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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Streift man heute durch die Ruinen des Dionysostheaters am Südhügel der Athener Akropolis, so ist man geneigt zu vergessen, welch unglaubliche Imposanz einst von dem für 17.000 Theaterzusehende konzipierten Gebäude ausgegangen ist. Im Vergleich zu diesem kolossalen Gebilde musste der dazugehörige Dionysostempel skandalös unscheinbar angemutet haben. Die heute nicht mehr erhaltene kleine Steinkonstruktion befand sich direkt hinter der skené, dem ursprünglich hölzernen Bühnengebäude – also sprichwörtlich im Schatten des gigantischen Theaters. Was dieses winzige Heiligtum dennoch so besonders machte, waren die dort zu Ehren des Theatergottes Dionysos aufgehängten mormolukeia: Theatermasken, die in siegreich aus den agonalen Festspielen hervorgegangenen Produktionen mitgespielt hatten und die danach an deren Sponsoren, die einflussreichen choregoi, erinnerten. Gleichzeitig stimmten diese Masken die Theaterbesucher auf künftige Aufführungen der Großen Dionysien ein. Sie ergänzten den auf der anderen Straßenseite, im Odeion, stattfindenden proagon, d.h. die Zeremonie, im Rahmen derer die antretenden Dichter gemeinsam mit den Schauspielern dem potenziellen Publikum ihr dramatisches Programm vorstellten. Die zurück in die Vergangenheit und gleichzeitig vorwärts in die unmittelbare (Theater‑)Zukunft weisenden mormolukeia des Dionysostempels waren über eine niedrige Mauer für alle Passant*innen sichtbar – auch für die vielen, die nicht an den Theateraufführungen teilnehmen durften, nämlich Versklavte, Metöken und Frauen1. Als materialisierte Huldigungen an das Theater markierten sie einen Anhaltspunkt für Einheimische und Reisende.

Tatsächlich stellte der Dionysostempel mit seinen so prominent figurierenden Theatermasken den Verkehrsknotenpunkt Athens dar. Hier kreuzten sich drei der wichtigsten Transit‐ und Tourismusrouten des antiken Griechenlands. Am Dionysostempel überschnitten sich die Wege unzähliger Menschen und deren Gedanken, Befürchtungen und Hoffnungen. Er fungierte als Wegmarke und Referenzpunkt zu einer Zeit, die sich im massiven Umbruch befand. Manifest wurde dieser Umbruch in den Tragödien und Komödien, die im dahinter gelegenen Dionysostheater gezeigt wurden – freilich wie gesagt für einen restriktiveren Kreis als für jenes Publikum, das sich auf den Straßen davor traf. Die Texte des Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes, die aus den Dionysischen Wettspielen so erfolgreich hervorgingen und die uns heute nach wie vor begeistern und verstören, waren Orientierungshilfen in einer Welt, die an der Schwelle zu einer neuen politischen Ordnung stand. Damals galt es, die aufkommende Idee der Demokratie auszutesten, das Verhältnis von Religion und Staat neu zu beleuchten und ethisch‐moralische Dilemmata durchzudeklinieren. All die hitzigen Debatten darum, all die abfälligen Kommentare und leidenschaftlichen Plädoyers, die Aischylos und Co dazu inspirierten, diese Fragen vor der Folie der alten Mythen zu verhandeln – all dies hat sich auch in die Straßen rund um die Akropolis und die dazugehörige Architektur eingeschrieben.


Abbildung 1: Dionysostheater Athen 2017. Foto: Silke Felber.

Eine der drei Reiserouten, die sich am Dionysostempel kreuzten, ist die noch heute in Athen vorzufindende Tripodenstraße. Ihren Namen gaben ihr die zahlreichen Dreifüße, die die einst an die sechs Meter breite Straße säumten. Diese Dreifüße wurden zu Ehren von choregoi aufgestellt, die als Gewinner aus den Dithyramben, also den Chorwettstreiten, hervorgegangen waren. Heute ist von der ehemaligen Pracht dieses Boulevards nicht mehr viel zu erahnen. Erhalten ist allein jenes Denkmal, das in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts im Auftrag des Choregen Lysikrates erbaut wurde und das an dessen Sieg im Zuge der Dionysischen Festspiele im Jahr 335/334 v. Chr. erinnert. Es besteht aus einem Sockel, auf dem sich ein sechssäuliger Tempel erhebt.

