3.1 In Between

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Den Tausenden Zusehenden, die der Uraufführung der Hiketiden (zwischen 465 und 459 v. Chr.) im Dionysostheater beigewohnt haben mussten, durfte der Danaiden‐Mythos, den Aischylos in dieser Tragödie verarbeitet hatte, mit ziemlicher Sicherheit bekannt gewesen sein. Nahelegende Hinweise darauf finden wir u.a. im nachhomerischen Epos Danais, im Frauen‐Katalog des Hesiod und bei Hekataios.9 Wenngleich die fragmentarisch überlieferten Versionen voneinander differieren, so ist ihnen jedenfalls folgende Synopsis gemein: Die Brüder Danaos und Aigyptos, Nachfahren der Göttin Io, beginnen Streit. Daraufhin fordern die 50 Söhne des Aigyptos, die 50 Töchter des Danaos zu ehelichen. Danaos willigt ein, verfolgt aber eine List damit: Er hält seine Töchter dazu an, ihre nunmehrigen Ehemänner in der Hochzeitsnacht zu töten. Die Danaiden kommen dieser Anweisung nach. Einzig Hypermestra widersetzt sich dem Vater und lässt ihren Gatten Lynkeus am Leben. Unterschiede in den Verarbeitungen des Mythos gibt es etwa in Bezug auf den Ort der Handlung, auf die Bedeutung des Aigyptos oder auf die Konsequenzen, die die mordenden Danaiden zu erwarten hatten.

Die Frage nach der Überlieferung, auf die sich Aischylos stützte, kann heute nicht eindeutig beantwortet werden. Eines aber scheint unbestreitbar: Kein anderer Dichter – und dies weder vor ihm noch nach ihm – hat die Danaiden als Schutzsuchende bezeichnet.10 Auf das mythosgeschulte attische Publikum musste dieser Umstand äußerst befremdlich gewirkt haben. Die Danaiden erschienen nun wider Erwarten nicht mehr als Mörderinnen, sondern als von Gefahr bedrohte Frauen, die ihrer Heimat entflohen waren, um in der Fremde Asyl zu erbitten. Gleichzeitig werden die Danaiden von Aischylos aber auch als starke, mutige und fordernde Verhandlungspartnerinnen gezeichnet, die König Pelasgos ernsthaft unter Druck setzen. In dieser Dialektik, die jeder eindeutigen Zuschreibung widersagt und die die Hiketiden schlussendlich als »schuldlos schuldig«11 erscheinen lässt, liegt die unvergleichliche Qualität der aischyleischen Dramaturgie. Doch welche Bauformel steht hinter dieser Dramaturgie und welche Spuren hinterlässt sie in Jelineks Die Schutzbefohlenen?

Aischylos verzichtet in den Hiketiden auf einen Prolog und lässt stattdessen unmittelbar den Chor der Danaiden einziehen. Tatsächlich liegt es nahe, dass der Chor aus einem bestimmten Bühnenaufgang (eisodos) kommend aufgetreten ist, dass er im Gegensatz zu Danaos, Pelasgos und dem Herold das gesamte Stück über in der Orchestra verweilte und am Ende des Stückes durch die gegenüberliegende eisodos wieder ausgezogen/abgetreten ist.12 Die Flucht erscheint somit nicht als abgeschlossen, sondern wirkt über die gesamte Dauer der Aufführung nach. Der Eindruck der Bewegung, der durch diese Auftrittsdramaturgie entsteht, wird von der anapästischen Metrik der Parodos (d.h. des Einzugslieds des Chors) noch weiter hervorgehoben. Aber auch die maritime bzw. nautische Bildersprache, die die Hiketiden durchzieht, ist Bestandteil einer spezifischen Dramaturgie der Migration. So bezeichnen die Danaiden in ihrem Einzugslied die Bedrohung der Zwangsehe, vor der sie geflohen sind, als Welle (vgl. Aisch. Hik. 126) und suggerieren dadurch, dass der Boden, auf dem sie gelandet sind, keineswegs sicher ist.13 Auch die mehrmalige Nennung des Schiffs, das mit Foucault als »Heterotopie par excellence«14 gelesen werden kann, verweist auf den prekären Status der Frauen, der sich in der Etymologie des Wortes Hikesie widerspiegelt. So weist Susanne Gödde darauf hin, dass sich das Substantiv hiketeia und das Verbum hiketeuein (das so viel heißt wie »flehen« bzw. »bitten«) von derselben Wurzel ableiten lassen wie das Verbum hikneisthai, das »ankommen« bedeutet: »Der Terminus des Rituals bezieht seine Schlagkraft aus der Vorstellung, dass der, der in der Fremde ›ankommt‹ (hikneisthai), zugleich der ist, der um Schutz ›bitten‹ muss (hiketeuein), den er als Fremder zunächst genießt.«15 Die vertrackte Lage, in der sich die Danaiden befinden, zeigt sich zudem auf topologischer Ebene: Gefangen zwischen Hafen und asty verweilen die Frauen in einem Zwischenraum, der nur bedingt Bewegungsfreiheit erlaubt.

