2.3 Das Nachleben der Klage

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen lässt sich die Regieanweisung, die Kein Licht. Epilog? eröffnet, als Referenz auf einen genderspezifischen Backlash lesen, der anhand der Geste der Klage sichtbar wird. Der Satz Eine Trauernde. Sie kann machen, was sie will erinnert an das ursprünglich subversive Potenzial der weiblichen Totenklage und gemahnt ex negativo an die Einschränkungen, die diese Geste – und mit ihr die Agency der Frau – im Laufe der Zeit erfahren hat. Welche Rolle nun aber spielt diese politisch so relevante Kulturtechnik in Sophokles’ Antigone, die Jelinek intertextuell aufruft?

Aischylos, Sophokles und Euripides lebten und arbeiteten zu einer Zeit, in der Solons Gesetze längst ihre Wirkmacht entfaltet haben mussten. Umso interessanter ist es, dass die nunmehr geltende kulturelle Norm, die das Begräbnis als Sache das Mannes vorsieht, von drei Protagonistinnen der antiken Tragödie radikal herausgefordert wird: Klytaimnestra (Aischylos, Orestie), Medea (Euripides, Medea) und Antigone (Sophokles, Antigone) übernehmen die Verantwortung für und die Kontrolle über die Performance des Begräbnisrituals. Wenngleich sie dadurch entgegen der im klassischen Athen geltenden Norm handeln, entspricht dieser Impuls doch einer heiligen, allgemeingültigen Pflicht. Die Bestattung der Toten gilt nicht nur im antiken Griechenland, sondern in sämtlichen Kulturen als Obliegenheit, die durch religiöse und zum Teil staatliche Vorschriften gefordert bzw. reglementiert wird. Das hat auf der einen Seite mit der Notwendigkeit zu tun, die Leichen außerhalb des Wohngebiets zu entsorgen. Andererseits stellen Bestattungsrituale kathartische Akte dar, die es den Hinterbliebenen erleichtern, mit Trennungsschmerz und Trauer, aber auch mit der Furcht vor der Macht des Toten umzugehen und sich als verletzte Gemeinschaft der Überlebenden wiederherzustellen. Tote werden grundsätzlich nicht der Natur überlassen, sondern im Zuge ritueller Praktiken kulturell angeeignet. Solche Rituale sind auch deshalb so wichtig, weil vielerorts angenommen wird, dass unbestattete Körper nicht zur Ruhe kommen können. Der Ethnologe Arnold van Gennep hat eindrücklich gezeigt, dass die transitorische Zeitspanne, während der das Individuum weder als vollends tot noch als lebendig erachtet wird, in vielen Kulturen die am feierlichsten ausgearbeitete Phase darstellt.47 Auch im antiken Griechenland ging man davon aus, dass es eine strikte Trennung von Toten und Lebenden benötige. Erst die Überführung der Toten, so die Annahme, würde sowohl deren posthumane Existenz als auch das Bestehen der überlebenden Gemeinschaft garantieren. Die Seelen von Unbestatteten, so glaubte man im Gegenzug, seien dazu verurteilt, zwischen Diesseits und Unterwelt zu wandern.48 Daraus leitete sich eine unumstößliche Bestattungspflicht ab, die vor allem den Verwandten oblag.

Die Leiche, die von Antigone begraben werden will, ist jene ihres Bruders Polyneikes, der von seinem Bruder Eteokles im Kampf um die Kontrolle über Theben getötet worden war. Während Eteokles’ Leichnam vom Schlachtfeld entfernt und begraben wurde (Soph. Ant. 23–25), soll Polyneikes’ Leichnam unbestattet und unbeweint zurückgelassen werden (Soph. Ant. 26–28). Als Urheber dieses Verdikts wird Kreon, der neue König von Theben, genannt (Soph. Ant. 31–32). Das Verbot demonstriert Kreons Autorität als siegreicher General, die es ihm ermöglicht, die Bestattung der Toten auf dem Schlachtfeld gemäß den anerkannten militärischen Praktiken zu gewähren oder aber auch zu verweigern.49 Kreons Verweigerung der Bestattung Polyneikes’ ist aus der Perspektive der üblichen griechischen Bestattungspraxis gültig, aber seine Entscheidung, den Leichnam innerhalb der Grenzen der Region unbestattet zu lassen, ist es nicht. Als weibliche Verwandte der toten Brüder sind Antigone und Ismene direkt von dem Dekret betroffen. Es wird ihnen untersagt, die Bestattungsriten für Polyneikes einzuleiten. Aus religiöser Sicht freilich kommt ihnen sehr wohl die Pflicht zu, den Bruder zu begraben. Die aus diesem Zwiespalt aufgerufene Aporie bildet den Kern der sophokleischen Antigone.