»Ja, ein paar attische saeulen stehen noch, auch ich, wenn auch etwas schief.«2 So kommentierte Elfriede Jelinek im Jahr 2016 via E‑Mail mein Vorhaben, mich intensiv mit den Überresten der attischen Tragödie innerhalb ihrer Theatertexte auseinanderzusetzen. Ich arbeitete damals als Postdoc an der Forschungsplattform Elfriede Jelinek der Universität Wien und begann, mich brennend für Jelineks Bezüge auf die Ästhetik des griechischen Theaters zu interessieren, die von der Forschung bis dato auffallend wenig beachtet worden waren. Diese Neugier formte die Basis für meine Habilitationsschrift, die von folgender These ausgeht: Jelineks Referenzen auf die griechisch‐antike Tragödie gehorchen einem spezifischen Modus der Unterbrechung, der mit Walter Benjamin als gestisch bezeichnet werden kann. Im intermittierenden Rekurs auf die Tragödie erteilt Jelinek dem teleologischen Denken von Geschichte und dramatischer Handlung eine klare Absage und stört gleichzeitig binär angelegte Konzeptionen wie damals/heute und belebt/unbelebt. Im Fortschreiben der Tragödie, so meine Annahme, durchkreuzt die Autorin den männlichen Blick der alten Dichter und que(e)rt dabei nach wie vor wirksam werdende Kategorisierungen und Zuschreibungen im Hinblick auf Gender, Klasse und Ethnizität.

Das Verfahren des Durchkreuzens ist aber nicht nur Untersuchungsgegenstand dieses Buchs. Es beschreibt auch den dafür gewählten methodischen Zugang, der sich an der Schnittstelle von Theater‐ und Literaturwissenschaft situiert. Indem ich Elfriede Jelineks Arbeiten und den antiken Tragödien aus einer transdisziplinären Perspektive begegne, adressiere ich einerseits die in der Jelinek‐Forschung vorherrschende Tendenz, die Theatertexte Jelineks entweder aus einem genuin literaturwissenschaftlichen Blickwinkel oder mit einem ausschließlich theaterwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse zu lesen. Andererseits intendiere ich dadurch, den in der Forschung zum antiken Theater als symptomatisch geltenden Gap zwischen Philologie, Archäologie und Theaterwissenschaft zu überwinden. David Wiles’ 2008 erhobener Befund, wonach die Auseinandersetzungen mit der antiken Tragödie und Komödie in einem akademischen Umfeld stattfinde, »that permits insufficient dialogue between literary study, archaeology, and theatre studies,«3 ist nach wie vor gültig. Dementsprechend besteht der Analysekorpus meiner Arbeit sowohl aus Theatertexten als auch aus materiellen Artefakten wie antiken Vasen, Steintafeln und Pinakes sowie aus Inszenierungsdokumenten.

Der erste Abschnitt dieses Buchs – Routen, Wegmarken, Aussichten – skizziert Jelineks Theater der (Tragödien‑)Durchquerung in dessen fundamentaler Bedeutung und stellt die methodischen und theoretischen Grundlagen meiner Untersuchung vor. Die darauffolgenden Kapitel können unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden.

Antigone post Fukushima befasst sich mit dem Theatertext Kein Licht. Epilog? (2012), den Jelinek ein Jahr nach der Natur‐ und Nuklearkatastrophe in Fukushima (Japan) verfasst hat und in dem sie sich auf Sophokles’ Antigone bezieht. Im Mittelpunkt des Kapitels steht die Geste der Klage, die – wie ich anhand von Sepulkralkeramiken demonstrieren werde – im antiken Griechenland hauptsächlich von als Frauen gelesenen Personen performt wurde und die eine durch und durch widerständige Kulturtechnik darstellte. Das subversive Potenzial, das von ihr ausging, war der ausschlaggebende Grund dafür, dass die damit in Zusammenhang stehenden Praktiken ausgerechnet im Zuge der Demokratisierungsbestrebungen des Solon radikal eingeschränkt wurden. Ausgehend von diesen Beobachtungen fragt das Kapitel danach, welche Rolle die politisch so relevante Kulturtechnik der (Toten‑)Klage in der sophokleischen Antigone spielt und wie sie sich als Geste der Anklage in Jelineks Fukushima‐Epilog ein‐ bzw. fortschreibt.