Auch bei Jelinek ist es eine chorähnliche Figuration, die den Text eröffnet.16 Und auch hier wird dieses Wir bis zum Schluss präsent bleiben. Analog zu den Hiketiden des Aischylos finden wir in den Schutzbefohlenen keine Exposition des mythos durch Dritte vor. An die Stelle der vermittelnden Darstellung tritt auch hier ein unvermitteltes Erzählen:

Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Das Wißbare aus unserem Leben ist vergangen, es ist unter einer Schicht von Erscheinungen erstickt worden, nichts ist Gegenstand des Wissens mehr, es ist gar nichts mehr. Es ist auch nicht mehr nötig, etwas in Begriff zu nehmen. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir? (SCH)

Bereits in diesen ersten Zeilen wird der Bezug zu Aischylos, den Jelinek am Ende des Textes explizit anführt, augenscheinlich. Die Passage mutiert Fragmente aus der Parodos der Hiketiden‐Übersetzung von Johann Gustav Droysen (hier fett hervorgehoben) und stößt dadurch eine Assoziationskette an. Im Zitieren von Tragödienbruchstücken evoziert Jelinek eine Archäologie der Hikesie und lässt dabei Kategorien wie »damals« und »heute« brüchig erscheinen. Das Verfahren der Bricolage führt uns Geflüchtete vor Augen, die in der Fremde um Aufnahme bitten und die sich – dazu verdammt, eine Entscheidungsfindung abzuwarten – in einem liminalen Zustand befinden. In einem Zustand, der im letzten Satz der Schutzbefohlenen widerhallt: »Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da« (SCH).

Das, was Geoffrey Bakewell für die Danaiden des Aischylos konstatiert, wenn er sie als »trapped between the two worlds«17 bezeichnet, trifft auch auf die in der Votivkirche protestierenden Refugees zu, denen Jelinek ihren Text widmet. Vermeintlich angekommen, juristisch jedoch in einer Grauzone weilend, wird ihnen der Zugang zu Arbeit und Bildung verwehrt, wird ihnen das Recht auf ein selbstbestimmtes, freies Leben aberkannt. Sie sind mithin, wie Lynette Mitchell in Bezug auf die Danaiden feststellt, »both ›insiders‹ and ›outsiders.‹«18 Der heutige Asylwerber offenbart sich als »lebender Toter«, wie Giorgio Agamben im Weiterdenken von Hannah Arendts The Origins of Totalitarism (1951) angemerkt hat.19 Die 1789 erklärten Menschenrechte, so Agamben, seien stets an die Zuweisung einer Staatsbürgerschaft gekoppelt, also an das politische Leben, das Agamben im Rekurs auf die griechische Antike als bíos bezeichnet und vom natürlichen, nackten Leben, der zoë, abgrenzt.20 Aus diesem nackten Leben wiederum, aus der Nativität, dem Geborensein und der Abstammung, mache der Nationalstaat »den Grund seiner Souveränität«21 – Nativität und Nation erscheinen folglich als ununterscheidbar.22 Die Irritation, für die die Themen Flucht und Migration in der heutigen Politik sorgen, liegt laut Agamben darin begründet, dass Refugees diese Ununterscheidbarkeit revidieren und den Abstand zwischen Nativität und Nation regelrecht zur Schau stellen: »Wenn Flüchtlinge […] in der Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen […].«23