Nachdem Antigone beschlossen hat, Kreons Dekret zu ignorieren, geht es zunächst darum, die Leiche des Bruders vom Schlachtfeld zu entfernen. Hierfür ist sie auf die Hilfe ihrer Schwester Ismene angewiesen. Ismene verweigert sich Antigone jedoch mit der Begründung, dass eine solche Aktion gegen das Gesetz verstoße und dass es nicht in der Natur der Frauen liege, gegen Männer zu kämpfen (Soph. Ant. 58–62). Ohne Ismenes Hilfe ist Antigone nicht in der Lage, den Leichnam zu bewegen und nach Hause zu bringen, um die nötigen Riten durchzuführen. Was ihr bleibt, ist, eine begrenzte Anzahl von Bestattungsvorgängen für ihren Bruder während zweier Besuche bei seinem Leichnam durchzuführen: den Leichnam mit Staub zu bestreuen (Soph. Ant. 245–47, 255–56, 429) und ihn mit (Weih‑)Wasser zu besprengen (Soph. Ant. 430–31).

Antigones Bestattungsversuch wird nicht auf der Bühne vollzogen. Wir erfahren darüber – und das gilt grundsätzlich für die Darstellung von Begräbnisritualen in der griechischen Tragödie – ausschließlich über Dritte, d.h. in Form von Mauerschau oder Bericht. Das Bestattungsritual der Antigone wird vom Wächter geschildert, der sich gemeinsam mit seinen Kollegen auf einem Hügel in der Nähe des Leichnams verschanzt hat – »den Wind/im Rücken,/dass wir vermieden, dass der Moderduft von ihm uns traf« (Soph. Ant. 411–13) –, um den Täter auf frischer Tat zu ertappen. Den Schilderungen des Wächters zufolge war es eine lange, anstrengende Nacht. Die Männer mussten sich immer wieder schimpfend gegenseitig an ihre Pflicht erinnern, um dem verlockenden Schlaf zu entsagen. Dieser Dämmerzustand wurde zu Sonnenaufgang radikal unterbrochen. Plötzlich, so der Wächter, sei ein unbeschreiblicher Wirbelsturm aufgekommen, »ein Ungemach des Himmels« (Soph. Ant. 418–19), der die Sicht für einige Momente behindert habe.

Wächter 

[…]
Und als sich dies verzogen hatte, lang darnach,
sieht man das Mädchen, und es stößt den schrillen Klagelaut
des Vogels aus, der bitter trauert, wenn des leeren Nestes
         Lager
Verwaist er von den Jungen sieht. Und so auch sie,
da sie entblößt den Toten nun erblickt,
brach aus in lautes Wehgeschrei und fluchte böse Flüche
auf die herab, die diese Tat getan.
Und mit den Händen bringt sie trocknen Staub sogleich
und hoch aus erzgetriebnem Krug
besprengt sie rings den Toten mit dreifachem Guss.
Wir sahen’s, stürzten los und fingen sie
im Nu, die keineswegs erschrocken war, und hielten ihr
die frühre Tat wie die grad jetzt verübte vor; (Soph. Ant. 429–34)

