1.1 Reisende Gesten?

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite

Unterkapitel

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1 Routen, Wegmarken, Aussichten

Au-dessus des capitales
Des idées fatales
Regarde l’océan
Voyage, voyage

Dominique Albert Dubois, Jean-Michel Rivat

1.1 Reisende Gesten?

Am Abend des 17. Mai 2019 veröffentlichten die Süddeutsche Zeitung und Der Spiegel eine Videoaufnahme, die dazu beitragen sollte, einen der größten politischen Skandale Österreichs aufzudecken. Kernmoment des kolportierten Materials ist eine Szene, die einen Mann in eindrücklicher Pose zeigt. Er streckt seinen rechten Arm und die dazugehörigen Zeige‐ und Mittelfinger nach vorne aus und umschließt diesen Arm auf Höhe des Handgelenks mit der linken Hand. Die Geste ist auch ohne die beigefügte Untertitelung (»Gudenus: Glock, Glock.«) kinderleicht zu entschlüsseln: Hier mimt jemand einen Schützen mit Handfeuerwaffe. Innerhalb kürzester Zeit avancierte die Abbildung dieser Szene zur Chiffre der sogenannten Ibiza‐Affäre. Das Foto zeigt den damaligen Nationalratsabgeordneten und geschäftsführenden Parteiobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Johann Gudenus gemeinsam mit dem damaligen Vizekanzler und Bundesparteiobmann der FPÖ Heinz‐Christian Strache bei einem heimlich gefilmten Gespräch mit einer angeblichen Oligarchen‐Nichte in einer angemieteten Villa auf der spanischen Insel Ibiza. Aus der aufgezeichneten Unterhaltung geht die Bereitschaft der beiden Politiker zu korrupten Machenschaften, zur Übernahme parteiunabhängiger Medien und zur Umgehung von Gesetzen hinsichtlich der Parteienfinanzierung hervor. Die Veröffentlichung der Aufnahmen führte umgehend zum Rücktritt von Strache und Gudenus und in weiterer Folge zur Aufkündigung der Koalition durch den damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP).

Jelineks Antwort auf »Ibizagate« kam prompt. Noch im selben Jahr verfasste die Autorin den Theatertext Schwarzwasser, der den potenziellen Machtrausch von Politikern einer schonungslosen, messerscharfen Analyse unterzieht und dabei die Orgien der Bakchen, denen Euripides seine gleichnamige Tragödie gewidmet hat, als Folie heranzieht. Das Schlüsselmoment des Ibiza‐Videos setzt der Theatertext in Form einer Anrede (des Publikums?) in Szene:

Sie haben mich doch vorhin noch im Fernsehn gesehn, also kann ich nicht gleichzeitig dort gewesen sein!, denken Sie nach! Es kann sowieso nicht stimmen, das kann nicht ich gewesen sein, meine Tochter hat gar keinen Sohn, ich weiß ja nicht, wer das war, der mich schuf, doch ich weiß, daß ich diese Bilder schuf, die ich mir vom Menschen gemacht habe, der Mensch hat sie hoch übertroffen mit seinem Schattenspiel, er spielt Pistole und Schießen, er spielt Schuß und Schütze, wozu sonst die Waffe, welche er auch noch spielt? Als Schatten hält man ihn ja noch aus, den mimisch versierten Mann, sprechen kann er nicht, aber spielen!1

Screenshot aus dem Ibizavideo.
Abbildung 2: v.l.n.r.: Johann Gudenus, Heinz‐Christian Strache, unbekannt. Foto: Harald Schneider/APA/picturedesk.com.

Der, der nicht sprechen, sehr wohl aber spielen kann, über‐setzt den mittlerweile weltweit als Gattungsbezeichnung für Handfeuerwaffen jeder Art fungierenden Namen des österreichischen Waffenherstellers Glock in Bewegung. Protagonistin dieser Szene aber ist die Geste selbst. Sie fungiert – und zwar analog zu dem von Jelinek verfremdend zitierten Versuch Gudenus’, seine eigenen mangelnden Russisch‐Kenntnisse be‑deutend zu kompensieren – als Platzhalterin für etwas, das verbal nicht ausgedrückt werden kann. Diese Geste zeigt Präsenz an, ist gleichzeitig aber auch Repräsentation. Innerhalb dieser Differenz bringt sie all das zum Vorschein, was sie auf paradoxe Weise genauso verdeckt: den milliardenschweren Konzern, der sich hinter dem österreichischen Unternehmer Gaston Glock verbirgt, dessen Verstrickungen zu rechtspopulistischen Politikern wie Jörg Haider, die strukturelle Gewalt innerhalb der US‑amerikanischen Polizei, die seit den 1980er‐Jahren mit Pistolen der Marke Glock ausgestattet wird, die gezielte Platzierung der »Glock« innerhalb von Hollywood‐Filmen, ihren Einfluss auf die Populärkultur, v.a. im Hinblick auf Gangsta‐Rap und Hip‐Hop, und nicht zuletzt das problematische Männlichkeitsbild, das in diesem Kontext perpetuiert wird.

1.1.1 Die Geste als Travelling Concept

Gesten reisen. Sie bewegen sich zwischen unterschiedlichen Räumen und Zeiten, verändern ihre Bedeutung oder werden gar obsolet. An ihnen haften Spuren des Damals ebenso wie Relikte des Zukünftigen. In ihnen zeigt sich die Vergangenheit und spiegelt sich die »Theater‐Erfahrung der Wiederholung als Theater,«2 wie es Günther Heeg ausdrückt. Gesten vagabundieren im Terrain des Sowohl‐als‐auch, in der unsicheren Zone zwischen Intention und Zufall, zwischen Affekt und Effekt; sie bewegen sich mitunter im Niemandsland, das sich inmitten der Ambivalenzen von Tragischem und Komischem auftut. Gesten changieren zwischen Sprache und (Körper‑)Bewegung, aber auch zwischen unterschiedlichen Diskursen und (akademischen) Disziplinen. Sie beschäftigen die Altphilologie,3 die Psycholinguistik und die Soziologie4 ebenso wie die Kunst‑, Musik‑, Theater‑, Film‐ und Medienwissenschaften.5 Freilich variiert dabei das Einverständnis darüber, was eine Geste tatsächlich ausmacht, und verändert sich von turn zu turn. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1980er‐Jahre werden Gesten in der hauptsächlich (sozial‑)psychologisch ausgerichteten Forschung »maßgeblich als nonverbale kulturabhängige und milieubedingte Mittel der Kommunikation aufgefasst, die sich wie sprachliche Zeichen entziffern lassen.«6 Veronika Darian und Peer de Smit heben hervor, dass das Verständnis von Gesten als Trägerinnen dechiffrierbarer Bedeutung erst Mitte der 1940er‐Jahre mit Maurice Merleau‐Ponty nachhaltig infrage gestellt wird. Merleau‐Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung hat die Aufmerksamkeit »auf die erfahrbare Anwesenheit von Gefühlen in der Geste […]«7 gelenkt und die Auffassung, wonach der Geste eine ausschließlich repräsentative Funktion zukomme, radikal infrage gestellt. 65 Jahre später wird Doris Kolesch konstatieren, dass die Geste »jedem gesagten Gehalt vorausgeht und ihn übersteigt.«8 Merleau‐Ponty, die Leibphilosophie Hermann Schmitz’ und innovative Auseinandersetzungen mit dem Gestischen, wie wir sie bei Giorgio Agamben und Jean‐Luc Nancy finden, haben »den Boden für eine vermehrt leiborientierte Erforschung von Gesten seit den 1990er‐Jahren bis heute«9 geebnet, so Darian und de Smit.

Auf ihrer Reise von Zeit zu Zeit und von Disziplin zu Disziplin sammeln Gesten also eine Vielzahl an äußerst heterogenen Be‑Deutungen und Begrifflichkeiten. Mika Ishino und Gale Stam konstatieren im Vorwort ihres Sammelbands Integrating Gestures. The Interdisciplinary Nature of Gesture: »The term ›gestures‹ has many different meanings and the gestures that each researcher examines are not always the same.«10 Zu einem ähnlichen Schluss gelangen Sebastian Schinkel, Gerald Blaschke und Nino Ferrin, denen zufolge die Beschäftigung mit Gesten bedeutet,

[…] mit einem verhältnismäßig diffusen Begriff konfrontiert zu sein, der je nach Forschungsinteresse und theoretischen Grundlagen auf unterschiedlich umrissene Phänomenbereiche fokussiert und entsprechend verschieden konzipiert ist. […] Weitgehend Übereinstimmung besteht darin, dass der Begriff auf begrenzte Bewegungssequenzen im Fluss physiologischer Motorik bezogen ist, die durch ein körperlich verfasstes Selbst initiiert und durch ihre Wahrnehmung als Bewegungsfigur signifikant werden.11

Warum also nicht die Geste als Travelling Concept fassen? Die Kulturwissenschafterin Mieke Bal hat unter diesem Begriff Paradigmen subsumiert, die das Wissen von Kultur und das Sprechen darüber bestimmen und die mitunter zu Verständigungsschwierigkeiten zwischen diversen Disziplinen führen (können). Bal beschreibt dieses Phänomen anhand von Begriffen wie Narrativität, Gedächtnis, Kultur und Performativität. All diesen Konzepten ist ihrer Beobachtung nach gemein, dass sie reisen – und zwar zwischen Disziplinen ebenso wie zwischen einzelnen Wissenschafter*innen, zwischen historischen Epochen und zwischen geografisch zerstreuten akademischen Communitys. In diesem ständigen Prozess des Reisens erlangen Konzepte stets neue, voneinander abweichende Bedeutungen oder aber werden von alternativen Konzepten verdrängt und in weiterer Folge obsolet. Tatsächlich ist die Bedeutung von Konzepten niemals fixiert, sondern ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir sie verwenden, uns aneignen, übersetzen und auf dem neuesten Stand halten – immer wieder und immer anders. »All of these forms of travel render concepts flexible. It is this changeability that becomes part of their usefulness for a new methodology that is neither stultifying and rigid nor arbitrary or ›sloppy‹.«12 Bal verwendet das Konzept des Reisens in seiner historischen Dimension und bezieht sich dabei auf die Tradition des Schelmenromans: »Hazardous, exciting and tiring, travel is needed if you are to achieve new experiences.«13 Darüber hinaus leitet sie das Konzept des Travelling aus Jonathan Culler’s Ausführungen zu Performance und Performativität ab,14 was Teresa Kovacs und Katharina Pewny dazu inspiriert hat, Travelling Concepts für die Analyse von transkulturellem Theater und transkultureller Performance fruchtbar zu machen.15