In diesen Spalt nun dringt Jelinek mit Die Schutzbefohlenen. Der Theatertext unterzieht den Nationalstaat samt seiner ihn konstruierenden Prinzipien einer kritischen Revision und verortet die Positionen, die subalternen Identitäten darin zugewiesen werden. Freilich aber sind es keine psychologisch ausgestalteten Figuren, die hier erscheinen. Es ist vielmehr Biomasse, das nackte Leben, das hier sein Dahinsiechen beklagt: »Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben« (SCH). Tatsächlich kehrt Jelineks Tragödienfortschreibung den Klagegestus, von dem das Einzugslied der Hiketiden geprägt ist, ausdrücklich hervor und betont dadurch ex negativo ein Spezifikum des antiken Prätexts. Aischylos‘ dramaturgische Entscheidung, die Parodos der Danaiden in Vokabular, Gestik und Rhythmik als Threnos, d.h. als Trauergesang, zu gestalten, steht in radikalem Kontrast zur damaligen Tradition. So war es zwar ganz und gar üblich, eine Totenklage in ein Hikesiegebet einzubetten. Auffällig aber ist, wie Bernadette Schnyder anmerkt, »dass die Danaiden hier eine Totenklage auf sich selbst anstimmen und, als stünden sie vor ihren eigenen Leichen, mit allen dazugehörigen Gebärden, auch auf der Bühne agieren […].«24 Dieser Umstand ist einzigartig in der Tragödienliteratur, in der wir es zwar häufig mit Klageliedern zu tun haben, jedoch nie mit solchen, in denen jemand seinen eigenen Tod beweint. Eine Ausnahme, so könnte man einwerfen, stellt Kassandra dar, die in Agamemnon einen Totengesang auf sich selbst anstimmt (vgl. Aisch. Agam. 1322f.). Jedoch vollzieht Kassandra diesen Gesang nicht auf der Bühne.25 Aischylos’ Schachzug, die Hiketiden sich selbst betrauern zu lassen, ist also ein dramaturgischer Kunstgriff sui generis. Deutlich zeigt sich dies in der sechsten Strophe der Parodos, die Johann Gustav Droysen wie folgt übersetzt:

Dies harte Los, wir sagen, wir klagen es laut.
Dies bittre, gellende, tränenentquellende Weh,
Ach weh uns, weh!
Im heißen Wehruf jammerlaut!
Lebend bejammr ich selbst mich!
Flehend zu dir, apischer Holm, ruf ich!
Barbarensprache, ja du kennst sie!
Und mit geschwinder Hand,
Sieh, zerfetz ich das Linnenkleid, sieh, das Sidonerstirntuch! (Aisch. Hik. 112–121)

Der Gestus dieses eigentümlichen Threnos lebt in Jelineks Aischylos‐Fortschreibung nach. Der Theatertext lässt Seiend‐Nichtseiende erscheinen, die sich selbst als »lebende Tote« (SCH) beschreiben und zu einem autoreferenziellen Lamento ansetzen: »[…] wo werden wir unsre eigenen Knochen vergraben können, das heißt, wer wird das alles machen?, wer wird das für uns tun? Wer wird dafür sorgen, daß wir Seienden auch erblickt werden, und das ohne Abscheu?« (SCH). Im Weiterspinnen der Klageverse 56 bis 59 heißt es daraufhin:

Die von des Bachs Ufern, des Meeres Küste, den Waldbüschen der Heimat Verscheuchten, wehklagend im Gram verlorener Heimat, verwirrt von deren urmütterlichem Zorn, die können Sie hier sehen, keiner rühmt sich hier, irgend jemand zu entstammen, es würde ihm auch nichts nützen, und wieso, bitte, wieso sind Sie hier auch zornig auf uns? Das verstehen wir nicht. Wir sind längst schmerzbefreundet, ja, aber was haben wir hier getan, daß Sie uns in Angst halten, Angst überall, Angst vor den Meinen, die ich verließ, daß ich wieder zurück muß, vor Ihnen aber noch mehr Angst, daß ich bleiben muß, daß ich nicht bleiben darf, jetzt geben Sie mir gleich recht, jetzt werden Sie mir gleich recht geben: Wenn Sie überall Angst haben, werden Sie sagen, warum sind Sie dann hergekommen? (SCH, Herv. SF)