Dieses archaische, von Antigone ansatzweise vollzogene Begräbnisritual erfährt in Kein Licht. Epilog? ein apokalyptisch anmutendes Nachleben. Jelineks Theatertext lässt eine nicht näher bestimmte Ich‐Instanz auftreten, die sich dem impliziten Verdikt widersetzt, das Unausgesprochene auszusprechen, und stattdessen zur (An‑)Klage ansetzt: »Ich schreie auf, ich klage, doch das Unsichtbare ist stärker. Das Unhörbare am stärksten. Eine unsichtbare Gefahr, geschrien von einer Unhörbaren.« (EP) Liegt die Widerstandsleistung der Antigone darin, ihren Bruder gegen den Willen von Kreon zu begraben, so geht es der Klagenden in Kein Licht. Epilog? darum, das an die Oberfläche zu bringen, was von Politik und Medien in der Folge der Nuklearkatastrophe von Fukushima unter den Teppich gekehrt worden ist. »Nicht einmal Zweige da, die Toten abzudecken oder einzuwickeln, aber uns wickelt man ein mit Gerüchten, Lügen, Beschwichtigungen.« (EP) Tatsächlich war es in Fukushima nach der atomaren Katastrophe nicht mehr möglich, die Toten traditionsgemäß zu bestatten, d.h. zu verbrennen – und zwar, weil die Krematorien nicht mehr über genügend Brennstoff verfügten.50 Viele Leichen wurden, da es an Särgen fehlte, lediglich in Tücher gehüllt und in Massengräbern beigesetzt. Andere wiederum waren gar nicht erst auffindbar. »Da liegen die armen Leichname, Tausende, Zehntausende, ich kannte persönlich etliche von ihnen. Das Wasser hat uns in vielen Fällen das Begraben abgenommen, es ruht jetzt tonnenschwer auf seiner Beute, ernährt sich von den Toten […].« (EP) Das Wasser, das in der Antigone als heiliges Element firmiert, dem in der Durchführung des Bestattungsrituals eine elementare Rolle zukommt, erscheint in Jelineks Fortschreibung ambivalent. Es figuriert hier als gottähnliche, janusköpfige Entität, deren Wirkmacht einerseits eine vernichtende, katastropheninduzierende ist und andererseits eine lebensspendende bzw. lebensrettende. Tatsächlich bewirkt Jelineks ästhetisches Verfahren eine spezifische Metamorphose. Der Bestattungsritus der Antigone verwandelt sich dabei in einen gespenstischen Geburtsritus:

Das Becken ist gefährlich, weil leer, einem normalen Becken macht das nichts, wenn es kein Kind trägt oder sonstwas, aber dieses Becken trägt gefährliche Last, da muß Wasser drauf, unbedingt und sofort! Wasser her! Wirds bald! Wasser marschiert! Und daß wir selbst entfliehn den Übeln, dafür haben wir keine Zeit, erst muß Wasser her, dann Erde, dreimal verstreut für uns, die Toten, dann untergepflügt, abgetragen und untergepflügt, dann Wasser, nein, zuerst das Wasser, viel früher das Wasser, das ist dringender, eilig das Wasser her fürs Becken, dort drinnen siedet was, der Kern der Menschheit, der sofort gekühlt werden muß, weil die ihren guten Kern sonst nicht mehr erkennt, wenn sie ihn sieht, er wäre geschmolzen, zur Unkenntlichkeit zusammengeschmolzen, die Menschheit würde vor ihm fliehen!, und dann würde er uns alle umbringen, dieser gute Kern, der kein Guter ist, doch das wüßten wir erst später, aber sterben würden wir, und zwar sofort, sterben würden wir gleich, den Kern können wir später auch noch ausspucken, herauswürgen, er würde uns alle sofort umbringen, der Kern, wir anderen, das ist es, was er will, aber auch der wird wohl noch warten können! (EP, Herv. SF)

