2.4 (P-)Reenactments des Unsagbaren

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Kein Licht. Epilog? wurde im November 2012 zur Uraufführung gebracht, und zwar bezeichnender Weise in Tokyo, d.h. 240 Kilometer Luftlinie von Fukushima entfernt. Die Produktion wurde von Regisseur und Visual Artist Akira Takayama realisiert und im Rahmen des 2009 ins Leben gerufenen und mittlerweile von der japanischen Regierung abgesetzten, internationalen Festival/Tokyo präsentiert. Wie aber war es dazu gekommen? Die Kuratorin Chiaki Soma gibt an, im Sommer 2011 Wind davon bekommen zu haben, dass Jelinek unter dem Eindruck der Katastrophe von Fukushima einen Theatertext verfasst hatte. Sofort setzte sie sich mit dem Verlag in Verbindung und beauftragte den Theaterwissenschafter Tatsuki Hayashi mit der Übersetzung von Kein Licht. Dann, am 12. März 2012, also exakt ein Jahr nach dem Reaktorunfall, publizierte Jelinek den Zusatztext Kein Licht. Epilog?. Zu dieser Zeit wurde Japan von einem Slogan diktiert: »Ganbarou Nippon!« (»Weitermachen, Japan!«). Ein unsichtbarer Druck hatte sich innerhalb der Bevölkerung breitgemacht. Es galt, im gemeinsamen Bestreben, das Land wiederaufzubauen, nach vorne zu blicken. Auf der anderen Seite, so Soma, »there were also the words condemning others journalistically, the catchphrases of advertising agencies, and the irresponsible things people said on social media platforms like Twitter. It was like the value of words had collapsed, they had been swallowed up by the tsunami wave.«54 In dieser chaotischen Zeit versuchten zahlreiche Künstler*innen, dem Unfassbaren Ausdruck zu verleihen und die im Angesicht der Katastrophe verloren geglaubte Sprache zurückzuerobern. Eine von ihnen war Elfriede Jelinek:

Jelinek’s words and the translated words of her text changed into Japanese have a very strong sense of being something alien. They are not our words. They have a powerful sense of »other‐ness«. The subject and time tense are fluid. You cannot define who is who, or where people are. It refuses easy assimilation or emotional involvement. This special characteristic of Jelinek’s language is described by the translator Tatsuki Hayashi as »outsider words«.55

Dem Regisseur Akira Takayama waren die »outsider words« Elfriede Jelineks nicht fremd. Er hatte sich bereits im Zuge der ersten Spielzeit des Festival/Tokyo im Jahr 2009 mit der österreichischen Autorin auseinandergesetzt. Damals war er von Chiaki Soma mit der Inszenierung von Jelineks Wolken.Heim. beauftragt worden. Für die Umsetzung von Kein Licht. Epilog? entschied sich Takayama für eine installative Meditation, die die medial hergestellte Distanz zwischen Fukushima und Tokyo ins Zentrum des Erkenntnisinteresses rückte und konzipierte einen Parcours, der das Performance‐Publikum durch das im Herzen Tokyos gelegene Gebiet von Shimbashi führte. Adressiert wurde dadurch ein Ort, der in der Geschichte der japanischen Atomkraftpolitik eine wichtige Rolle spielt – das Areal Shimbashi beheimatet den Hauptsitz von TEPCO. Die Tour selbst startete im neuen Shimbashi‐Gebäude, das im selben Jahr eröffnet worden war wie das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi.

Zu Beginn der Veranstaltung erhielten die Teilnehmenden jeweils ein kleines tragbares Radio und zwölf Postkarten.56 Die Vorderseite dieser Postkarten zeigte unterschiedliche Pressefotos, die in der Evakuierungszone von Fukushima aufgenommen worden waren. Die Rückseite fungierte als Wegweiser, der die Teilnehmenden durch die urban‐theatrale Installation führte. Haltgemacht wurde in leeren Büros, auf verlassenen Grundstücken und auf einem Hausdach. An jedem Schauplatz wurden die Teilnehmenden angewiesen, das Radio auf eine bestimmte Frequenz einzustellen und rezitierten Auszügen aus Jelineks Kein Licht. Epilog? zu lauschen. Ausgewählt und eingelesen wurden diese Passagen von Gymnasiastinnen, die selbst infolge des atomaren Unfalls evakuiert worden waren und von deren Vätern zweifellos viele im Reaktor von Daiichi gearbeitet hatten bzw. noch an den Aufräumarbeiten beteiligt waren. An jedem Standort präsentierte sich den Teilnehmenden zudem jeweils die Rekonstruktion eines der Postkartenfotos: Männer in Schutzanzügen. Verlassene Häuser. Die zurückgelassenen Habseligkeiten ihrer Bewohner. Evakuierte, die für Proviant anstehen. Ein Zusammentreffen zwischen der japanischen Regierung, Verantwortlichen von TEPCO und Bewohner*innen Fukushimas. Etc.


Abbildung 7: Elfriede Jelinek: Kein Licht. Epilog? Regie: Akira Takayama. Festival/Tokyo 2012. Foto: Mashiro Hasunuma.