Jelinek greift hier im verfremdenden Zitieren der ersten Zeilen der Droysen’schen Übersetzung auf spezifische Elemente des Threnos zurück. Ebenso wie Aischylos setzt sie diese aber nicht ein, um einer Trauer Ausdruck zu verleihen, sondern unterstreicht damit den Affekt der Angst, den Aischylos im Einzugslied der Hiketiden als Crescendo elaboriert hat. In der antiken Vorlage beginnt das Threnos zunächst zart und lieblich, indem die Schutzflehenden ihr eigenes Lamento mit dem Gesang einer »falkgejagten Nachtigall« (Aisch. Hik. 55) gleichsetzen. In diesem Vergleich, der im Appendix der Schutzbefohlenen wiederkehrt,26 verbindet sich der Gestus der Klage mit dem Motiv der Emigration. Tatsächlich ist es hauptsächlich das Bild des Vogels, das die Danaiden bemühen, um ihre Flucht zu verbalisieren, das sie aber auch heranziehen, um die Gewalt des Aggressors zu beschreiben.27 Von Danaos werden die Mädchen als »Taubenschwarm, vor gleichbeschwingten Falken bang« (Aisch. Hik. 223–24) bezeichnet. Dieses in der antiken Literatur als topisch geltende Motiv lässt sich zurückverfolgen bis zum 22. Gesang der Ilias: Dort wird Hektor als Taube beschrieben, die von Achill, dem Habicht, gejagt wird.28 In den Hiketiden lässt der Vergleich mit der Taube die Danaiden als verschreckt und demütig erscheinen. Das für die Taube typische Bewegungsrepertoire des (Auf‐ und Nieder‑)Flatterns unterstreicht die Aufregung der Schutzsuchenden, gemahnt aber auch an die Thematik des sich Niederlassens, um die die Tragödie kreist. All diese Assoziationen greift Jelineks Tragödienfortschreibung auf:

Wir haben an heilige Stätte uns gesetzt wie ein Taubenschwarm, doch die hier kennen nur diese eine Taube, die dort droben auf dem Dach, die wir ganz sicher nicht kriegen werden, die ist zu hoch, vor keinem Falken muß die bang sein, die Taube, und wir? Wir müssen uns vor allem und jedem fürchten. (SCH)

Mit der von Aischylos entlehnten Figuration des Schwarms bringt die Autorin einen Terminus ins Spiel, der zentrale Fragen von Inklusion und Exklusion, von Gemeinschaft und Außenseitertum aufwirft.29 Der Schwarm verschiebt (System‑)Grenzen und lässt die Distinktion einer Gemeinschaft von einem Außen unscharf werden. Da Schwärme keine gesicherten Aussagen über ihre zeitliche Strukturiertheit, ihre Bewegungsrichtung und ihren Entstehungsort erlauben, haftet diesen »Kollektiven ohne Zentrum«30 etwas Bedrohliches an: Schwärme bilden sich plötzlich und ohne nachvollziehbaren Grund und können sich genauso rasch wieder auflösen. Sie symbolisieren dadurch eine unmittelbar einbrechende, nicht fassbare Bedrohung. Der Schwarm beschreibt mithin ein liminales Phänomen, eine Figuration, die im Dazwischen binärer Ordnungen agiert und einen Schwellenraum eröffnet, der »sowohl eine fundamentale Ordnungskategorie als auch eine transitorische Zone des Übergangs markiert.«31 In dieser Unberechenbarkeit und Nichtortbarkeit eignet er sich dazu, Angst‐ und Katastrophenszenarien im Kontext von Asyl und Migration zu (re‑)inszenieren.