Das Zitat arbeitet mit zwei Begriffen, die jeweils in ihrer denotativen und in ihrer konnotativen, d.h. metaphorischen, Bedeutung erscheinen. Der Begriff des »Beckens« erscheint zunächst metonymisch, als Pars pro Toto, für die gebärende Frau und ist dadurch geknüpft an Konzepte der Lebendigkeit und der Fertilität. Gleichzeitig ruft der Terminus die im Kontext von Fukushima zu Chiffren der Katastrophe avancierten Abklingbecken auf, in denen die radioaktiven Brennelemente von Kernreaktoren zum Auskühlen gebracht werden. Der »Kern der Menschheit« erscheint mithin als euphemistische Umschreibung des Atomkerns (von Uran‐ oder Plutonium‐Isotopen), der im Rahmen von atomarer Energiegewinnung gespalten wird. Wird ein Kernkraftreaktor abgeschaltet, so produziert der fortlaufende Zerfall von solchen Spaltprodukten eine gewisse Nachwärme, die, wie es im Theatertext heißt, »sofort gekühlt werden muß […]« (EP). Passiert dies nicht, kommt es zur Kernschmelze. Gleichzeitig verweist der Kern in seiner denotativen Bedeutung ähnlich wie das weibliche Becken auf Vitalität und Fortpflanzung, gemahnt hier aber in seiner Abhängigkeit von den Verben »ausspucken« und »herauswürgen« in aporetischer Manier an den Tod – »er würde uns alle sofort umbringen, der Kern […]« (EP).

Aber welche dramaturgischen Verfahren sind es, die Jelinek im Fortschreiben der Antigone anwendet? Ein sorgfältiges Close Reading demonstriert, dass sich die Autorin in Kein Licht. Epilog? nicht nur intertextuell auf die Tragödie des Sophokles bzw. auf eine bestimmte Übersetzung dieses Textes bezieht. Es sind auch strukturelle Bauelemente der Tragödie, die der Text aufgreift, um das zum Sprechen zu bringen, was im Schatten der Katastrophe unausgesprochen geblieben ist. Kein Licht. Epilog? rekurriert auf unterschiedliche threnetische Motive, Vergleiche und Formeln, die von den antiken Tragikern eingesetzt worden sind, um der Klage ihrer Figuren Ausdruck zu verleihen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Beginn des Jelinek’schen Textes: »Kein Wort der Wahrheit haben sie ungesagt gelassen, sagen die, die es nicht gesehen haben können. Als Augenzeugin sage ich: Jedes Wort der Wahrheit ungesagt geblieben«. (EP) Die auftretende Ich‐Instanz gibt sich als Augenzeugin zu erkennen. Dadurch zitiert der Theatertext den Ecce‐Ruf, mit dem die sophokleische Antigone die Bühne betritt und den Chor der Bürger Thebens über das nahende Unglück unterrichtet. Jelinek bedient sich mithin eines dramaturgischen Stilmittels, das in der Tragödie grundsätzlich eine spezifische deiktische Funktion erfüllt. Die Ecce‐Motivik ermöglicht es, Leid aus der (außerszenischen) Ferne in die Nähe (des Publikums) zu rücken. Von den Tragikern wird sie mitunter aber auch eingesetzt, um die Visionen Leidtragender zu introduzieren. In Kein Licht. Epilog? werden beide Funktionen erfahrbar. Jelinek setzt dieses threnetische Bauelement ein, um die Fragen von Zeug*innenschaft und Wahrheit, die der atomare Unfall von Fukushima aufgeworfen hat, ins Hier und Jetzt des Theaterraums zu holen. Gleichzeitig wird die bereits eingetretene Katastrophe als Vision in die Ferne gerückt. So heißt es im Rückgriff auf das von Antigone beklagte Schicksal der Labdakiden:

Unser Schicksal gehört keinem anderen als uns, aber dieses Wasser im Becken, ja, das mit den klingenden Stäben, die abgebrannt sind wie viele Menschen, aber noch hochaktiv, nach schrecklicher Erhitzung brennend, nahe der Stadt mit uns als dem scheinbar unversehrten Schlachtgut, das Wasser wird für unser Schicksal sorgen. Wir werden es nicht in der Hand haben. (EP)

Die Rede dieser chorischen Figuration weist in ihrem warnenden Gestus nach vorn in die Zukunft und gleichzeitig zurück in die Vergangenheit: »Es wird geschehen sein, weil es geschehen ist, aber es wird nicht nachweisbar sein«. (EP) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prallen in Kein Licht. Epilog? in den sich kreuzenden Gesten des Berichts und der Warnung aufeinander. In der Antigone zeigt sich diese Durchkreuzung anhand des Teiresias, der – nachdem Kreon Antigone in das Felsengrab abführen hat lassen – zum König eilt und ihm warnend von den drei (Unglücks‑)Zeichen berichtet (vgl. Soph. Ant. 988–1114).