Zurecht haben Fabian Goppelsröder und Ulrich Richtmeyer die Geste als »Richtschnur einer Kritik der etablierten Vorstellung von Sprache, Kommunikation und Wissen«16 bezeichnet. Mit der Schemenhaftigkeit des Gestenbegriffs nämlich geht eine Unbestimmtheit einher, die laut Gunter Gebauer daraus resultiert, »dass sich Gesten nicht wie Sprachzeichen zu einem System ordnen lassen.«17 So mischen sich etwa, im Gegensatz zum Prozess der Lautartikulation, Gesten und nicht intendierte Körperbewegungen und verunmöglichen dadurch eine klare Differenzierung. Die Geste figuriert mithin als (disziplinäres) Schwellenphänomen, dessen »zentrale Bedeutung für die Inszenierung, Aufführung und Praxis menschlicher Kommunikation und Interaktion«18 innerhalb der Forschung mehr und mehr ins Bewusstsein gelangt. Die Geste als wanderndes Konzept zu begreifen, ermöglicht es, die terminologische Diffusität, die von ihr ausgeht, produktiv zu nutzen. Sie gibt sich dadurch als Phänomen zu erkennen, das imstande ist, Ordnungen des Denkens ins Wanken zu bringen, Kategorien zu stören und das Verhältnis von Körper und Schrift neu zu beleuchten.

Aus anthropologischer Sicht handelt es sich bei der Geste um ein genuin theatrales Phänomen, das (1) auf dem Prinzip der mimesis basiert, (2) ein rezipierendes Gegenüber benötigt und sich (3) als gemeinschaftsstiftend wiewohl ‑abgrenzend erweist. Gesten können mit Christoph Wulf »als ästhetische Handlungen, als kulturelle Aufführungen«19 gelesen werden, die an ein situatives soziokulturelles Umfeld gekoppelt sind. Um sie (re‑)produzieren und rezipieren zu können, benötigt es ein implizites (Körper‑)Wissen, das über mimetische Prozesse erworben wird. Wahrgenommene Gesten werden als solche verstanden, indem sie mental nachgeahmt werden: »In der Anähnlichung an die Gesten eines Anderen werden seine Körperlichkeit und seine Gefühlswelt erfahren.«20 Die Geste kann daher nicht nur als »Akteur des transkulturellen Theaters«21 bezeichnet werden, wie dies Günther Heeg tut. Sie ist vielmehr grundsätzliche Akteurin des transkulturellen Zusammenlebens, Zusammenagierens und Zusammenspielens.

Das spezifische Körper‐Wissen, das für die erfolgreiche Entschlüsselung gestischer Codes vonnöten ist, wird u.a. im Zuge von bestimmten Ritualen weitergegeben. In diesem Zusammenhang spielen religiöse Gesten des Klagens, Opferns, Segnens oder Sühnens eine entscheidende Rolle. Aber auch weltliche Institutionen stellen Gesten zur Verfügung, die von ihren Vertreter*innen und Adressat*innen wiederholt vollzogen werden und somit eine Identifikation bewirken und gleichzeitig abbilden. Wulf hält in diesem Zusammenhang fest:

Über den mimetischen Vollzug von Gesten wird eine soziale Gemeinsamkeit erzeugt, in deren Rahmen die sozialen Beziehungen unter anderem mit Hilfe von Gesten geregelt werden. Gefühle der Zugehörigkeit werden durch den rituellen Vollzug von Gesten erzeugt und bestätigt. Dies gilt nicht nur für Institutionen, sondern auch für professionelle, schichten‑, geschlechts‐ und funktionsspezifische Gruppen. Insofern mimetisches Handeln Menschen befähigt, ein Verhältnis zur Welt körperlich auszudrücken und darzustellen, bringt es auch neue Gesten hervor.22

Daraus lassen sich zwei elementare Rückschlüsse ableiten. Zum einen fungieren Gesten als Marker von Humandifferenzierungen, die sich an Leitkategorien wie Ethnizität, nationaler und religiöser Zugehörigkeit, Leistung und Geschlecht orientieren und die dazu dienen, Menschen von anderen zu distinguieren bzw. sie auf der Basis von geteilten Eigenschaften unter Mitgliedschaften zu subsumieren. Somit erzeugen sie nicht nur soziale Gemeinsamkeit, sondern konstituieren gleichzeitig auch soziale Hierarchien und Ausschlüsse. Zum anderen sind Gesten nicht festgeschrieben, sondern einem steten Wandel ausgesetzt. Sie können im Laufe der Zeit obsolet werden, an Bedeutung verlieren (wie etwa der Handkuss, der seine herrschaftssoziologische Dimension im europäischen Raum eingebüßt hat) oder aber ihre Bedeutung verändern.

Dieser spezifischen transformativen Kraft der Geste kommt im Theater bzw. im Tanz eine besondere Rolle zu, wie Erika Fischer‐Lichte hervorhebt. Im Rückbezug auf die Schauspielerszene in Heiner Müllers Inszenierung von Brechts Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (Berliner Ensemble 1995) zeichnet Fischer‐Lichte den Vorgang der körperlichen Verwandlung nach, der grundsätzlich mit dem mimetischen Einüben bestimmter Gesten einhergeht. Sie unterzieht dabei die Bewegungen des Ui‑Darstellers Martin Wuttke, der auf der Bühne zu stehen, zu sitzen und zu gehen erlernt, einer eingehenden Analyse. Die Aneignung spezifischer Körpertechniken, so leitet Fischer‐Lichte daraus ab, transformiere den Leib jedes auszubildenden Schauspielers nach und nach bzw. bringe diesen neu hervor. Diese Transformation wiederum bilde die »Voraussetzung für eine weitere Verwandlung – für die Darstellung einer Figur.«23 Das Beispiel der Schauspielerszene führt laut Fischer‐Lichte vier elementare gestische Prozesse vor, nämlich

(1) die Formung des Leibes durch spezifische, kulturell determinierte Körpertechniken, (2) die Umformung des Leibes im Schauspielunterricht durch den Erwerb nicht‐alltäglicher Körpertechniken, (3) die Anwendung dieser Körpertechniken bei der Darstellung von dramatischen Figuren sowie (4) ihre Wirkungen auf die Zuschauer.24

Diese paradigmatische Definition erscheint mir aus unterschiedlicher Hinsicht problematisch. (1) spricht aus ihr ein primordiales Kulturverständnis, das von abgrenzbaren Kulturen ausgeht und dabei tendenziell eher Trennendes fokussiert, statt Gemeinsames hervorzuheben. Indem Fischer‐Lichte im Rückgriff auf Bourdieu von einem »für die betreffende Kultur typischen und charakteristischen leiblichen Habitus«25 ausgeht, läuft sie Gefahr, ethnosomatische Humankategorisierungen zu reproduzieren. (2) stellt sich die Frage, wie ihre Erwägungen aktuell, d.h. vor dem Hintergrund eines Theaters, in dem vermehrt Menschen ohne schauspielerische Ausbildung, d.h. etwa Laien und Kinder, aber auch Tiere und Objekte agieren, zu bewerten sind. Und (3) wäre zu überlegen, wie sich ein solches Verständnis gestischer Prozesse zu postdramatischen Theatertexten und ihren Inszenierungen verhält, in denen die Kategorie der Figur zwar, wie Jens Roselt betont, keineswegs obsolet geworden ist, jedoch »innovative und kreative Formen zu deren Gestaltung [erfordert].«26

Explizit stellt sich diese Frage für die jüngeren Theatertexte Elfriede Jelineks, die keinerlei Figuren im herkömmlichen Sinn hervorbringen, sondern laut Ulrike Haß vielmehr »den sprechenden Körper, der im szenischen Dispositiv des Theaters als Ort der Abwesenheit erscheint […].«27 Jelinek selbst hält diesbezüglich in einem Essay für Jossi Wieler fest:

Und sie sprechen, wie gesagt, immer, meine Figuren. Außerhalb ihres Sprechens existieren sie nicht, und ich verweigere auch die Illusion, daß sie außerhalb dieses Sprechens auch nur existieren könnten. Ich bin Damen‐ und Herrenausstatterin. Ich statte mit Sprache aus, die alles ist und sein kann, ja, unter Umständen sogar nur Beigabe, unter Umständen, die der Regisseur herzustellen hat.28

Was Fischer‐Lichte also als transformative Kraft der Geste bezeichnet, betrifft bei Jelinek die Sprache und das Sprechen an sich. Die Sprache fungiert hier als Katalysator, der Figuren evoziert, die nur in ihrem Sprechen vorkommen. Jelineks Theaterästhetik verlangt mithin nach einer Begrifflichkeit, die es erlaubt, sowohl das Sprechen als auch das Schreiben als gestischen Akt zu begreifen. Sie fordert das Analyseinstrumentarium einer Theaterwissenschaft heraus, die unter Geste »eine wiederholte Bewegung bzw. Haltung des menschlichen Körpers oder seiner Glieder, die als signifikant angesehen wird,«29 versteht. Im Gegensatz dazu ist meiner Ansicht nach ein erweiterter Gestenbegriff gefragt, der sich im Sinne Giorgio Agambens dem Dualismus von Mittelbarkeit und Zweck entzieht.30 Ein Begriff mithin, der die Geste mit Vilém Flusser als »eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeuges, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt,«31 erfahrbar macht.