Abbildung 8: Elfriede Jelinek: Kein Licht. Epilog? Regie: Akira Takayama. Festival/Tokyo 2012. Foto: Mashiro Hasunuma.

Abbildung 9: Elfriede Jelinek: Kein Licht. Epilog? Regie: Akira Takayama. Festival/Tokyo 2012. Foto: Mashiro Hasunuma.

Abbildung 10: Abbildung 10: Elfriede Jelinek: Kein Licht. Epilog? Regie: Akira Takayama. Festival/Tokyo 2012. Foto: Mashiro Hasunuma.

Welche Überlegungen hatten die Auswahl dieser Bilder geleitet? Regisseur Akira Takayama äußert sich dazu wie folgt:

Since the catastrophe, I have had many opportunities to see press photographs, but I always feel full of regret somehow. The landscape reflected there has absolutely no connection with me and yet there is a sense that it has become part of me. There is no way that I have ever entered the Fukushima exclusion zone but after one and a half years, the landscape of that place has woven itself up inside me.57

Die künstlerische Entscheidung, die ausgewählten Pressefotos in Form von Reenactments nachzustellen, setzt die von Takayama beschriebene, paradoxale Erfahrung eines ganz nahe und gleichzeitig unendlich weit weg eindrücklich in Szene. Tatsächlich stellen Reenactments einerseits eine gewisse Distanz zu nachgestellten Ereignissen her, andererseits wird diese Distanz durch das dabei zur Anwendung gelangende ästhetisch‐mimetische Verfahren eliminiert. Einen ähnlichen Effekt erzielt Takayamas Umgang mit Jelineks Theatertext, der die Zuhörenden nicht live erreicht, sondern der vorab (ein‑)gesprochen wurde. Jelineks ins Japanische übersetzte Worte offenbaren sich im Moment der Performance als losgelöst von den Körpern der Performenden. Mit dem damit in Zusammenhang stehenden Entzug der ästhetischen Erfahrung von Liveness verflüchtigen sich Eindrücke von Unmittelbarkeit, präsentischer Gegenwart und Unvermitteltheit.58 Die atomare Katastrophe, um die Jelineks Antigone‐Fortschreibung kreist, rückt dadurch in zeitliche und räumliche Ferne. Gleichzeitig dringen die Stimmen der Performerinnen und mit ihnen der gesprochene Text durch die kleinen Radios sehr nahe an das Ohr jeder Performance‐Teilnehmenden und erzeugen dadurch eine eigentümliche Intimität.

Interessanterweise ist es gerade das Wechselspiel von Nähe und Distanz, das Aristoteles als dramaturgische Grundvoraussetzung für die kathartisch wirkende Erfahrung von phobos und eleos ins Spiel führt.59 Explizit arbeitet Aristoteles diese in der Poetik bereits vorskizzierten Überlegungen im zweiten Buch der Rhetorik heraus.60 Dort hält er fest, dass man sich nur vor jenen Übeln fürchte, »[…] welche großes Weh oder Verderben bewirken, und zwar wenn sie nicht entfernt, sondern nahe bevorstehend erscheinen, so daß man ihrer gewärtig sein muß. Vor den sehr entfernten fürchtet man sich nicht.«61 Als Beispiel führt er den Tod an, der einem erst dann Furcht einjage, wenn er unmittelbar bevorstehe. Als ermutigend wiederum bestimmt Aristoteles »die Entfernung des zu Fürchtenden und die Nähe des Muthmachenden«.62 Für die Kategorie eleos hält er fest:

Es bedeute also Mitleid, eine Unlustempfindung über ein scheinbares, Verderben und Schmerz drohendes Uebel, das jemanden trifft, der es nicht verdient hat, und von dem man selber auch erwarten muß, daß es einem widerfahren könne, oder einem der Unsrigen, und zwar, wenn es uns als nahe erscheint.63

Und doch stünden uns diejenigen, mit denen wir Mitleid haben, niemals allzu nah, ergänzt Aristoteles im anekdotischen Rekurs auf Amasis, der seinen Sohn nicht beweint hat, als dieser zum Tode weggeführt worden war – wohl aber seinen bettelnden Freund.64 Dem affektiven Kategorienpaar phobos und eleos ist also, wie Bernd Seidensticker zu Recht behauptet, eine generelle »[…] palintonos harmonia von Distanz und Nähe eingeschrieben: Phobos rät dem Betrachter, Abstand zu halten vor dem Schrecklichen, das sich ihm darbietet; eleos fordert ihn auf, heranzutreten und Anteil zu nehmen.«65

