6 Zu einer Ästhetik des Paratragischen

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?

Thomas Bernhard

Wie aus den vorangegangenen Kapiteln deutlich wird, greifen Elfriede Jeli­neks gemeinhin als »postdramatisch« bezeichnete Theatertexte intensiv auf die griechisch‐antike Tragödie zurück. In ihren Arbeiten für das Theater verknüpft die Autorin direkte und indirekte Zitate aus kanonischen Texten des Aischylos, des Sophokles und des Euripides mit anderen literarischen, philosophischen, theologischen, aber auch mit populärkulturellen Materialien. Darüber hinaus finden wir in Kein Licht. und Schnee Weiß Bezüge zum Satyrspiel, namentlich zum fragmentarisch erhaltenen sophokleischen Text Die Satyrn als Spürhunde. All diese intertextuellen Antike‐Bezüge werden von Jelinek am Ende der Theatertexte grundsätzlich und gelegentlich auch mit Informationen zu konkret herangezogenen Übersetzungen genannt.

Auffälligerweise jedoch wartet kein einziger Theatertext Jelineks mit einem Verweis auf die attische Komödie auf. Das erstaunt schon allein deshalb, weil Jelineks Texte von spezifischen Spielarten des Komischen geprägt sind, denen in der Forschung jüngst eine vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wird.1 Wenngleich sich die Autorin nirgendwo explizit auf bestimmte Komödien(-Texte) beruft, so plädiere ich dennoch dafür, Jelineks Theaterästhetik als tief in der komischen Tradition der Alten Komödie verwurzelt zu lesen. Jelineks Tragödienfortschreibungen ähneln den Komödien des Aristophanes gerade durch ihren intensiven Bezug auf das Tragische. Nicht nur die prominenten Arbeiten des Aristophanes, auch fragmentarisch erhaltene Texte seiner Zeitgenossen legen nahe, dass Komödiendichter damals eine Vorliebe dafür hegten, bestimmte Tragödien aufzugreifen, diese zu überschreiben und darüber hinaus die Dichter dieser Texte explizit zu adressieren. Euripides tritt in drei Komödien des Aristophanes auf, nämlich in den Acharnern (425 v. Chr.), in den Thesmophoriazusen (411 v. Chr.) und in den Fröschen (505 v. Chr.). Zudem finden wir in vielen Komödien parodierende Seitenhiebe auf das Umfeld der dramatischen Festivals. So ist es etwa sehr wahrscheinlich, dass Aristophanes’ leider nicht erhaltener Text Proagon auf den gleichnamigen Wettbewerb abzielte, bei dem die konkurrierenden Dichter die Titel ihrer später im Zuge des Agons gezeigten Stücke verkündeten. Das Komische innerhalb der Komödien stellte sich aber auch mittels einer gewitzten Appropriation des sprachlichen und performativen tragischen Registers her. Bezeichnenderweise ähneln die dramaturgischen Verfahren, die dabei zur Anwendung gelangten, jenen, die wir in Jelineks Fortschreibungen des Tragischen vorfinden, in verblüffender Hinsicht.

Umgekehrt, so möchte ich zeigen, heben Jelineks Texte auch das komische Potenzial hervor, das vielen Tragödien eingeschrieben ist. Tatsächlich kam es gar nicht selten vor, dass sich Tragödiendichter die »niedrige Diktion« der Komödie aneigneten. Dies geschah jedoch nicht mit der Intention, das Publikum zum Lachen zu bringen, sondern diente schlichtweg dazu, die Widerwärtigkeit tragischer Ereignisse auf erschütternde Weise zu betonen. Euripides etwa, auf den Jelinek vor allem in den letzten Jahren vermehrt zurückgreift, bewirkte beim Publikum durch das Einarbeiten komischer Passagen eine spezifische Irritation, durch die der Grauen induzierende Schock im Moment der Katastrophe eine maximale Steigerung erfahren konnte.

Die von mir untersuchten Tragödienfortschreibungen Jelineks, so lautet meine These, unterminieren eine eindeutige Differenzierung zwischen Tragischem und Komischem. Sie lassen die über Jahrhunderte als unantastbar geltenden Grenzen zwischen den beiden Genres flüssig erscheinen und rütteln an einem seit Aristoteles perpetuierten Theaterverständnis, das tunlichst darauf bedacht ist, die Komödie zugunsten der »hehren« Tragödie weitgehend zu diskreditieren. Texte wie Rechnitz (Der Würgeengel), Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. oder Wut legen das komische Potenzial der Tragödie frei, indem sie eine Praktik der Appropriation wiederbeleben, die sowohl für die griechisch‐antike Tragödie als auch für die Alte Komödie charakteristisch ist. Dadurch offenbaren und unterstreichen sie gleichzeitig das politische Potenzial des Komischen.

Endnoten

1 Vgl. Janke, Pia/Schenkermayr, Christian (Hg.): Komik und Subversion. Ideologiekritische Strategien. Wien: Praesens 2020.