Der Abschnitt Gesten im Dazwischen beleuchtet einen der meistrezipierten Theatertexte Elfriede Jelineks, nämlich Die Schutzbefohlenen (2013–2016). Der Theatertext dockt an die Hiketiden des Aischylos an, d.h. an eine Tragödie, in der ein Chor asylsuchender Frauen das Demokratieverständnis der Athener herausfordert. Das sogenannte Andere, so werde ich zeigen, fungiert in AischylosHiketiden als Kalibrierungsorgan zur Auslotung der eigenen politischen Ordnung. Basierend auf dieser Annahme widmet sich das Kapitel dem zweifelhaften Wir, das Jelinek im Fortschreiben des chorischen Sprechens der Hiketiden in Szene setzt und das – ähnlich wie in der antiken Tragödie – die elementaren Fragen und Probleme der demokratischen Ordnung aufwirft, um die der Text kontinuierlich kreist. Von Interesse ist dabei einerseits, inwiefern Jelineks texttheatrales Verfahren die Machtbeziehungen offenlegt, durch die politische Teilhabe inszeniert wird. Andererseits wird untersucht, wie Regisseur*innen mit der Performativität von Zugehörigkeit, die Jelineks Text auf den Plan ruft, umgehen.

Im Unterschied zu dem viel besprochenen und zahlreich aufgeführten Text Die Schutzbefohlenen ist Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) (2018) bislang kaum rezipiert worden. Als Antwort auf dieses Desiderat verschreibt sich das Kapitel Die Bakchen im Skizirkus einer eingehenden Analyse dieses jüngeren Textes, der sich auf die jahrelang vertuschten und verleugneten Missbrauchsfälle innerhalb des Österreichischen Skiverbands (ÖSV) bezieht. Im Fokus der Untersuchung steht die spezifische Dramaturgie, die Jelinek im Rückgriff auf Bauelemente der antiken Tragödie (v.a. auf den Botenbericht) entwickelt, um das Spannungsfeld von Macht, Geschlecht und nationaler Identitätskonstruktion zu dekonstruieren. Die Spuren der Gewalt, die der Theatertext im Verstricken von EuripidesBakchen, Sophokles’ Die Satyrn als Spürhunde und Nietzsches Genealogie der Moral zutage befördert, weisen rückwärts in die Vergangenheit und lassen Ansätze einer posttraumatischen Ästhetik bereits in der griechischen Tragödie sichtbar werden.

Das Kapitel Vibrant Matter widmet sich dem merkwürdigen Eigenleben, über das Objekte innerhalb der antiken Tragödie verfügen. Gegenstände wie die Waffen des Herakles oder die Robe der Medea verweisen auf eine spezifische Agency, die von Jelinek reanimiert wird. Tatsächlich treten »Dinge« in den Theatertexten der Autorin oftmals als eigenständige Akteur*innen auf und entfalten im dynamisch‐affektiv aufgeladenen Austausch mit anderen humanen oder nichtmenschlichen Akteur*innen ihre Energie. Das palimpsestartige Verfahren, das Jelinek dabei anwendet und dem das Kapitel in Form von Close Readings nachspürt, macht die Welt als komplexes Geflecht von organischen und anorganischen Entitäten erfahrbar, die sich unvorhersehbar zusammenschließen und dadurch bestimmte – bei Jelinek freilich vornehmlich desaströs anmutende – Affekte und Effekte erzeugen. Diesbezüglich untersucht werden die Herakles‐Fortschreibung Wut (2016), die sich mit den Pariser Anschlägen von 2015 befasst, der Theatertext Kein Licht. (2011), der sich auf Sophokles’ Die Satyrn als Spürhunde bezieht, und Das Licht im Kasten (2017) – ein Theatertext, der im Rekurs auf EuripidesBakchen die katastrophalen Bedingungen beleuchtet, unter denen Mode in Billiglohnländern produziert wird.