Die Taube erscheint bei Jelinek aber nicht nur im Schwarm. Wie die oben zitierte Passage demonstriert, greifen Die Schutzbefohlenen auch das »Vogel‐jagt‐Vogel«‐Motiv auf, das als erstes Leitmotiv der Hiketiden gelesen werden kann und das sich aus der bereits erwähnten Antithese Taube–Habicht ergibt.32 In ihrer Angst vor den ägyptischen Verfolgern beschreiben sich die Danaiden selbst als Tauben, d.h. als beliebteste Beute des Habichts, der bei Jelinek in der Übersetzung Johann Gustav Droysens als Falke wiederbegegnet. Und noch einen weiteren Vogel, auf den Aischylos im Ausgestalten des Jagdmotivs zurückgegriffen hat, treffen wir hier an:

[…] zu diesem lichtbeschwingten Adler bringt uns das jetzt, nein, das paßt nicht, das ist kein Adler, der Adler ist das Kleine dort droben, über ihm, schauen Sie, Sie können es von hier aus recht gut sehen, dort droben, also Adler ist das keiner, was?, das soll eine Taube sein?, na, was ist von einer Taube schon zu erwarten! Genausowenig. Die Taube eine Stellvertreterin einer Stellvertreterin einer Stellvertreterin, immerhin ein Vogel, fliegen kann sie, und zu der ruf ich betend, die ruf ich betend an, irgendwen muß ich ja anrufen, so, nachher ruf ich meinen Anwalt an, aber jetzt ruf ich betend die Taube dort auf dem Dach an, anflehn wir sie, anflehen wir, vielerrettendes Sonnenauge im Dreieck, Sonnenauge, das im Dreieck springt, dich, ja, dich meinen wir!, du hast ganz richtig gehört, ausgerechnet dich flehen wir an! (SCH)

Die Taube bündelt in dieser Passage mehrere Diskursstränge. Zunächst versinnbildlicht sie die Flucht der Refugees, die sich in der Wiener Votivkirche niedergelassen haben und dort Bleiberecht erbitten. Darüber hinaus verweist sie als Inkarnation des Heiligen Geistes auf ein Schlüsselsymbol des römisch‐katholischen Glaubens.33 Doch welche Rolle spielt der lichtbeschwingte Adler? Im österreichischen Kontext verweist der Adler auf das Wappentier der demokratischen Republik. In Aischylos’ Hiketiden steht er – gemeinsam mit Sonnenauge und Dreizack – für die göttliche Hoheit, die Danaos und seine mit einem Taubenschwarm verglichenen Töchter anrufen. In Jelineks Schutzbefohlenen wiederum wird diese Hierarchie verkehrt. Hier reiht sich die Taube in die Ikonografie des Göttlichen ein und mutiert – dort auf dem Dach – zur fernen Instanz. Die Taube eine Stellvertreterin einer Stellvertreterin einer Stellvertreterin verweist auf die Idee der Volkssouveränität, die – an das Stellvertreterprinzip gekoppelt – innerhalb der repräsentativen, d.h. indirekten Demokratie grundsätzlich relativ ist. All diese Konnotationen werden in der zitierten Passage von Jelinek in kunstvoller Manier verdichtet.

Endnoten

9 Vgl. hierzu Gödde, Susanne: Das Drama der Hikesie. Ritual und Rhetorik in AischylosHiketiden‹. Münster: Aschendorff Verlag 2000, S. 13–21 und Grethlein, Jonas: Asyl und Athen. Die Konstruktion kollektiver Identität in der griechischen Tragödie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2008, S. 45–46.

10 Vgl. Gödde, Susanne: Das Drama der Hikesie, S. 15.

11 Ebd., S. 16.

12 »Der Aufbau im Bühnenhintergrund ist jetzt so breit, daß zwei getrennte Abgangsrichtungen, links und rechts von ihm, unterschieden werden können; sie decken sich in der Bühnenarchitektur mit den beiden Parodoi, und durch sie werden außerhalb der Bühne zwei in verschiedenen Richtungen, nämlich links und rechts vom Bühnengrund, liegende hinterszenische Räume angedeutet.« Joerden, Klaus: »Zur Bedeutung des Außer‐ und Hinterszenischen.« In: Jens, Walter (Hg.): Die Bauformen der griechischen Tragödie. München: Fink 1971, S. 369–412, hier S. 372.