1.1.2 Es ist Sprechen und aus

Vilém Flussers Denken der Geste ist erstaunlich elastisch. Es schließt das Lieben ebenso ein wie das Zerstören, das Fotografieren, das Pfeiferauchen und das Telefonieren. Darüber hinaus – und das scheint mir im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Jelineks Arbeiten für das Theater äußerst fruchtbar – fasst Flusser auch das Schreiben als Geste auf. Das Schreiben, so der Medienphilosoph, sei eine »Geste der Arbeit«, durch die sich das Denken artikuliere.32 Und doch drücke diese Geste weniger etwas aus, als dass sie sich als durchdringender, eindringlicher Akt erweise. Schreiben meine nicht, etwas an die Oberfläche zu bringen, sondern vielmehr, an einer solchen zu kratzen, sie zu durchstoßen. Flusser denkt die Geste des Schreibens mithin nicht als eine konstruktive, sondern als eine inskriptive, ein‐dringliche Geste, die sich durch unterschiedliche Schichten zu arbeiten hat.

Jelineks intertextuelles Schreibverfahren lässt sich als eine solche frikative Prozedur erfahren, die diverse Schichten durchdringt und dabei Spuren hinterlässt. Das Schreiben der Autorin ist kein Be‑schreiben und kein Um‑schreiben – es ist ein Schreiben, das sich an kanonisierten Texten reibt und diese im Sinne Walter Benjamins gegen den Strich der Geschichte bürstet. So behauptet Jelinek in einem Interview anlässlich der Uraufführung ihres sich auf Goethes Urfaust stützenden Sekundärdramas FaustIn and out: »Der erste Impetus war sicher schon, sich diesem Marmorblock Goethe zu nähern, mit schwachen Fingernägeln ein bisschen an ihm zu kratzen.«33 Dieses ritzende Verfahren ist freilich ein höchst politisches, aufdeckendes, das Jelinek heranzieht im unermüdlichen Bestreben, die verdrängte Wahrheit über die Shoah ans Tageslicht zu bringen. So heißt es an anderer Stelle:

[…] die deutsche (und österreichische) Geschichte hat ja etwas Vampirhaftes, das heißt sie kann nicht sterben, sie kommt immer wieder heraus, und gerade dann, wenn man sie besonders tief begraben glaubt, schon ist sie wieder da. […] Man kratzt nur mit einem Fingernagel, und schon öffnet sich erneut der Boden und wird wieder bodenlos.34

Erst nach dem Durchdringen mehrerer Schichten, so Flusser, »erst dann, wenn die Virtualität auf den Widerstand der Wörter stößt,«35 entschließe man sich zu schreiben. Davor könne das, was man auszudrücken begehrt, »ebenso gut auf eine andere Geste hindrängen, die der musikalischen Komposition oder die der Malerei zum Beispiel.«36 Tatsächlich betont Jelinek selbst immer wieder, (auch) Musikerin zu sein, und stellt die Tätigkeiten des Schreibens und des Komponierens konsequent in einen Kontext: »Ich würde sagen, dass ich mit Worten komponiere.«37 Besonders in jüngeren Interviews und Gesprächen unterstreicht die Autorin oft den Einfluss, den ihre musikalische Ausbildung auf ihre Schreibverfahren gehabt habe.38 Erinnert sei an dieser Stelle zudem an die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaft, die ein ihrer Begründung für die Vergabe des Nobelpreises an Jelinek den »[…] musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen […]«39 hervorgehoben hat. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch Jelineks steter Hinweis darauf, ausschließlich tippend zu schreiben. Mit der Hand, die »sehr schwer ist und jeden Stift, jeden Faserschreiber, vor allem jede teure Füllfelder rasch abbricht,«40 habe sie lediglich die ersten Gedichte verfasst, danach stets die Schreibmaschine verwendet, um bereits 1983 auf den Computer umzusteigen, wie sie nicht ohne (Selbst‑)Ironie bemerkt:

Als ich eine Schreibmaschine bekam, lernte ich sofort Zehnfinger blind schreiben. Ich schreibe wahnsinnig schnell, weil ich Musikerin bin und schreibe, so schnell ich denken kann. Ich denke allerdings nicht sehr schnell. Inzwischen schreibe ich gleich in den Computer, weil das der Übermittlung zwischen den Gedanken und der Notation den geringsten Widerstand entgegensetzt.41

Dem »Widerstand der Wörter«, von dem Flusser spricht, begegnet Jelinek also mit dem Computer, den sie ähnlich fasst wie Flusser die von ihm als »Klavier« bezeichnete Schreibmaschine. Das Tippen auf der hämmernden Maschine, so Flusser, sei »in spezifischerer Weise graphische Geste als das Schreiben mit der Füllfeder.«42

Hervorzuheben aber ist, dass die Geste des Schreibens bei Jelinek hauptsächlich auf ein Sprechen abzielt. Wenngleich ihre Texte typografisch betrachtet durchwegs prosaartig anmuten, so unterscheidet die Autorin doch ganz bewusst zwischen solchen, die zum Lesen bestimmt sind, und jenen, die des Theaters bedürfen. Anlässlich von Simon Stephens‘ Inszenierung von Ein Sportstück äußert sie sich dazu in einem Interview wie folgt:

In spite of the fact my plays often look like prose – as they consist of long monologues – they are actually not prose. My plays are texts written to be spoken, while prose narrates. Plays are designed for collective reception, prose for individual reception. So you can’t simply say my plays are a kind of prose, since they don’t narrate anything. They talk. They speak.43

Tatsächlich zeichnet sich die Sprache von Jelineks Theatertexten dadurch aus, dass sie sich adressiert, wie Ulrike Haß hervorhebt, und zwar »[…] nicht an jemanden, nicht an eine Öffentlichkeit. Vielmehr stellt sie Öffentlichkeit, die nicht vorgängig ist, her und beansprucht diese in einem Sprechen, das unabhängig von seiner Aktualität zu hören ist.«44 Dieses Sprechen könnte man mit Flusser als ein besessenes Sprechen fassen. Wer spricht, sei von Worten besessen, und zwar von den Worten anderer, so Flusser im Heranziehen des Rilke’schen Propheten, der Worte speit wie der Vulkan Steine.45 »Versucht man also, das Wort zu Wort kommen zu lassen, dann sagt es von sich, daß der Mensch nicht spricht, sondern daß er gesprochen wird […].«46 Ein solches unbeherrschbares, unkontrolliertes Sprechen ist es auch, das Jelineks Texte evozieren. Beate Hochholdinger‐Reiterer zufolge haben wir es mit einem »eruptiven Sprechen, das ein Erbrechen assoziiert« und dabei einen autoaggressiven Schauspieler*innenkörper hervorbringt, zu tun.47 Jelinek selbst beschreibt diesen Vorgang in ihrem theaterästhetischen Essay Es ist Sprechen und aus wie folgt:

Das Theater ist Verbrauch, nicht nur meiner Lebenskraft, sondern Verbrauch an sich, es wird ja auch die Lebenskraft der Schauspieler verzehrt von etwas Gefräßigem, das von meinem Chaos übrigblieb, bei einem Chaos ist es wurst, ob alles weg oder alles noch da ist; die Texte fressen die Schauspieler auf, welche sie aber schon vorher gefressen haben, um sie wieder ausspucken zu können […].48

Die Assoziationen zur derben, von unmissverständlichen Anspielungen auf sexuelle und fäkale Prozesse kontaminierten Komik des Wiener Hanswurst, die diese Zeilen aufrufen, lassen Jelineks Theaterästhetik im Lichte einer kulinarisch besetzten österreichischen Tradition erscheinen: Bezüge zur Nahrungsaufnahme und zu ihrer Absonderung ziehen sich durch die Possen von Johann Nepomuk Nestroy ebenso wie durch die Stücke von Franz Grillparzer, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Bernhard oder Werner Schwab.49 Im Zentrum des Tragikomischen, das der Rückgriff auf Ess‑, Trink‐ und Fäkalprozeduren jedenfalls evoziert – und dies bringt Jelinek in ihrem Essay auf den Punkt –, steht dabei stets der menschliche Körper: der Schauspieler, der von Texten gefressen wird, die er selbst gefressen hat und wieder ausspuckt. Das Sprechen lässt sich also mit Jelinek gleichsam als einverleibende wiewohl als ausspeiende Geste verstehen, die sich wiederum in einem symbiotischen Verhältnis zur Geste des Schreibens befindet. Wie der speiende Rilke’sche Prophet von den Worten gesprochen wird, so werden die Jelinek’schen Schauspieler*innen von ihnen vereinnahmt: »Die Schauspieler SIND das Sprechen. Sie sprechen nicht«, heißt es bereits 1997 im programmatischen Essay Sinn egal. Körper zwecklos.50

Jelineks Sprechen ist aber nicht nur »Sprechen und aus«, sondern ist stets gekoppelt an ein Schweigen, d.h. an »jene Geste, welche das Wort aufhält, bevor es in den Mund kommt.«51 Doch während im Schweigen nach Flusser »das Wort zu Wort und zum Strahlen«52 gelangt, ist es bei Jelinek ein beredtes Schweigen, das sich vernehmen lässt, eine leere Mitte, in die gesprochen wird:

Und selbst in dieser Leere, in die unaufhörlich hineingesprochen wird, nicht, damit sie gefüllt werde, wieder mit Sprechen natürlich, nein, auch nicht mit widernatürlichem Schweigen, weil mir Schweigen auf der Bühne sofort auf den Geist geht, also gegen meine Natur, sondern damit diese Leere sich als Leere überhaupt erst konstituieren kann. Und in dieser Leere tritt dann, als Hauptdarstellerin, die Ruhe auf, die nie eintritt, sondern eben: auf. Ich meine damit, daß nicht die Ruhe das Ziel dieses unaufhörlichen Sprechens ist, daß dieses Sprechen nicht gestillt werden soll wie eine Blutung aus einem lebenswichtigen, verzweifelt um Sauerstoff pulsierenden Organ, sondern die Ruhe soll erreicht werden, indem sie gerade: nicht erreicht wird, sondern immer nur fast.53

Die zitierte Passage entstammt dem Essay Text‐Wut, in dem Jelinek – der Untertitel (Ein Vorhaben) weist darauf hin – ihre damals im Entstehen begriffene Arbeit Ulrike Maria Stuart reflektiert. Dieser 2006 durch Nicolas Stemann zur Uraufführung gebrachte Theatertext lässt Maria Stuart und Elisabeth I auf die beiden RAF‐Mitglieder Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin treffen und zieht Schillers Dramen als Prätexte heran, »um mein [Jelineks, Anm. SF] eigenes Sprechen in diese ohnehin schon bis zum Bersten vollen Textkörper der beiden Großen Frauen, dieser Protagonistinnen, auch noch hineinzulegen.«54 Im Rückgriff auf »Schillers Personal« entwirft Jelinek »Figuren, die aufeinander ein[sprechen], als gälte es ihr Leben […]. Sie reden aber auch um ihr Schweigen, diese Figuren, sie schweigen nur selten. Daher sind sie lebende Tote.«55