Wenngleich sich Jelineks Theatertexte durch einen intensiven Bezug auf Aischylos, Sophokles und Euripides auszeichnen, so sind es dennoch keine Tragödien, die die Autorin im Fortschreiben dieser antiken Dichter produziert. Ihre Texte changieren vielmehr zwischen dem Tragischen und dem Komischen; sie evozieren Pathos, brechen dieses aber sogleich wieder. Paradoxerweise verweist Jelineks Theaterästhetik gerade durch ihren intensiven Bezug zum Tragischen auf die komische Tradition der Alten Komödie: Auch Dichter wie Aristophanes hegten eine große Vorliebe dafür, bestimmte Tragödien aufzugreifen, diese zu überschreiben und die Verfasser dieser Tragödien explizit zu adressieren bzw. zu persiflieren. Ausgehend davon schlägt das abschließende Kapitel vor, Jelineks Theater der (Tragödien‑)Durchquerung als Ästhetik des Paratragischen zu lesen.

Vorarbeiten zu dieser Arbeit entstanden im Rahmen meines Forschungsprojekts Dramaturgies of the (Dis‑)Continuative, das ich von 2016 bis 2019 an der Universität Wien und an der Ghent University (S:PAM Studies in Performance Arts & Media) leitete. Das Projekt wurde vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des Postdoc‐Programms Hertha Firnberg finanziert. Wichtige Impulse lieferte die interdisziplinäre Tagung Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, die ich gemeinsam mit meiner Mitarbeiterin Wera Hippesroither konzipiert und im November 2017 im Künstlerhaus Wien und am Institut für Theater‑, Film‐ und Medienwissenschaft der Universität Wien veranstaltet habe. Eine intensive Arbeit an der Habilitationsschrift ermöglichte mir meine Elise‐Richter‐Stelle des FWF und ein Visiting Research Fellowship an der Faculty of Classics der University of Oxford, zu dem mich Fiona Macintosh im Frühjahr 2020 eingeladen hatte.

Es gibt viele Menschen, die dieses Buch dabei unterstützt haben, Gestalt anzunehmen. Allen voran erwähnt sei Hilde Haider. Nachdrücklich hervorheben möchte ich zudem Evelyn Annuß, Inge Arteel, Estelle Baudou, Max Bergmann, Ernst Marianne Binder (†), Thomas Binder‐Reisinger, Stefan Büttner, Anke Charton, Adam Czirak, Darija Davidovic, Uta Degner, Theresa Eisele, Helen Farnik, Freda Fiala, Laura Gianvittorio, Senad Halilbašić, Ulrike Haß, Wera Hippesroither, Hanna Huber, Stefan Hulfeld, Pia Janke, Katharina Koch, Doris Kolesch, Fiona Macintosh, Annemarie Matzke, Monika Meister, Bettine Menke, Katharina Pewny, Gabriele C. Pfeiffer, Julia Prager, Nancy Rabinowitz, Freddie Rokem, Irina Rosen, Lena Sharma, Oliver Taplin, Eva Waibel und Johanna Zorn. Besonders inspirierend wirkten die beiden Summer Schools des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz (IFK) unter der Leitung von Thomas Macho in Maria Taferl (2016) und Linz (2019) sowie die daraus hervorgegangene Schreibgemeinschaft mit der Zeithistorikerin Elisa Heinrich. Herzlich bedanke ich mich bei Teresa Kovacs für eine langjährige Denkkomplizinnenschaft. Und nicht zuletzt erwähnen möchte ich Mascha, die den Entstehungsprozess dieses Buches mit herausfordernden Fragen und überraschenden Beobachtungen begleitet und im Endspurt immer wieder für einen reichhaltig gefüllten Kühlschrank gesorgt hat. Danke!

 

Endnoten

1 Ob Frauen gänzlich von den Spielen ausgeschlossen waren oder zumindest als Korbträgerinnen bzw. auf den hintersten Rängen partizipieren durften, ist in der Forschung nach wie vor umstritten.

2 Elfriede Jelinek an Silke Felber, E‑Mail vom 30.8.2016.

3 Wiles, David: »The Poetics of the Mask in Old Comedy.« In: Revermann, Martin/Wilson, Peter (Hg.): Performance, Iconography, Reception: Studies in Honour of Oliver Taplin. Oxford: Oxford University Press 2008, S. 374–392, hier S. 379.