Der Philologe Markus Schauer hat darauf hingewiesen, dass die Ecce‐Motivik in ihrer deiktischen Funktion eine affizierend‐fusionierende Wirkung hat. Sie »vereint gleichsam Publikum und Bühnenfigur, da sozusagen beide dazu veranlaßt werden, sich dem Anblick des Leids zu stellen – der Zuschauer wird auf diese Weise stärker in die Bühnensituation integriert.«51 So fungiert die unmittelbare Konfrontation der Bühnenfigur mit dem Anblick von Leid als Anlass für den Klagegesang, wirkt aber auch als kathartischer Katalysator beim Publikum. Der Anblick der Leichen schließlich ist es, der den Kommos – und somit auch den Höhepunkt der Tragödie – einleitet (vgl. Soph. Ant. 778–836). In Jelineks Klagegesang Kein Licht. Epilog? aber werden keine Leichen sichtbar. Hier ist nicht einmal klar, wer zu den Lebenden und wer zu den Toten gezählt werden kann. Dient das Ecce in der antiken Tragödie dazu, das ganze Ausmaß der Katastrophe zu zeigen, so ist dieses Ausmaß angesichts des Super‐GAUs von Fukushima schlichtweg nicht absehbar. Das Ecce erweist sich hier als pervertiert:

Begraben sah ich da eine die Toten, aber jetzt sehe ich nichts mehr. Ich sehe keine sich bücken, ich sehe keine Vögel trauern, ich sehe von keinem warmen Sturm den Wirbel, ich sehe keine Himmlischen, die unsretwegen betrübt wären. Ich sehe Gemüse, das ich nicht essen darf. Ich sehe Obst, vor dem ich die Augen verschließen muß. Ich sehe Fleisch, das ich wegschmeißen muß, obwohl ich nicht recht einsehe, warum, denn man sieht ihm nichts an. Ich glaube, man sieht aber auch das Gute nicht mehr. Dort trauere ich, allein. (EP, Herv. SF)

Die Motiviken des Ecce und des aspectus, die in der griechischen Tragödie der Artikulation der Enthüllung und der Aufdeckung entsprechen, erscheinen in Jelineks Antigone‐Fortschreibung invertiert. Der Text beschreibt Prozesse der Kontamination, deren Auswirkungen weder sichtbar noch begreifbar sind. Leichen traditionsgemäß zu bestatten, ist unter den geschilderten Umständen nicht mehr möglich. Das kollektiv performte Ritual der Totenklage degeneriert – wie auch in der sophokleischen Tragödie – zu einer leeren, solipsistischen Geste.

In der zitierten Passage können wir zwei Vergleiche verifizieren, die für tragische Klagedarstellungen typisch sind. Zum einen lebt hier das avis‐Motiv nach, das in der Antigone im Bericht jenes Boten zutage tritt, der davon erzählt, wie Antigone – nachdem »ein Sturmwind einen Wirbel Staubs« (Soph. Ant. 418) vom Boden gehoben hat – ihren Bruder beklagt: »Und als sich dies verzogen hatte, lang darnach,/sieht man das Mädchen, und es stößt den schrillen Klagelaut des Vogels aus […]« (Soph. Ant. 423–24). Zum anderen alludiert die Autorin hier das solitudo‐Motiv, das abgesehen von den Persern des Aischylos (Aisch. Pers. 1036) nur in der Antigone des Sophokles zutage tritt und dort eine wesentliche Rolle einnimmt. Antigone muss – von den Ihren unbeweint – alleine in den Tod gehen:

Antigone

[…]
O Stadt, o ihr, der Stadt
reichbegüterte Männer!
Io! Ihr Quellen der Dirke
und Thebens wagenberühmter heiliger Grund –
gleichwohl nehme zu Zeugen ich euch,
wie von den Meinen unbeweint – nach was für Gesetzen! –
zum gewölbten Kerker ich gehe
eines unerhörten Grabes!
Io, ich Arme, nicht unter Sterblichen,
nicht unter Toten
heimisch, weder bei Lebenden noch bei Gestorbnen. (Soph. Ant. 842–52)

Das von Antigone beweinte Schicksal einer lebenden Toten steht im Mittelpunkt der Klage, die Jelineks Kein Licht. Epilog? erhebt. Die Ansprache der hier Auftretenden ruft zur Zeug*innenschaft einer Katastrophe auf, angesichts derer Abertausende in und rund um Fukushima zu Toten auf Abruf mutiert sind: »[…] viele von ihnen liegen auch schon da wie unsere Toten, wie diejenigen, die gleich gestorben sind, die andren werden später sterben, es kann Jahre dauern, bitte gedulden Sie sich, jeder kommt dran […]« (EP). Der Text zeichnet mithin eine Welt, in der die Toten die Lebenden überwiegen. Interessanterweise gelangt Hartmut Böhme in Bezug auf die sophokleische Antigone zu einer ähnlichen Beobachtung, wenn er feststellt: »Zuwenig hat man bemerkt, daß über das leibliche Auftreten der Spielfiguren hinaus – Kreon, Haimon, Antigone, Ismene, Eurydike und der ›komödiantischen‹ Wächter – es eine große Anzahl virtueller Anwesenheiten gibt, bei welchen in Wahrheit das Schwergewicht der Handlung liegt.«52 Tatsächlich sind mit Antigones totem Bruder Polyneikes, ihren Eltern Ödipus und Iokaste, dem gesamten Geschlecht der Labdakiden, aber auch mit mythologischen Figuren wie Niobe und Danae eine ganze Menge an Toten ex negativo präsent. Dies gilt auch für mythologische Figuren wie Danae oder die in einen ewig weinenden Felsen verwandelte Niobe, mit der sich Antigone im vordeutenden Beklagen ihres eigenen Todes im Felsengrab vergleicht (vgl. Soph. Ant. 823–834). Von Antigone, die »vom Inbegriff des Ab‑wesens her, dem Tod«53 denkt, werden diese virtuellen Präsenzen angesprochen und somit in Erscheinung gebracht. In Kein Licht. Epilog? ebnet dieses spezifische Erinnern‐Müssen den Grund für den Auftritt der Trauernden, die – und darin zeigt sich die immense Theatralität der Jelinek’schen Tragödienfortschreibung – zur gemeinsamen (An‑)Klage aufruft: »Erblicket die Toten und jammert laut! Jemand hat uns unsere Welt versaut!« (EP) Wie aber setzen Theatermachende diese besondere Ästhetik der An‐ und Aussprache um? Welche Spielräume eröffnet der spezifische Klagegestus, den Kein Licht. Epilog? im Rückgriff auf die sophokleische Antigone zitiert?

Endnoten

47 Vgl. van Gennep, Arnold: The Rites of Passage. Chicago: University of Chicago Press 1960, S. 146. Vgl. dazu auch die Arbeiten von Victor Turner, z.B. Turner, Victor: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaka: Cornell University Press 1967.

48 Vgl. Johnston, Sarah Iles: Restless Dead. Encounters Between the Living and the Dead in Ancient Greek. Berkeley: University of California Press 1999, S. 9f.

49 Vgl. Pritchett, W. Kendrick: The Greek State and War. Berkeley/London: University of California Press 1985, S. 246–49.

50 Vgl. N.N.: »Radioaktivität tritt weiterhin aus.« In: Tagesanzeiger, 22.3.2011.

51 Schauer, Markus: Tragisches Klagen. Form und Funktion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides. Tübingen: Narr 2002, S. 144.

52 Böhme, Hartmut: »Götter, Gräber und Menschen in der ›Antigone‹.« In: Greve, Gisela (Hg.): Sophokles. Antigone. Tübingen: Kimmerle 2002, S. 93–124, hier S. 17.

53 Ebd., S. 17.