Tatsächlich wimmelt es in Jelineks Theatertexten (aber auch in Romanen wie Die Kinder der Toten) von Wiedergängern, die auf die blinden Flecke der Geschichte hindeuten, die auf die von der Geschichte Unterdrückten verweisen, die die Leerstellen der identitätsstiftenden großen Erzählungen sichtbar machen. Das Schweigen, das ex negativo in diesen Texten aufgerufen wird, lässt sich mithin als Chiffre eines verdrängenden bzw. leugnenden kollektiven Umgangs mit dem Holocaust lesen, der in Österreich immer noch nachwirkt. So umkreist etwa der 2008 entstandene Theatertext Rechnitz (Der Würgeengel) im Rückgriff auf die antike Form des Botenberichts die Vorkommnisse rund um das Massaker von Rechnitz, bei dem an die 200 ungarisch‐jüdische Zwangsarbeiter im Zuge eines »Gefolgschaftsfests« gezielt und kaltblütig von Nazis erschossen wurden. Vergleichbar mit den intensiven, aber erfolglosen Grabungen, die Archäolog*innen in den Jahren 1966–1969, 2006 und 2017 anstellten, um den Ort des Massengrabs ausfindig zu machen,56 nimmt Jelinek Bohrungen vor und stellt sich im Versuch, das Unaussprechliche zum Sprechen zu bringen, dem von Flusser diagnostizierten Widerstand der Wörter. Die Schichten, durch die sie sich bei diesem Unternehmen bohrt, kehren als intertextuelle Überlagerungen wieder und lassen Vergangenheit, Zukünftiges und Gegenwart zusammenrücken.

Dieses Verfahren erweist sich als konstitutiv für Jelineks Tragödienfortschreibungen, die virulente Themen unserer Zeit vor der Folie antiker Prätexte (im Falle von Rechnitz sind es Die Bakchen des Euripides) verhandeln und Geschichte dadurch einerseits als konstruiert und andererseits als niemals abgeschlossen begreifbar machen. Darüber hinaus impliziert diese ästhetische, dem Palimpsest‐Prinzip gehorchende Prozedur eine zeitliche Schichtung, die an die unabdingbare Aufführbarkeit der Texte gekoppelt ist. In ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Nestroy‐Autor*innenpreises 2013 äußert sich Jelinek diesbezüglich wie folgt: »Zwei Zeiten werden aufeinander geschmissen, die, die auf der Bühne abgeht (und niemandem abgeht, es wäre auch in Ordnung, wenn das alles nicht stattfände), und die im Zuschauerraum.«57 Jelineks Schichtungsverfahren erweisen sich somit als »genuin theatral und werden durch den Akt des Sprechens nochmals potenziert.«58 Die Sprache ist mithin unmittelbar an den Körper des Schauspielers/der Schauspielerin gekoppelt, wobei »[d]ie Möglichkeit, diesen Körper als Darsteller einer menschlichen Gestalt zu verstehen, […] durch eine Zeitverschiebung im Sprechen, die eigentlich eine Ortsverschiebung impliziert, unterlaufen [ist].«59 Sprache und Sprechen begegnen sich bei Jelinek in einem spezifischen Moment, der die transitorische Eigenheit des Theaters unterstreicht und darin das durch und durch Politische zu erkennen gibt, das dem Theater grundsätzlich innewohnt. »Achtung! Das Vergangene findet jetzt statt!«, heißt es im Untertitel zu Es ist Sprechen und aus, und im Rekurs auf Martin Heidegger weiter:

Vielleicht kann man es so sagen: Indem die Natur, die vom Theater unvollkommen nachgeahmt wird, endlich erwacht (eine Natur, die es bei mir nicht gibt, aber vielleicht das Wesen der Natur: den Überfluß? Das Überflüssige, danke, daß sie mich daran erinnern!), kommt ihr Kommen, kommt das Kommen dieser Menschen, die meine Texte sprechen, als das Zukünftigste aus dem ältesten Gewesenen hervor (und so spricht auch der Denker immer wieder aus mir hervor, nur leider völlig falsch, oder bin ich hier falsch?, weil man die Denker anders verstehen muß, vielleicht gar nicht), als ein Gewesenes, das nie veraltet, weil es seiner Natur nach immer das Jüngste ist, eigentlich das Letzte, das Letzte, das entstanden ist und jeden Abend – das Letzte wird das Erste sein – wieder neu entsteht und stattfindet […].60

Jelineks Geste des Schreibens materialisiert sich als Geste des Sprechens und weist als solche sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Dadurch wirft sie, wie Ulrike Haß treffend bemerkt, implizit stets die Frage auf, »was es heißt, nach Auschwitz Theater zu machen, etwas darzustellen oder etwas zu schreiben.«61

Der Raum der Jelinek’schen Sprache erweist sich mit Flusser gesprochen als »Innenraum des Sprechens«, der »zwar von Worten gefüllt [ist], aber diese Worte verwirklichen sich erst und werden in diesem Sinne Ideen, wenn sie ausgesprochen werden.«62 In diesem Zusammenhang kommt der Dimension des Klangs eine besondere Bedeutung zu – eine Bedeutung, auf die Monika Meister mehrmals in Bezug auf die performative Qualität von Jelineks Theatertexten hingewiesen hat. Meister beschreibt im Unterstreichen der Differenz von Sprache und Sprechen einen »Resonanzraum«, den »der gesprochene Text, der verlautbarte, durch die Stimme zum Klingen gebrachte Text« hervorbringen würde.63 Die »polyphone Klanglichkeit« eröffnet ein in‑between zwischen Sprache und Sprechen, das sich in einem »Nebeneinander von Ich und Wir, von kollektiven Stimmen und Einzelstimmen« materialisiert.64

Was Meister in Bezug auf Über Tiere und Winterreise diagnostiziert, gilt auch für andere Theatertexte Jelineks, die vermehrt auf Sprechinstanzen verzichten und in der Forschung gemeinhin als »Sprachflächen« oder »Textflächen«65 bezeichnet werden.66 Wenngleich jüngere Ansätze dazu übergehen, diese Begriffe mit Termini des Rhizomatischen zu ergänzen bzw. zu ersetzen, so werden diese der Dynamik, die Jelineks changierende Wir/Ich‐Konstellationen erzeugen, doch nicht hinlänglich gerecht. Gemeinsam mit Teresa Kovacs habe ich dafür plädiert, Jelineks ästhetische Verfahren der Defiguration als »schwärmendes Schreiben« zu fassen, um nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Dimension reflektieren zu können, die die stets zwischen einem undefinierten Wir und einem nicht weniger abstrusen Ich changierenden Figurationen in ihren Texten aufrufen.67 So konstituieren sich etwa die Sprechinstanzen in Die Schutzbefohlenen stets »aus dem Nichts, verdichten sich zu einer scheinbaren Autorität, lösen sich aber sofort wieder auf und lassen damit jede Autorität brüchig erscheinen.«68 Sie widersetzen sich fixen Zuschreibungen und verunmöglichen dadurch Identifikation und Einfühlung im aristotelischen Sinne. Die Denkfigur des Schwarms erlaubt es, solche Figurationen als »Körper ohne Oberfläche,«69 als »Kollektiv ohne Zentrum«70 zu begreifen und den temporären Hierarchien, die Jelineks kaskadenhaft angelegte Theatertexte entwerfen, analytisch zu begegnen. Gleichzeitig wird dadurch offensichtlich, wie unmittelbar diese Texte von einer performativen Setzung abhängig sind, oder, anders gesagt: wie sehr die Geste des Schreibens der Geste des Sprechens bedarf.

Doch wie ist es möglich, dieser aporetischen Dependenz von Schreiben und Sprechen zu begegnen, die in Bezug auf Jelineks Theater(texte) evident wird? Wie können diese intrinsisch miteinander verknüpften gestisch‐poietischen Prozesse der Verkörperung, die stets zwischen einem transitiven »etwas Zeigen« und einem intransitiven »sich Zeigen« changieren, hinlänglich analysiert werden? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, möchte ich nach Vilém Flusser noch einen weiteren Denker des Gestischen in meine Überlegungen miteinbeziehen, nämlich Walter Benjamin.

1.1.3 Zitierend unterbrechen. Gesten mit Walter Benjamin denken

Mit Walter Benjamin gedacht figuriert die Geste grundsätzlich in einem Zwischen. Sie mäandert zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Text und Aufführung. Sie ist die »Mutter der Dialektik«, wie Benjamin in Bezug auf Brechts episches Theater betont, das er als genuin gestisch begreift: »Die Geste ist sein Material, und die zweckmäßige Verwertung dieses Materials seine Aufgabe.«71 Tatsächlich sind Benjamins Reflexionen zur Geste untrennbar mit Bertolt Brechts Bestrebungen hinsichtlich eines neuen, nicht mehr aristotelischen Theaters verknüpft und befinden sich mithin an der Schnittstelle von geschichtsphilosophischem und ästhetischem Erkenntnisinteresse. Benjamins Betrachtungen differenzieren nicht zwischen dem Dramatiker, Theoretiker und Regisseur Brecht – sie speisen sich aus Theatertexten und programmatischen Notaten Brechts, aber auch aus eigenen Erinnerungen an selbst miterlebte Aufführungen. Insofern sind sie für ein Denken fruchtbar zu machen, das Theater als Prozess begreift: als Prozess, innerhalb dessen die Geste des Schreibens und die Geste des Sprechens einander bedingen.

