3.3 Who’s who? Zur Performativität von Zugehörigkeit

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Jelineks Theatertext Die Schutzbefohlenen entsteht zu einer Zeit, in der sich Formen des verkörperten Protests rund um den Erdball im Vormarsch befinden. Phänomene wie die unter der Bezeichnung Arabischer Frühling subsumierten Aufstände in der Arabischen Welt oder die 2011 einsetzende Bewegung Occupy Wall Street zeugen von einem (wieder) aufflammenden globalen Interesse an organisierten Straßen‐ und Platzprotesten, das nach wie vor ungebrochen ist. Zusammenschlüsse wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, aber auch die Proteste rund um die Maßnahmen zur Eindämmung der durch Covid‑19 induzierten Pandemie verweisen auf neue Ausformungen des Versammelns und des Akkordierens von Gesellschaft und Gemeinschaft. Solche Versammlungen greifen in die politische Gegenwart ein, indem sie radikale Modelle von Demokratie austesten bzw. probieren.

In ihren 2015 publizierten Notes Toward a Performative Theory of Assembly spürt Judith Butler den Dynamiken solcher Versammlungen nach, indem sie Hannah Arendts Verständnis von politischem Handeln eine Konzeption entgegensetzt, die auf die (Ko‑)Präsenz des Körpers im öffentlichen Raum fokussiert. Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht die Überlegung, inwiefern die weltweit verstärkt zutage tretende Tendenz des Sich‐Versammelns als Ausdruck einer spezifischen Volkssouveränität zu lesen und hochzuhalten ist oder ob damit vielmehr die Gefahr eines aufstrebenden »Mobs« verbunden ist. Diesbezügliche Erwägungen müssten, so Butler, stets die zunehmende Prekarisierung, der große Teile der Weltbevölkerung unterworfen sind, im Blick behalten und die affektiven Auswirkungen, die eine solche auf die handelnden Subjekte hat, anerkennen. Tatsächlich nämlich wirkt Prekarität wie ein Brandbeschleuniger der Angst um die eigene Zukunft und um die Zukunft derjenigen, die potenziell von einem abhängig sind; Prekarität zwingt Menschen, die solchen Ängsten erliegen, zu einer spezifischen Eigenverantwortlichkeit: Sie will uns zu Unternehmer*innen unserer selbst machen – freilich aber zu Bedingungen, die ein solches Unterfangen unmöglich erscheinen lassen, wie Butler unterstreicht und aus dieser Paradoxie folgende Frage ableitet:

What function does public assembly serve in the context of this form of »responsibilization«, and what opposing form of ethics does it embody and express? Over and against an increasingly individualized sense of anxiety and failure, public assembly embodies the insight that this is a social condition both shared and unjust, and that assembly enacts a provisional and plural form of coexistence that constitutes a distinct ethical and social alternative of »responsibilization«. As I hope to suggest, these forms of assembly can be understood as nascent and provisional forms of popular sovereignty.56

Diese Überlegungen Butlers sind in unserem Kontext insofern brisant, als sie den dramaturgischen Dreh‐ und Angelpunkt der Hiketiden berühren: Wenn Pelasgos die Volksversammlung über die Aufnahme oder die Abschiebung der Danaiden bestimmen lässt, dann bringt er dadurch die zur Entstehungszeit der Tragödie aufkeimende innovative Maxime der Volkssouveränität ins Spiel. Althistoriker Christian Meier hat darauf hingewiesen, dass die damit in Zusammenhang stehenden Zeilen die frühesten uns erhaltenen Belege dafür darstellen, dass das Volk als Herrscher der polis benannt wird.57 Gleichzeitig aber hinterfragt die Tragödie eine solche Volksherrschaft radikal, indem sie die grundsätzliche Problematik des Entscheiden‐Müssens sowie die politische Verantwortung, die damit einhergeht, äußerst eindringlich durchdekliniert. Aischylos’ Hiketiden setzen mithin die (Volks‑)Versammlung als aufkeimende und prekäre Form der Volkssouveränität in Szene. Die scheinbar unlösbare Problematik, die Pelasgos in die Aporie treibt, spiegelt sich in den realpolitischen Debatten des antiken Athens wider und verweist somit auf die immense Brisanz, die die Tragödie des Aischylos für die attischen Zusehenden gehabt haben muss. So lauten die beiden Kernfragen, die sich sowohl in der Tragödie als auch im grundsätzlichen politischen Diskurs der damaligen Zeit stellen, folgendermaßen: Wem hat die letztendliche Entscheidungsgewalt in politischen Angelegenheiten überantwortet zu werden? Und wer oder was ist (k)ein Volk? Berührt werden damit Grundsatzproblematiken der Demokratie, die in Die Schutzbefohlenen widerhallen:

Allherr du, […] du sorgtest für diese Entscheidung im besonderen Interesse des Landes, das ganz genau deinem Interesse entspricht. Das Land ist du, nein, das denn doch nicht, das Land erlaubt, deine Vorstellungen jederzeit einzubringen, aber das erlaubt es nur dir, nicht nur dir, aber auch dir, vor allem dir, uns erlaubt es gar nichts, wir sind nichts, und uns wird nichts erlaubt, obwohl wir gern mitmachen würden, ist besser als zuschauen, nicht wahr, damit das Recht auch von uns ausgeht, damit das Recht auch vom Volk ausgeht, das dann auch wir sein werden, aber das Recht geht nicht, und wenn es ausgeht, dann macht es sich fein, dann brezelt es sich auf, aber wir dürfen nicht mit, man läßt uns nicht mal ins Lokal hinein, das ist nicht gerecht, obwohl das Recht auch von uns ausginge, zumindest ausgehen könnte […]. (SCH)

Die Passage steht stellvertretend für das dramaturgische Verfahren der Überblendung, das in den Schutzbefohlenen seine Anwendung findet. Zu sprechen scheinen zunächst die Danaiden, die Pelasgos in den Hiketiden davon abhalten wollen, das Volk über ihren Asylanspruch entscheiden zu lassen. Das Land ist du, übersetzt Jelinek den Vers 370 wortwörtlich58 und ruft dadurch die alte Ordnung der Alleinherrschaft auf, auf die die Danaiden pochen. Dieser Ordnung steht die von Pelasgos propagierte Idee der Volksherrschaft gegenüber, die Jelinek im Zitieren einer Broschüre aufgreift, die der ehemalige österreichische Staatssekretär für Integration und spätere Bundeskanzler Sebastian Kurz herausgegeben hat. Diese Broschüre, die den Titel Zusammenleben in Österreich trägt, definiert auf Basis von »1 Grundlage, 6 Prinzipien, 18 Werte[n]«59 mehrere Leitsätze und Ziele für Migrant*innen und verspricht Integration durch Leistung, Anpassung und Willen. Patin für den Richtlinienkatalog stand niemand Geringerer als die österreichische Bundesverfassung, deren erster Satz da lautet: Das Recht geht vom Volk aus. Indem Jelinek diesen Satz zitiert und in den Kontext des antiken Prätexts stellt, entlarvt sie die Zweischneidigkeit des Volksbegriffs, der ebenso einschließend fungiert wie ausschließend: »Das Volk« existiert nur insofern, als es sich von etwas Anderem abgrenzt.

(Rechts‑)populistische Politiker*innen machen sich diesen Umstand zunutze, indem sie Sprachstrategien entwickeln, die darauf abzielen, »das Volk« einem Volk der Ausgeschlossenen oder aber einer vermeintlich korrupten Elite gegenüberzustellen. So hat die Sprachwissenschafterin Ruth Wodak darauf hingewiesen, dass sich Populist*innen grundsätzlich durch die Behauptung hervorheben,

[…] that they and only they represent the »real people« in a nativist and culturalist sense. These utterances manifest a deeply authoritarian mindset in the sense of T W Adorno and his co‑authors in the seminal The Authoritarian Personality (1967). All right‐wing populists will attempt to unite »their people« – the only really »authentic« people – by continuously creating or maintaining confrontations with those who are seen as not being part of the »real America«, the »real France«, the »real Austria«, and so forth.60

Dieser Logik entsprechen auch die abschließenden Worte jener Rede, die der damalige FPÖ‐Parteiobmann Heinz‐Christian Strache am 24. Oktober 2016 anlässlich des Nationalfeiertags im Wiener Palais Epstein gehalten hat: »Denn das Recht geht vom Volk aus. Aber nur so lange, als das Volk von seinem Recht auch Gebrauch macht. Nehmen wir unsere Entscheidung selbstbestimmt in die Hand!«61 Im Beschwören der Maxime der direkten Demokratie betreibt Strache mithin eine für (rechts‑)populistische Politiken typische Variante des Other­ing, die in all ihrer Perfidität in Jelineks Die Schutzbefohlenen wiederkehrt. Das ominöse Wir, mit dem uns der Theatertext konfrontiert, sensibilisiert für den Umstand, dass »das Volk« keine fixe Größe ist, sondern durch Grenzziehungen konstruiert wird. Diese Grenzziehungen sind nicht immer explizit, wie Judith Butler hervorgehoben hat. Die Diskurshandlungen, die mit ihnen in Zusammenhang stehen, sind vielmehr performativer Natur:

That is, they enact certain political distinctions, including inequality and exclusion, without always naming them. When we say that inequality is »effectively« reproduced when »the people« are only partially recognizable, or even »fully« recognizable within restrictively national terms, then we are claiming that the positing of »the people« does more than simply name who the people are. The act of delimitation operates according to a performative form of power that establishes a fundamental problem of democracy even as – or precisely when – it furnishes its key term, »the people«.62

Mit welcher performativen Form der Macht die Abgrenzung einhergeht, durch die sich »ein Volk« postuliert, zeigt sich am Beispiel des Refugee Protest Camp Vienna, das – wie so viele andere zeitgenössische Protestbewegungen – seine Schlagkraft aus dem Prinzip der Versammlung im öffentlichen Raum gewinnt. Derartige Versammlungen bilden sich so plötzlich, wie sie auch wieder zerfallen können, d.h. sie erfüllen in der ihnen inhärenten Unmittelbarkeit und Ephemerität zwei Leitkriterien, die sowohl für Performances wie auch Rituale gelten. Gerade mit diesen Eigenschaften aber ist laut Judith Butler auch die »kritische« Funktion verknüpft, die von öffentlichen Versammlungen ausgeht: »As much as collective expressions of the popular will can call into question the legitimacy of a government that claims to represent the people, they can also lose themselves in the forms of government that they support and institute.«63 Umso bedeutsamer erscheint vor diesem Hintergrund der Umstand, dass sich die Prinzipien der Unmittelbarkeit und der Ephemerität als konstitutiv für das Schreibverfahren bestimmen lassen, das in den Schutzbefohlenen zur Anwendung gelangt. Stets haben wir es hier mit changierenden Sprechinstanzen zu tun, die sich aus dem Nichts konstituieren, sich zu einer scheinbaren Autorität verdichten, dann jedoch wieder zerfallen, wie folgende Passage demonstrieren soll:

Von alter Blutschuld, die grauenhaft der Erde Schoß entwich, ausgerechnet zu uns, zu meiner Familie, kann niemand befreit werden, es kann keine Ausnahme gemacht werden außer mir, ich bin außer mir, alle tot, alle tot, grauenhaft entwichene Schuld, aber das ist Ihnen wurst, das kümmert Sie nicht, allvernichtendes, das kann ich jetzt nicht lesen, Mordgen? Nein, von Genen wissen wir nichts, wir sind Bauern gewesen, wir sind Ingenieure gewesen, wir sind Ärzte gewesen, Ärztinnen, Schwestern, Wissenschaftlerinnen, wir sind etwas gewesen, jawohl, was auch immer […]. (SCH)

Der uniformierende Sprechgestus einer monolithischen (Chor‑)Einheit wird hier zugunsten eines dissonanten Sprechens zersetzt. Das zwischen einem Wir und einem Ich lavierende texttheatrale Verfahren lenkt die Aufmerksamkeit auf die Machtbeziehungen, durch die politische Zugehörigkeit inszeniert wird. Wie aber verfahren Regisseur*innen mit der Performativität von Zugehörigkeit, die Jelineks Text auf den Plan ruft?

Endnoten

56 Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Cambridge et al.: Harvard University Press 2015, S. 16, Herv. SF.

57 Vgl. Meier, Christian: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München: Beck 1988, S. 99.

58 In der Übersetzung von Johann Gustav Droysen, auf die Jelinek grundsätzlich rekurriert, heißt es wiederum: »Du bist die Stadt, du das gesamte Volk« (Aisch. Hik. 370).

59 Staatssekretariat für Integration (Hg.): Zusammenleben in Österreich. https://www.staatsbuergerschaft.gv.at/fileadmin/user_upload/Broschuere/RWR-Fibel.pdf [Zugriff am 23.11.2015].

60 Wodak, Ruth: »The ›Establishment‹, the ›Élites‹, and the ›People‹. Who’s who?« In: Teutsch, Susanne (Hg.): »Was zu fürchten vorgegeben wird.« Alterität und Xenophobie. Wien: Praesens 2019, S. 127–138, hier S. 129.

61 Heinz‐Christian Strache zit.n. N. N.: »HC Strache zum Nationalfeiertag: ›Das Recht geht vom Volk aus!‹« https://www.fpoe.at/artikel/hc-strache-zum-nationalfeiertag-das-recht-geht-vom-volk-aus 24.10.2016 [Zugriff am 4.3.2019]. Vgl. dazu auch Wodak, Ruth: »The ›Establishment‹, the ›Élites‹, and the ›People‹«, S. 129.

62 Butler, Judith: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, S. 6.

63 Ebd., S. 7.