Hg.): Ancient Greek and Related Pottery. Amsterdam: Allard Pierson Museum 1984, S. 314–328, hier S. 327. Ähnliche Hinweise finden wir auf Terracotta‐Figuren aus Rhodos und Thera (vgl. Higgins, Reynold Alleyne: Greek Terracottos. London: Methuen 1967, S. 29).

28 Vgl. Merthen, Claudia: Beobachtungen zur Ikonographie von Klage und Trauer. Griechische Sepulkralkeramik vom 8. bis 5. Jahrhundert v. Chr. Diss. Universität Würzburg 2004, S. 12–13.

29 Vgl. ebd., S. 369.

30 Vgl. Garland, Robert: The Greek Way of Death. London: Bristol Classical Press 2001, S. 27.

31 Plutarch: Plutarchs ausgewählte Biographien: Solon. Übers. v. Eduard Eyth. Stuttgart: Hoffmann 1857, S. 59–106, hier S. 89 (21.4).

32 Cicero, Marcus Tullius: De Legibus/Über die Gesetze: Paradoxa Stoicorum/Stoische Paradoxien. Lateinisch – Deutsch. Hgg. u. übers. v. Rainer Nickel. Berlin: Akademie Verlag 2011, S. 137 (De Legibus II, 23.59-60).

33 Zum Sonderstatus dieses Begriffs vgl. Fögen, Marie Theres: Das Lied vom Gesetz. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2007, S. 62–66.

34 Cicero, Marcus Tullius: De Legibus, S. 137–139 (De Legibus II, 59).

35 Platon: Nomoi (De Legibus). Die Gesetze. Erstes Buch. Übers. v. Franz Suse­mihl (Stuttgart 1862–63). https://www.opera-platonis.de/Nomoi.pdf [Zugriff am 8.12.2019], 947b–d.

36 In der Überlieferung der schwarzfigurigen Sepulkralkunst entsteht zwischen 580 und 550 bzw. 540/30 v. Chr. eine Lücke, wie Claudia Merthen festgestellt hat. »Da die Beispiele aus der Zeit zwischen 630 und 590/580 insgesamt jedoch nur sehr wenige sind, läßt sich keine Verbindung zu den Regelungen, mit denen Solon den Grabkult regelte, herstellen.« (Merthen, Claudia: Beobachtungen zur Ikonographie von Klage und Trauer, S. 241.)

37 Eine solche Atmosphäre ist auch auf anderen Plaketten der damaligen Zeit dargestellt, vgl. dazu Shapiro, Harvey Alan: »The Iconography of Mourning in Athenian Art.« In: American Journal of Mourning 95/4 (1991), S. 629–656, hier S. 639. Ähnlich belebte Darstellungen des alltäglichen Lebens finden wir in erotischen Darstellungen der spätarchaischen Vasenmalerei, vgl. dazu ebd., S. 639.

38 Zu den Inschriften, die auch Rückschlüsse über die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Dargestellten erlauben, sowie zu einem For­schungs­über­blick zum Pinax vgl. Merthen, Claudia: Beobachtungen zur Iko­no­graphie von Klage und Trauer, S. 419.

39 Der Pinax ist auch aus einem anderen Grund von ikonografischer Bedeutung. Es handelt sich dabei um das einzige erhaltene schwarzfigurige Exponat, auf dem ein klagender Mann nicht nur einen, sondern beide Arme hebt und mit der linken Hand seine Stirn berührt.Vgl. Merthen, Claudia: Beobachtungen zur Ikonographie von Klage und Trauer, S. 208.

40 Plutarch: Plutarchs ausgewählte Biographien: Solon, S. 89 (21.4).

41 Vgl. Alexiou, Margaret: The Ritual Lament in Greek Tradition, S. 21–22; Garland, Robert: »The Well‐Ordered Corpse. An Investigation into the Motives behind Greek Funerary Legislation.« In: Bulletin of the Institute of Classical Studies 36 (1989), S. 1–15, hier S. 4; Seaford, Richard: Reciprocity and Ritual: Homer and Tragedy in the Developing City‐State. Oxford: Clarendon Press 1994, Kapitel 3.

42 Plutarch: Plutarchs ausgewählte Biographien: Solon, S. 89 (21.4).

43 Ebd., S. 75, Herv. SF.

44 Aischylos: »Choephoren.« In: Ders.: Die Tragödien. Übers. v. Johann Gustav Droysen. Durchgesehen v. Walter Nestle. Neu hgg. v. Bernhard Zimmermann. Stuttgart: Kröner 2016, S. 207–253, hier S. 228 (423–424).

45 Homer: Ilias. Übers. v. Hans Rupé. Berlin: Akademie Verlag 2013, S. 623–625 (XVIII, 18–35).

46 Sophokles: »Die Trachinierinnen.« In: Ders.: Dramen. Übers.u. hgg. v. Wilhelm Willige. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2007, S. 97–178, hier S. 165 (1070–75).