Lange Zeit ist man in der Forschung davon ausgegangen, dass sich Benjamin dem Gestischen erstmals in seinen Versuchen über Brecht gewidmet hatte.72 Diese Annahme entspricht jedoch einem Irrtum, wie Mi‑Ae Yun nachweisen konnte.73 Benjamins Interesse für die Geste manifestiert sich bereits im Programm eines proletarischen Kindertheaters, das er 1928/29 für die lettische Theatermacherin Asja Lacis verfasste, die nach der Revolution von 1917 in der russischen Stadt Orjol ein Theater mit Kriegswaisenkindern gegründet hatte.74 Sie war es auch, die das erste Zusammentreffen Brechts und Benjamins initiiert hatte, zu dem es 1924 kam, das jedoch – dem Desinteresse Brechts geschuldet – zunächst ohne Folgen blieb.75 Eine intensivere Annäherung fand erst im Mai 1929 statt – und zwar unmittelbar nach der Premiere der Brecht‐Inszenierung von Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt, die am 1. April über die Bühne des Theaters am Schiffbauerdamm ging. In einer Notiz Benjamins zu dieser Aufführung findet sich erstmals eine auf Brecht verweisende Verwendung des Gesten‐Begriffs. Benjamin schreibt hier:

Die Worte der Fleißer tragen erstaunlich viel. Sie haben das Gestische in der Sprache des Volkes, schöpferische Gewalt, die sich zu gleichen Teilen aus einem entschiednen Ausdruckswillen und aus Verfehlen und Ausgleiten zusammensetzt, vergleichbar der Geste des Exzentrikers.76

Es ist anzunehmen, dass das Prinzip der Geste von Anfang an elementarer Bestandteil der Gespräche zwischen Brecht und Benjamin gewesen ist. Die ersten publizistischen Auseinandersetzungen Benjamins mit Brecht stützen diese Hypothese. So heißt es in der am 6. Juli 1930 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Arbeit Aus dem Brecht‐Kommentar im Rekurs auf das Fragment Untergang des Egoisten Johann Fatzer: »›Der zweite Versuch <Geschichten vom Keuner>‹, sagt der Verfasser, ›stelle einen Versuch dar, Gesten zitierbar zu machen.‹«77 Als Gesten führt Benjamin hier jene »der Armut, der Unwissenheit, der Ohnmacht« an, die wiederum eine zitierbare »Haltung« hervorrufen würden. Zitierbar aber sind demnach »auch die Worte, die sie begleiten.«78

Wenngleich Benjamin seinen Text Aus dem Brecht‐Kommentar für den am 24. Juni 1930 gehaltenen Radiovortrag Bert Brecht leicht abänderte, so übernimmt er darin die Passage über den Versuch der Zitierbarkeit der Geste wortwörtlich.79 Auffällig an diesem Folgetext ist, dass Benjamin hier Brechts schriftstellerische Arbeit weniger als »Werk« liest, sondern vielmehr als »Apparat, Instrument«80 und somit den konstruktivistischen Charakter von Brechts Texten hervorhebt, der wiederum auch für Benjamins Arbeiten charakteristisch ist: ein konstruktivistischer Charakter, der freilich auf eine spezifische, ihm inhärente Dialektik verweist. Denn dieses Instrument des Geschriebenen sei, so Benjamin weiter, »je höher es steht, desto mehr der Umformung, der Demontierung und Verwandlung fähig.«81 Vor allem Brechts Auseinandersetzung mit der chinesischen Literatur habe gezeigt, »daß der oberste Anspruch, der dort an Geschriebenes gestellt wird, seine Zitierbarkeit ist. Es sei angedeutet, daß hier eine Theorie des Plagiats gründet, bei der den Witzbolden sehr schnell der Atem ausgehen wird.«82 Der konstruktivistische Charakter von Brechts schriftstellerischem »Apparat« erweist sich mithin als gekoppelt an eine dekonstruktivistische, demontierende Partikularität, die in Benjamins geschichtsphilosophischer Rhetorik widerhallt. Im Passagen‐Werk heißt es dazu:

Das Geschehen, das den Historiker umgibt und an dem er teil nimmt, wird als ein mit sympathetischer Tinte geschriebener Text seiner Darstellung zu Grunde liegen. Die Geschichte, die er dem Leser vorlegt, bildet gleichsam die Zitate in diesem Text und nur diese Zitate sind es, die auf eine jedermann lesbare Weise vorliegen. Geschichte schreiben heißt also Geschichte zitieren. Im Begriff des Zitierens liegt aber, daß der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird.83

Das von Benjamin in Bezug auf Brecht so früh herausgearbeitete politisch‐ästhetische Prinzip der (De‑)Montage und des Zitats bildet die Grundlage seiner Überlegungen hinsichtlich einer materialistischen Geschichtsschreibung, die in den Thesen Über den Begriff der Geschichte gipfeln. Brecht erhält diese Thesen – gemeinsam mit der Todesnachricht Benjamins – im August 1941 und zeigt sich unmittelbar von ihnen angetan.84 Die positive Resonanz verwundert nicht – schließlich greift Benjamin in den Thesen Überlegungen aus seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf, an dem er gemeinsam mit Brecht im Sommer 1936 in Skovsbostrand redaktionell gearbeitet hatte.85 Angelegt aber sind diese Überlegungen bereits im Passagen‐Werk. Das hebt auch Theodor W. Adorno hervor, wenn er behauptet, dass die Thesen »die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat.«86 Umso interessanter erscheint mir der Umstand, dass sich Benjamin Brecht gegenüber in Bezug auf diese große, ihm so wichtige Arbeit eigentümlich zurückhaltend verhielt. Während er Theodor und Gretel Adorno sowie Gershom Scholem regelmäßig den Fortschritt seiner Arbeit beschrieb, aber auch Siegfried Kracauer, Hugo von Hofmannsthal und Max Horkheimer immer wieder darüber unterrichtete, ist nur ein einziger, mit 20. Mai 1935 datierter Brief an Brecht erhalten, in dem Benjamin »mein Buch – das große, über das ich Ihnen einmal berichtete,«87 anspricht. Im Sommer 1938, den er zum vierten (und letzten) Mal bei Brecht in Skovsbostrand verbringt, arbeitet er intensiv daran – man kann davon ausgehen, dass die (vorläufige) Durchsicht der Materialien dort vorgenommen bzw. abgeschlossen worden ist.88 Zudem schreibt Benjamin zu dieser Zeit intensiv an seinem Baudelaire‐Fragment, einem »Miniaturmodell« des Passagen‐Werks, wie er selbst in einem Brief an Max Horkheimer bemerkt.89 Doch dürfte sich Brecht nicht sehr positiv zu dieser Arbeit geäußert haben. In einem Brief an seine Freundin Kitty Marx‐Steinschneider spricht Benjamin davon, seine Arbeit »trotz aller Freundschaft zu Brecht in größter Abgeschiedenheit durchzuführen. Sie enthält ganz bestimmte Momente, die für ihn nicht zu assimilieren sind.«90 Tatsächlich notiert Brecht am 25. Juli 1938 in seinem Arbeitsjournal:

Benjamin ist hier. Er schreibt an einem Essay über Baudelaire. Da ist gutes, er weist nach, wie die Vorstellung von einer bevorstehenden geschichtslosen Epoche nach 48 die Literatur verbog. Der Versailler Sieg der Bourgeoisie über die Kommune wurde vorauseskomptiert. Man richtete sich mit dem Bösen ein. Es bekam Blumenform. Das ist nützlich zu lesen. Merkwürdigerweise ermöglicht ein Spleen Benjamin, das zu schreiben. Er geht von etwas aus, was er Aura nennt, was mit dem Träumen zusammenhängt (dem Wachträumen). Er sagt: wenn man einen Blick auf sich gerichtet fühlt, auch im Rücken, erwidert man ihn. (!) Die Erwartung, daß, was man anblickt, einen selber anblickt, verschafft die Aura. Diese soll in letzter Zeit im Zerfall sein. Zusammen mit dem Kultischen. Benjamin hat das bei der Analyse des Films entdeckt, wo Aura zerfällt durch die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken. Alles Mystik, bei einer Haltung gegen Mystik. In solcher Form wird die materialistische Geschichtsauffassung adaptiert! Es ist ziemlich grauenhaft.91

Der Eintrag demonstriert, dass Brechts Urteil über Benjamin bei weitem nicht so uneingeschränkt enthusiastisch ausfiel wie umgekehrt. Brecht schätzte Benjamin hauptsächlich als Kritiker seiner eigenen Arbeiten und erwartete von ihm »fachmännische Urteile,«92 wie es Margarete Steffin, die Benjamins Aufsatz Was ist das epische Theater? für Brecht abgeschrieben hatte, auf den Punkt brachte.93 In diesem heute so viel zitierten Text überträgt Benjamin die von Brecht ins Spiel gebrachte Geste erstmals auf dessen Theater.

Was ist das epische Theater? entstand anlässlich der Mann ist Mann‐Inszenierung im Staatlichen Schauspielhaus Berlin. Wenige Wochen vor der Premiere am 6. Februar 1931 hatte Brecht in seinen Anmerkungen zur Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« zum ersten Mal theoretische Überlegungen zum epischen Theater publiziert, die nun von Kritikern wie Alfred Kerr oder Bernhard Diebold vor der Folie der Mann ist Mann‐Aufführung auf ihre Haltbarkeit geprüft wurden.94 Die aus diesem komparatistischen Verfahren resultierende Kritik Diebolds führte dazu, dass der Essay niemals in der Frankfurter Zeitung, wo er veröffentlicht werden sollte, abgedruckt worden ist.95 Dass die Geste im Fokus dieser bahnbrechenden Brecht‐Analyse steht, wird schon aus dem Typoskript Studien zur Theorie des epischen Theaters ersichtlich, das offenbar eine Vorarbeit zu dem 1931 fertiggestellten Aufsatz darstellt. »Das epische Theater ist gestisch«, lautet der erste Satz dieses programmatischen Entwurfs, der bereits in nuce wesentliche Überlegungen Benjamins zum Theater Brechts enthält und sich an drei grundsätzlichen Fragen abarbeitet: »Erstens, woher bezieht das epische Theater seine Gesten? Zweitens, was versteht man unter einer Verwertung von Gesten? Als drittes würde sich dann die Frage anschließen: auf Grund welcher Methoden findet im epischen Theater die Verarbeitung und Kritik der Gesten statt?«96 Was Benjamin hier in wenigen Sätzen skizziert, führt er im eigentlichen Aufsatz Was ist das epische Theater? näher aus. Als unverwechselbare Vorzüge der Geste hebt er zum einen ihre minimale Verfälschbarkeit hervor und zum anderen den Umstand, dass sie »einen fixierbaren Anfang und ein fixierbares Ende«97 habe. Daraus leite sich die ihr inhärente Dialektik ab, die Benjamin zu folgendem Schluss führt: »Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen. Für das epische Theater steht daher die Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde.«98 Die Unterbrechung von Abläufen wiederum bewirke die für Brechts Theater so zentrale Entdeckung von Zuständen.