13 Für meine Analyse berufe ich mich grundsätzlich auf die von Jelinek herangezogene Hiketiden‐Übersetzung Johann Gustav Droysens. Vgl. Aischylos: Die Schutzflehenden. Übers. v. Johann Gustav Droysen. http://gutenberg.spi egel.de/buch/die‐schutzflehenden‑4497/1 23.11.2015 [Zugriff am 2.2.2020], im Folgenden zitiert mit der Sigle Aisch. Hik.

14 Foucault, Michel: »Die Heterotopien.« In: Ders.: Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 7–22, hier S. 21.

15 Gödde, Susanne: »Asyl als Übergang. Transiträume in der griechischen Tragödie.« In: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hg.): Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin: Theater der Zeit 2018, S. 26–48, hier S. 30–31. Vgl. hierzu auch Schlesinger, Eilhard: Die griechische Asylie. Diss. Univ. Gießen 1933, S. 32.

16 Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch Felber, Silke: »Inmitten von Satyrn, Boten und lebenden Toten. Tragische Figurationen der Durchquerung.« In: Felber, Silke/Hippesroither, Wera (Hg.): Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart. Tübingen: Narr 2020, S. 33–44, hier S. 41–44.

17 Bakewell, Geoffrey W.: Aeschylus’s Suppliant Women. The Tragedy of Immigration. Madison: The University of Wisconsin Press 2013, S. 21.

18 Mitchell, Lynette G.: »Greeks, Barbarians and Aeschylus’ SuppliantsIn: Greece and Rome 53/2 (2006), S. 205–223, hier S. 206.

19 Vgl. zu folgendem Absatz ausführlicher: Felber, Silke: »Verortungen des Marginalisierten in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen.« In: Janke, Pia/Jezierska, Agnieszka/Szczepaniak, Monika (Hg.): Jelineks Räume. Wien: Praesens 2017, S. 63–71, hier S. 65f.

20 Vgl. Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 135–144.

21 Agamben, Giorgio: »Jenseits der Menschenrechte.« In: Ders.: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Übers. v. Sabine Schulz. Freiburg/Berlin: diaphanes 2001, S. 23–32, hier S. 27–28.

22 Vgl. hierzu auch Felber, Silke: »(Re‑)Visionen des Heroischen,« S. 12.

23 Agamben, Giorgio: Homo sacer, S. 140.

24 Schnyder, Bernadette: Angst in Szene gesetzt. Zur Darstellung der Emotionen auf der Bühne des Aischylos. Tübingen: Narr 1995, S. 77, Herv. SF.

25 Vgl. ebd., S. 77, FN 24.

26 Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen. Appendix. Hamburg: Rowohlt Theaterverlag o.J., S. 81.

27 Zur Vogelmetaphorik in den Hiketiden vgl. Fowler‐Hughes, Barbara: »Aeschylus’ Imagery.« In: Classica et Mediaevalia 28 (1967), S. 1–74, hier S. 11–15.

28 Vgl. Gödde, Susanne: Das Drama der Hikesie, S. 151–152.

29 Vgl. zu folgendem Absatz: Felber, Silke/Kovacs, Teresa: »Schwarm und Schwelle. Migrationsbewegungen in Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen. In: Transit 10/1 (2015) https://escholarship.org/uc/item/3p89r1jw [Zugriff am 20.2.2019].

30 Horn, Eva: »Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung.« In: Gisi, Lucas Marco/Horn, Eva (Hg.): Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Bielefeld: transcript 2009, S. 7–27, hier S. 7–8.

31 Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg: »Einleitung.« In: Dies. (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld: transcript 2008, S. 7–9, hier S. 8.

32 Vgl. Petrounias, Evangelos: Funktion und Thematik der Bilder bei Aischylos. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 76f.

33 Die Taube wird auf dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) und 536 in Konstantinopel zum Symbol des Heiligen Geistes erklärt. Zur Taube als »Symbol der Liebe und Treue, des Friedens, des Hl. Geistes und der göttl. Inspiration« vgl. Lengiewicz, Adam: »Taube.« In: Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: Metzler 2012, S. 440–441.