Es ist nur konsequent, dass sich Benjamin im Versuch, diese Überlegung so anschaulich wie möglich zu gestalten, auf eine von Brecht konzipierte Figur stützt, nämlich auf den Keuner:

Das primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plötzlich tritt da ein Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, ein Kopfkissen zu ballen, um es nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fenster zu öffnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick erscheint in der Tür der Fremde. »Tableau«, wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heißt: der Fremde stößt jetzt auf den Zustand: zerknülltes Bettzeug, offenes Fenster, verwüstetes Mobiliar. […] So dringt Keuner – so heißt der Fremde – in die Höhle des einäugigen Ungetüms »Klassenstaat«.99

Was Benjamin hier in Bezug auf Brechts Theater ausführt, beschreibt gleichzeitig einen wesentlichen Ansatz seiner geschichtsphilosophischen Erwägungen. Wie Keuner einen Ablauf unterbricht und dadurch alle Beteiligten aus ihrem Zusammenhang reißt, so bewirkt der materialistische Geschichtsschreiber durch sein zitierendes Verfahren, dass »der jeweilige historische Gegenstand aus seinem Zusammenhange gerissen wird,«100 wie es im weiter oben bereits angeführten Notat aus dem Passagen‐Werk heißt.

Tatsächlich dürften sich die beiden Denker intensiv über Fragen des Diskontinuitiven ausgetauscht haben. Wenngleich Benjamin Brecht gegenüber eher zurückhaltend mit seinen Passagen verfuhr, so sind es doch leitmotivische Formulierungen dieser Arbeit, die in Brechts Texten widerhallen. In einem Nachtrag zum Messingkauf, den Brecht in seinem Arbeitsjournal am 3. August 1940 notiert, heißt es programmatisch:

Bei der aristotelischen Stückkomposition und der dazugehörigen Spielweise (die beiden Begriffe sind eventuell umzustellen) wird die Täuschung des Zuschauers über die Art und Weise, wie die Vorgänge auf der Bühne sich im wirklichen Leben abspielen und dort zustande kommen, dadurch gefördert, daß der Vortrag der Fabel ein absolutes Ganzes bildet. Die Details können nicht einzeln mit ihren korrespondierenden Teilen im wirklichen Leben konfrontiert werden. Man darf nichts »aus dem Zusammenhang reißen«, um es etwa in den Zusammenhang der Wirklichkeit zu bringen. Das wird durch die verfremdende Spielweise abgestellt. Die Fortführung der Fabel ist hier diskontinuierlich […].101

Die Unterbrechung ist es mithin, an der Brecht den wesentlichen Unterschied zwischen dem herkömmlichen und dem von ihm propagierten nichtaristotelischen Theater festmacht. Er will ein das Prinzip der Diskontinuität ins Zentrum rückendes Theater. Die zitierte Notiz, die diese Forderung so eindrücklich belegt, ist nicht nur von Benjamins Passagen‐Arbeit geprägt.102 Gleichwohl spricht aus diesen Zeilen die Lektüre der zweiten Version des Essays Was ist das epische Theater?, die bei Brecht zunächst – schenkt man einem Brief Margarete Steffins Glauben – auf wenig Zuspruch gestoßen ist.103 Wenngleich Benjamin selbst diesen 1939 anonym in Maß und Wert publizierten Text als eine gering überarbeitete Version des zehn Jahre zuvor entstandenen Brecht‐Essays beschreibt,104 so ist dieser tatsächlich als eigenständige Arbeit zu betrachten. Was ist das epische Theater? <2> rekurriert auf neue Texte und Inszenierungen Brechts und enthält Schlüsseltermini, an denen wesentliche Bewegungen abgelesen werden können, die sowohl die Theatertheorie Brechts als auch das Benjamin’sche Denken der 1930er‐Jahre prägen. Die Unterbrechung wird hier von Benjamin erstmals als Methode zur »Entdeckung (Verfremdung) von Zuständen«105 beschrieben und erfährt als solche innerhalb von Benjamins Beschäftigung mit Brechts nicht‐aristotelischer Dramaturgie eine besondere Aufmerksamkeit. Auffallend ist, dass sich Benjamin in diesem Zusammenhang vorrangig einer kinematografischen Begrifflichkeit bedient:

Das epische Theater rückt, den Bildern des Filmstreifens vergleichbar, in Stößen vor. Seine Grundform ist die des Chocks, mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stücks aufeinandertreffen. Die Songs, die Beschriftungen, die gestischen Konventionen heben eine Situation gegen die andere ab.106

Die von der filmischen Montage inspirierte Unterbrechung offenbart sich mithin als Methode zur Entdeckung von durch den Chock erfahrbar werdenden Zuständen. Die Gesten, die wir durch eine derartige Unterbrechung erhalten, zeigen den Menschen aber nicht als Subjekt seiner eigenen Handlungen, sondern vielmehr als dem Geschehen ausgesetzt, wie die Philosophin Kim Hyun‐Kang unterstreicht: »Die Geste ist der Modus des Außer‐sich‐Seins schlechthin.«107

Dass sowohl Benjamin als auch Brecht eine spezielle Faszination für den (Stumm‑)Film (den Brecht übrigens grundsätzlich als »Gestentafel«108 bezeichnete) hegten, ist bekannt. Interessant aber erscheint mir, dass beide auch in ihren theatertheoretischen Schriften darauf zurückkommen – und zwar mit dem Effekt, das ent‐ und aufdeckende Potenzial der unterbrechenden Geste hervorzukehren. Eindrücklich zeigt sich das in einer 1945 entstandenen Passage des Messingkauf, in der es heißt:

Der Augsburger nahm einen Film von der Weigel beim Schminken. Er zerschnitt ihn, und jedes einzelne Bildchen zeigte einen vollendeten Ausdruck, in sich abgeschlossen und mit eigener Bedeutung. »Man sieht, was für eine Schauspielerin sie ist«, sagte er bewundernd. »Jede Geste kann in beliebig viel Gesten zerlegt werden, die alle für sich vollkommen sind. Da ist eines für das andere da und zugleich für sich selber. Der Sprung ist schön und auch der Anlauf.« Aber das wichtigste schien ihm, daß jede Muskelverschiebung beim Schminken einen vollkommenen seelischen Ausdruck hervorrief. Die Leute, denen er die Bildchen zeigte und die Frage vorlegte, was die verschiedenen Ausdrücke bedeuteten, rieten bald auf Zorn, bald auf Heiterkeit, bald auf Neid, bald auf Mitleid.109

Das Zerschneiden des Filmes, das Brecht hier beschreibt, kann mit Benjamin als unterbrechender, gestischer Akt gelesen werden, der eine Verfremdung und also Entdeckung von Zuständen provoziert. Wenngleich Brecht die zweite Version von Was ist das epische Theater? zu ihrer Entstehungszeit offenbar abgelehnt hat, so erscheint sie hier im Messingkauf gekonnt in Szene gesetzt. Brecht beruft sich eindeutig auf Benjamins Paradigma, wonach die Geste das Kontinuum des Geschehens aufbricht und es in Bruchstücke einer unabgeschlossenen Wirklichkeit fragmentiert. Genau darin liegt das politische Potenzial der gestischen Theorie Brechts und Benjamins, das sie für die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Formen des Theaters so relevant macht.

Die politische Qualität der Unterbrechung hebt auch Adorno hervor – und zwar nicht in seinem Engagement‐Essay, sondern in der Ästhetischen Theorie, in der es zunächst paradigmatisch heißt: »Kunst obersten Anspruchs drängt über Form als Totalität hinaus, ins Fragmentarische.«110 Die Besonderheit der Thesen in Brechts Stücken ergibt sich seiner Ansicht nach daraus, wie sie »zum Zerfall der Einheit des Sinnzusammenhangs«111 beitragen. Das Engagement Brechts zeige sich in seiner Zerrüttung des Kunstwerks.112 Tatsächlich bringt Adorno hier schlichtweg auf den Punkt, was Benjamin bereits vorgedacht hat: dass Theater nicht (nur) dann »engagiert« ist, wenn es politische Themen aufs Tableau bringt, sondern dass sich sein politisches Potenzial in der Suspendierung von Kohärenz und Kohäsion, mithin in seiner Form äußert. Das Unterbrechen, so Benjamin, sei »eines der fundamentalen Verfahren aller Formgebung […]. Es reicht über den Bezirk der Kunst weit hinaus.«113 Die Geste sprengt Handlung, Sinnzusammenhang und Kunstwerk auf, erteilt Einfühlung und Illusion eine strikte Absage. Sie ist die Mutter der Dialektik und somit höchst politisch.

Endnoten

1 Jelinek, Elfriede: »Schwarzwasser.« In: Dies.: Schwarzwasser. Am Königsweg. Zwei Theaterstücke. Berlin: Rowohlt 2020, S. 149–240, hier S. 198–199.

2 Heeg, Günther: Das transkulturelle Theater. Berlin: Theater der Zeit 2017, S. 8.

3 Vgl. exemplarisch Green, J. Richard: »Towards a Reconstruction of Performance Style.« In: Easterling, Pat/Hall, Edith (Hg.): Greek and Roman Actors: Aspects of an Ancient Profession. Cambridge: Cambridge University Press 2002, S. 93–126; Catoni, Maria Luisa: Schemata: Communicazione non verbale nella Grecia antica. Pisa: Edizioni della Normale 2005; Llewellyn‐Jones, Lloyd: »Body Language and the Female Role‐Player in Greek Tragedy and Japanese Kabuki Theatre.« In: Cairns, Douglas L. (Hg.): Body Language in the Greek and Roman Worlds. Swansea/Wales: Classical Press of Wales 2005, S. 73–105.

4 Vgl. u.a. Kendon, Adam: Gesture. Visible Action as Utterance. Cambridge: Cambridge University Press 2004; Tomasello, Michael: Origins of Human Communication. Cambridge: MIT Press 2008.

5 Vgl. hierzu exemplarisch Darian, Veronika/de Smit, Peer (Hg.): Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven. Berlin: Neofelis 2020; Eggers, Katrin/Grüny, Christian (Hg.): Musik und Geste: Theorien, Ansätze, Perspektiven. München/Basel: Fink 2018; Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni/Richtmeyer, Ulrich: Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst. Bielefeld: transcript 2014; Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis. München: Fink 2010; Darian, Veronika (Hg.): Verhaltene Beredsamkeit? Politik, Pathos und Philosophie der Geste. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009; Görling, Reinhold/Skrandies, Timo/Trinkaus, Stephan (Hg.): Geste. Bewegung zwischen Film und Tanz. Bielefeld: transcript 2009; Noland, Carrie/Ness, Sally Ann (Hg.): Migrations of Gesture. Minneapolis: University of Minneapolis Press 2008.

6 Darian, Veronika/de Smit, Peer: »Gesten und Forschung – Praktiken und Perspektiven. Eine Einführung.« In: Dies. (Hg.): Gestische Forschung, S. 9–31, hier S. 11. Vgl. hierzu auch Jäkel, Angelika: Gestik des Raumes. Zur leiblichen Kommunikation zwischen Benutzer und Raum in der Architektur. Tübingen/Wien: Wasmuth 2013, S. 28–45.

7 Darian, Veronika/de Smit, Peer: »Gesten und Forschung,« S. 11.

8 Kolesch, Doris: »Die Geste der Berührung.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 225–241, hier S. 228.

9 Darian, Veronika/de Smit, Peer: »Gesten und Forschung – Praktiken und Perspektive«, S. 12. Vgl. hierzu v.a. Agamben, Giorgio: »Noten zur Geste.« In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Übers. v. Sabine Schulz. Berlin: diaphanes 2001, S. 47–56; Nancy, Jean‐Luc: Die Ausdehnung der Seele: Texte zu Körper, Kunst und Tanz. Zürich et al.: diaphanes 2010.

10 Ishino, Mika/Stam, Gale: »Introduction.« In: Dies. (Hg.): Integrating Gestures. The Interdisciplinary Nature of Gesture. Amsterdam: Benjamins 2011, S. 3–13, hier S. 4.

11 Blaschke, Gerald/Ferrin, Nino/Schinkel, Sebastian: »Gesten und Erfahrungsräume. Beispiele aus einem ethnographischen Forschungsprojekt zu den Untersuchungsfeldern Familie, Peer‐Kultur und Mediennutzung.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 298–316, hier S. 298.

12 Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto/Buffalo/London: University of Toronto Press 2002, S. 25. Vgl. dazu auch Bal, Mieke: Lexikon der Kulturanalyse. Übers. v. Brita Pohl. Wien: Turia + Kant 2016, S. 25–26. Zum Potenzial von Bals Konzept für die Kulturwissenschaften vgl. v.a. Neumann, Birgit/Nünning, Ansgar (Hg.): Travelling Concepts for the Study of Culture. Berlin/Boston: de Gruyter 2012.

13 Bal, Mieke: Travelling Concepts in the Humanities, S. 4.

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. Kovacs, Teresa/Pewny, Katharina: »Travelling Concepts, Travelling Theatre? Transcultural Translations of Performance in Wunderbaum’s Looking for Paul.« In: Kovacs, Teresa/Nonoa, Koku G. (Hg.): Postdramatic Theatre as Transcultural Theatre. A Transcultural Approach. Tübingen: Narr 2018, S. 71–86.

16 Goppelsröder, Fabian/Richtmeyer, Ulrich: »Vorwort.« In: Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni/Richtmeyer, Ulrich: Bild und Geste, S. 7–13, hier S. 8.

17 Gebauer, Gunter: »Die Geste als Vermittlung von Allgemeinheit und Ich.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 317–326, hier S. 317.

18 Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph: »Gesten. Zur Einleitung.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 9–17, hier S. 9.

19 Wulf, Christoph: »Der mimetische und performative Charakter von Gesten. Perspektiven für eine kultur‐ und sozialwissenschaftliche Gestenforschung.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 283–297, hier S. 291.

20 Ebd., S. 291.

21 Heeg, Günther: Das Transkulturelle Theater, S. 149.

22 Wulf, Christoph: »Einleitung.« In: Wulf, Christoph u.a. (Hg.): Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation. Ethnografische Feldstudien. Wiesbaden: VS Verlag 2011, S. 7–26, hier S. 20.

23 Fischer‐Lichte, Erika: »Gesten im Theater. Zur transformativen Kraft der Geste.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hg.): Gesten. Inszenierung, Aufführung, Praxis, S. 208–224, hier S. 213.

24 Ebd., S. 218.

25 Ebd., S. 218.

26 Roselt, Jens: »Figur.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart: Weimar 2014, S. 107–111, hier S. 110.

27 Haß, Ulrike: »Theaterästhetik. Textformen.« In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 62–68, hier S. 66.

28 Jelinek, Elfriede: »Die Leere öffnen (für, über Jossi Wieler).« http://elfriedejelinek.com/fjossi2.htm, 24.11.2006 [Zugriff am 12.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zum Theater).

29 Kuba, Alexander: »Geste/Gestus.« In: Fischer‐Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.): Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 136–142, hier S. 136.

30 Vgl. Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck.

31 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf: Bollmann 1991, S. 8.

32 Ebd., S. 47.

33 Koberg, Roland: »Die Bühne ist ein klaustrophobischer Raum. Die Schriftstellerin Elfriede Jelinek im E‑Mail‐Austausch mit dem Dramaturgen Roland Koberg.« In: Programmheft zu Elfriede Jelineks »FaustIn and out.« Schauspielhaus Zürich: 2012.

34 Jelinek, Elfriede: »Das liebe, gute, mollige Land.« Zit. n. http://users.mur.at/bs/ernst/archive/trilogie/trilogie/info_trilogie.html [Zugriff am 18.1.2023].

35 Flusser, Vilém: Gesten, S. 44

36 Ebd., S. 44.

37 Stajner, Tamara: »Die Gespräche ohne Gesichter.« In: Dies.: Musik und Literatur. Vergleich des künstlerischen und musikalischen Ausdrucks in Werken von Schulhoff, Jelinek, Kleindienst und Ligeti. Saarbrücken: AV Akademikerverlag 2012, S. 74–81, hier S. 76.

38 Vgl. z.B. Lecerf, Christine: »Elfriede Jelinek: ›J’ai été à l’ecole de la destruction.‹« In: Télérama, 23.2.2005; Manola, Franz: »Die Sprache ist ein Werkstück.« http://newsv1.orf.at/061020-5088 [Zugriff am 18.1.2023].

39 Die schwedische Akademie: »Begründung des Nobelpreises. Pressemitteilung vom 7.10.2004.« Zit. n. Janke, Pia: Literaturnobelpreis. Elfriede Jelinek. Wien: Praesens 2005, S. 19.

40 Niermann, Ingo: Interview mit Elfriede Jelinek, 27. Februar 2014. http://fiktion.cc/elfriede-jelinek[Zugriff am 18.10.2018].

41 Koelbl, Herlinde: »Elfriede Jelinek.« In: Dies.: Im Schreiben zuhaus. Wie Schriftsteller zu Werke gehen. Fotografien und Gespräche. München: Knesebeck 1998, S. 64–67, hier S. 64–65.

42 Flusser, Vilém: Gesten, S. 42.

43 Stephens, Simon: »Game on.« In: The Stage, 12.7.2021. Vgl. dazu auch Jürs‐Munby, Karen: »Gedanken zum Ernst der Komik in Jelinek‐Inszenierungen.« https://fpjelinek.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Komik_-_Jürs-Munby-Beitrag.pdf [Zugriff am 18.1.2021].

44 Haß, Ulrike: »Theaterästhetik. Textformen«, S. 62.

45 Flusser, Vilém: Gesten, S. 53.

46 Ebd., S. 53.

47 Hochholdinger‐Reiterer, Beate: »Spricht wer? Zwischenbilanz textanalytischer Annäherungen.« In: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hg.): »Postdramatik«. Reflexion und Revision. Wien: Praesens 2015, S. 98–111, hier S. 109.

48 Jelinek, Elfriede: »Es ist Sprechen und aus.« http://elfriedejelinek.com/fachtung.htm 15.11.2013 [Zugriff am 19.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zum Theater).

49 Zur Bedeutung des Kulinarischen für eine jüngere österreichische Dramatiker*innengeneration vgl. Felber, Silke: »Gemeinschaftsmahl? War einmal. Brüchige (Tisch‑)Ordnungen in gegenwärtigen österreichischen Theatertexten.« In: Germanica 57 (2015), S. 175–191.

50 Jelinek, Elfriede: »Sinn egal. Körper zwecklos.« http://elfriedejelinek.com/fsinn-eg.htm 1997 [Zugriff am 19.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zum Theater).

51 Flusser, Vilém: Gesten, S. 54.

52 Ebd., S. 54.

53 Jelinek, Elfriede: »Text‐Wut.« http://elfriedejelinek.com/fschille.htm 19.1.2005 [Zugriff am 19.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zum Theater).

54 Ebd.

55 Ebd.

56 Vgl. Manoschek, Walter (Hg.): Der Fall Rechnitz. Das Massaker an Juden im März 1945. Mit einem Text von Elfriede Jelinek: »Im Zweifelsfalle.« Wien: Braumüller 2009.

57 Jelinek, Elfriede: »Meine gute Textwurst.« http://elfriedejelinek.com/fnestroy2.htm 9.11.2013 [Zugriff am 19.10.2018] (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik Zu Politik und Gesellschaft).

58 Hochholdinger‐Reiterer, Beate: »Spricht wer?«, S. 108.

59 Haß, Ulrike: »Theaterästhetik. Textformen«, S. 66.

60 Jelinek, Elfriede: »Es ist Sprechen und aus.«

61 Haß, Ulrike: »Theaterästhetik. Textformen«, S. 62.

62 Flusser, Vilém: Gesten, S. 56.

63 Jezierska, Agnieszka/Meister, Monika: »Vom Ort des Sprechens – Über Tiere im Theater.« https://jelinekgender.univie.ac.at/koerper/jezierska-meister-ort-des-sprechens, 21.1.2017 [Zugriff am 20.10.2018].

64 Meister, Monika/Lodes, Birgit: »Variationen des Stillstehens. Musikalische und performative Strukturen in Elfriede Jelineks Winterreise.« In: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hg.): »Postdramatik«. Reflexion und Revision, S. 263–271, hier S. 267.

65 Jelinek selbst hat den Terminus bereits 1990 in einem Interview zu Wolken.Heim. vorgeschlagen. Vgl. Jelinek, Elfriede: »›Ich wollte diesen weißen Faschismus.‹ Interview mit Walter Vogl.« In: Basler Zeitung, 16.10.1990.

66 Zur Problematik dieser Begrifflichkeiten vgl. z.B. Haß, Ulrike: »Theaterästhetik. Textformen«, S. 65–66.

67 Vgl. Felber, Silke/Kovacs, Teresa: »Schwarm und Schwelle. Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.« In: Transit 10/1 (2015) http://transit.berkeley.edu/2015/felber_kovacs [Zugriff am 20.10.2018].

68 Ebd.

69 Horn, Eva: »Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung.« In: Gisi, Lucas Marco/Horn, Eva (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript 2009, S. 7–27, hier S. 14.

70 Ebd., S. 7–8.

71 Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? <1>.« In: Ders.: Versuche über Brecht. Hgg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 17–29, hier S. 28 und S. 19.

72 Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Felber, Silke: »Versuche über die Geste. Benjamin und Brecht revisited.« In: Haberpeuntner, Birgit/Konrad, Melanie/Schulte, Christian (Hg.): Gesten – Schwellen – Übergänge. Anschlüsse an Walter Benjamin. Berlin: Vorwerk 8 (im Erscheinen).

73 Vgl. hierzu Yun, Mi‑Ae: Walter Benjamin als Zeitgenosse Bertolt Brechts. Eine paradoxe Beziehung zwischen Nähe und Ferne. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000, S. 58–63.

74 Vgl. Benjamin, Walter: »Programm eines proletarischen Kindertheaters.« In: Ders.: Gesammelte Schriften II.2. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, S. 763–768 [im Folgenden zitiert mit der Sigle GS und der Bandnummer].

75 Vgl. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 55ff.

76 Benjamin, Walter: »Zu Pioniere in Ingolstadt.« In: Ders.: GS IV.2. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 1028–1029, hier S. 1028.

77 Benjamin, Walter: »Aus dem Brecht‐Kommentar.« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 40–44, hier S. 40.

78 Ebd., S. 41.

79 Vgl. Benjamin, Walter: »Bert Brecht.« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 9–16, hier S. 10.

80 Ebd., S. 15.

81 Ebd., S. 15.

82 Ebd., S. 15.

83 Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.1. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 595. Benjamin bezieht sich hier auf Gustav Mayers Engels‐Biografie, vgl. dazu die Anmerkung 595 des Herausgebers zum Passagen‐Werk in Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.2. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 1309.

84 Am 9. August notiert Brecht in seinem Arbeitsjournal: »Walter Benjamin hat sich in einem kleinen spanischen Grenzort vergiftet. […] Ich lese die letzte Arbeit, die er dem Institut für Sozialforschung eingeschickt hat. Günther Stern gibt sie mir mit der Bemerkung, sie sei dunkel und verworren, ich glaube, auch das Wort ›schon‹ kam darin vor. Die kleine Abhandlung behandelt die Geschichtsforschung und könnte nach der Lektüre meines ›Caesar‹ geschrieben sein (mit dem Benjamin, als er ihn in Svendborg las, nicht viel anfangen konnte). Benjamin wendet sich gegen die Vorstellung von der Geschichte als eines Ablaufs, vom Fortschritt als einer kraftvollen Unternehmung ausgeruhter Köpfe, von der Arbeit als der Quelle der Sittlichkeit, von der Arbeiterschaft als Protegés der Technik usw. Er verspottet den Satz, man müsse sich wundern, daß so etwas wie der Faschismus ›noch in diesem Jahrhundert‹ vorkommen könne (als ob er nicht die Frucht aller Jahrhunderte wäre). – Kurz, die kleine Arbeit ist klar und entwirrend (trotz aller Metaphorik und Judaismen), und man denkt mit Schrecken daran, wie klein die Anzahl derer ist, die bereit sind, so etwas wenigstens mißzuverstehen.« (Brecht, Bertolt: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe der Werke Bertolt Brechts 27: Journale 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 12 [Werke aus dieser Ausgabe werden im Folgenden mit der Sigle GBA, der Bandnummer und der Seitenanzahl zitiert].)

85 Benjamin hält dazu in einem Brief vom 10. August 1936 an Alfred Cohn fest: »Die Vormittage galten einer genauen Besprechung meiner […] Arbeit. Ihre Aufnahme durch Brecht ging nicht ohne Widerstände, ja Zusammenstöße von statten. Das alles aber war sehr fruchtbar und führte, ohne den Kern der Arbeit im geringsten anzutasten, zu mehreren bemerkenswerten Verbesserungen.« (Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe V (1935–1937). Hgg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 349.)

86 Adorno, Theodor W.: Über Walter Benjamin. Hgg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 26.

87 Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe V (1935–1937), S. 81 [Brief an Bertolt Brecht, 20.5.1935].

88 Vgl. dazu die Anmerkungen des Herausgebers zum Passagen‐Werk in Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.2, S. 1263.

89 Vgl. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe VI (1938–1940). Hgg. v. Christoph Gödde und Henri Lonitz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 64 [Brief an Max Horkheimer, 16.4.1938].

90 Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe VI (1938–1940), S. 143 [Brief an Kitty Marx‐Steinschneider, 20.7.1938].

91 Brecht, Bertold: GBA 26: Journale 1. 1913–1941, S. 315.

92 Margarete Steffin an Walter Benjamin [30.5.1938], zit.n. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 228.

93 Vgl. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 235.

94 Vgl. ebd., S. 182–183.

95 Vgl. Müller‐Schöll, Nikolaus: »Bertolt Brecht.« In: Lindner, Burkhardt: Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler 2011, S. 77–91, hier S. 80.

96 Benjamin, Walter: »Studien zur Theorie des epischen Theaters.« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 30–31, hier S. 30.

97 Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? <1>«, S. 19.

98 Ebd., S. 19.

99 Ebd., S. 20–21.

100 Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.1, S. 595.

101 Brecht, Bertolt: GBA 26: Journale 1, S. 406–407. Die Passage findet sich auch in einem »Nachtrag zur Theorie des ›Messingskaufs‹« (vgl. Brecht, Bertolt: GBA 22.2: Schriften 2, S. 701).

102 Exemplarisch sei hier auf folgende Passage verwiesen: »Für den materialistischen Dialektiker ist die regulative Idee der Tradition von den herrschenden Klassen (also in erster Linie von der Bourgeoisie), die Kontinuität die regulative Idee der Tradition von den Unterdrückten (also in erster Linie vom Proletariat).« (Benjamin, Walter: Das Passagen‐Werk. GS V.1, S. 459–460.)

103 »Warum ich Ihnen nicht schrieb über den aufsatz in MASS UND WERT? Das kann ich Ihnen sagen, obwohl br. es nicht wollte: ehrlich gesagt, gefiel er mir nicht. auch freunden von mir nicht. aber ich kann Ihnen jetzt nichts näheres darüber schreiben (helli versprach, es zu tun), da ich den aufsatz nicht mehr hier habe. nur eines: warum bleiben Sie so hartnäckig dabei (ich fragte schon letztes mal danach), das stück FURCHT UND ZITTERN zu nennen? finden Sie das nicht selber einen schlechten titel? (ich schreibe es aber noch einmal, dass es FURCHT UND ELEND DES DRITTEN REICHES heißt).« (Margarete Steffin an Walter Benjamin [August 1939], zit.n. Wizisla, Erdmut: Benjamin und Brecht, S. 234–235.)

104 So merkt Benjamin in einem Brief an Gretel Adorno an: »Es ist zehn Jahre her, daß ich auf Veranlassung der Frankfurter Zeitung einen Aufsatz ›Was ist das epische Theater?‹ schrieb. […] Jetzt habe ich ihn, mit geringfügigen Änderungen, in ›Maß und Wert‹, die eine Debatte über Brecht eröffnen, untergebracht.« (Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe VI (1938–1940), S. 309 [Brief an Gretel Adorno, 26.6.1939].

105 Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? <2>« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 32–39, hier S. 35.

106 Ebd., S. 37–38. Dieselbe Passage findet sich in der Abhandlung Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. Benjamin verfasste sie anlässlich der Uraufführung von Furcht und Elend des Dritten Reiches, die er im Mai 1938 in Paris miterlebt hatte (vgl. Benjamin, Walter: »Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. Zur Uraufführung von acht Einaktern Brechts.« In: Ders.: Versuche über Brecht, S. 49–53, hier S. 50. Der zuletzt zitierte Satz unterscheidet sich minimal, er lautet hier: »Die Songs, die Beschriftungen im Bühnenbilde, die gestischen Konventionen der Spielenden heben die eine Situation von der andern ab.«). Interessanterweise bezeichnete Brecht Furcht und Elend als »Gestarium« und »Gestentafel« (vgl. Brecht, Bertold: GBA 26: Journale 1. 1913–1941, S. 318.)

107 Hyun‐Kang, Kim: »Die Geste als Figur des Realen bei Walter Benjamin.« In: Richtmeyer, Ulrich et al. (Hg.): Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie und Kunst. Bielefeld: transcript 2014, S. 107–126, hier S. 108.

108 Brecht, Bertold: GBA 21: Schriften 1. 1914–1933, S. 211.

109 Brecht, Bertolt: GBA 22.2: Schriften 2, S. 811.

110 Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften 7: Ästhetische Theorie. Hgg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung v. Gretel Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 221.

111 Ebd., S. 366.

112 Vgl. ebd., S. 366.

113 Benjamin, Walter: »Was ist das epische Theater? <2>«, S. 36.