Eine Verbindung zu dem affektiven Kategorienpaar phobos und eleos lässt sich auch angesichts Takayamas reziproken Spiels mit Nähe und Distanz herstellen. Die performativ‐installative Arbeit reagiert zum einen auf die allgemeine Verunsicherung ob der im postnuklearen Japan medial zirkulierenden Bilder und Worte bzw. auf die Traumatisierung, die diese Bilder ausgelöst haben. Zum anderen artikuliert sie einen spezifischen, zwischen Anklage und Klage changierenden Gestus, der die Performance‐Teilnehmenden gleichsam zu Zeug*innen und Mit‐Leidenden erklärt. Die künstlerische Strategie des Reenactments, die dabei zum Tragen kommt, entsagt einer affirmativen Bestätigung der sogenannten Vergangenheit. Vielmehr wieder‐holt sie die Ereignisse, die sich tief in das kollektive Bewusstsein Japans eingeschrieben haben, ins Hier und Jetzt des performativen Geschehens. Geschichte offenbart sich mithin im Sinne Walter Benjamins als »Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«66 Takayamas Reenactments exhumieren Verdrängtes und lassen dieses Verdrängte weniger als Vergangenes, sondern vielmehr als Bestandteil der aktuellen, kontaminierten Gegenwart begreifen. Die Gesten, die in diesem Kontext zutage treten, konstituieren sich aus Wiederholungen, die ihrerseits weitere Wiederholungen provozieren. Tatsächlich, so hält die Performance‐Theoretikerin Rebecca Schneider fest, stelle ein Reenactment immer auch eine Form des preenactments dar: »Preenactment, too, presumes future repetition – and thus is always itself a form of reenactment in the making, preenacting reenactment.«67

Das ästhetische Verfahren, für das sich Akira Takayama entschieden hat, hat vieles mit dem gemein, was Jelineks sogenannte Tragödienfortschreibungen auszeichnet. Beide Künstler*innen arbeiten mit den Prinzipien der Montage und des Zitats und betreiben dadurch eine Art materialistische Geschichtsschreibung, in der nicht nur die Gegenwart von der Vergangenheit »betroffen« wird, sondern auch die Vergangenheit von der Gegenwart. Diese ausgrabende Geschichtsschreibung ist ebenso widerständisch wie das begrabende Handeln der Antigone. Im Zum‐Vorschein‐Bringen der Opfer menschlicher Hybris kreuzen sich die für die tragische Klage konstitutiven Gesten des Ecce, des Berichts und der Warnung. Diese Gesten haben etwas Wesentliches gemein: Sie zielen nicht auf einen Dialog ab, sondern vielmehr auf Aus‐ und Ansprache. Hans‐Thies Lehmann hat unterstrichen, dass in der Tragödie grundsätzlich und im Speziellen in den tragischen Streitgesprächen »kein wirkliches Kommunizieren stattfindet, daß vielmehr – wie im falschen Spiel Klytaimnes­tra–Agamemnon, im Streit Kreon–Antigone oder Jason–Medea – die Personen in einem genauen Sinn aneinander vorbei ins Leere reden.«68 In diese Leere hinein lässt Takayama Jelineks Text sprechen. Die Stimmen, die hier laut werden, treten nicht miteinander in den Dialog, sie antworten einander nicht. Sie sind vielmehr reine Aus‐Sprache, die nicht an die Erfahrung eines Subjekts gebunden ist, sondern einem ungerichteten Zum‐Ausdruck‐Bringen des Unsagbaren entspricht.

Endnoten

54 Soma, Chiaki: »Jelinek in Post‐Fukushima Japan. 4 Versions of Kein Licht. produced by Festival/Tokyo.« In: Janke, Pia/Kovacs, Teresa (Hg.): »Postdramatik«. Reflexion und Revision. Wien: Praesens 2015, S. 490–496, hier S. 491.

55 Ebd., S. 491.

56 Ich selbst konnte die Produktion nicht sehen und rekonstruiere die Arbeit v.a. anhand von Chiaki Somas Aufzeichnungen und der von der Gruppe bereitgestellten Fotografien.

57 Andrews, William: »Going Beyond the Heap of Broken Images: Kein Licht II.« Tokyo Stages https://tokyostages.wordpress.com/2012/12/10 10.12.2012 [Zugriff am 1.2.2020].

58 Zur theaterwissenschaftlichen Kategorie der Liveness vgl. die Ausführungen Peggy Phelans sowie Philip Auslanders kritische Auseinandersetzung damit (Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. London/New York: Routledge 1993; Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. London/New York: Routledge 1999).

59 Zur Übersetzung der Begriffe phobos und eleos vgl. exemplarisch Schadewaldt, Wolfgang: »Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen Tragödiensatzes.« In: Hermes 83 (1955), S. 129–171 und Kerkhecker, Arndt: »Furcht und Mitleid.« In: Rheinisches Museum für Philologie 134 (1991), S. 288–310. Zu allen Grundbegriffen der Poetik, so auch zu eleos und phobos, vgl. den ausführlichen Forschungsüberblick sowie die eigene präzise Einordnung von Arbogast Schmitt (Schmitt, Arbogast (Hg.): Aristoteles. Poetik. Übersetzung und Kommentar. Berlin: Akademie Verlag 2011.)

60 Vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. und hgg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2002, Kap. 13, 1453a 5f., Kap. 15, 1454a 24f., 1454b 8–14. Vgl. hierzu auch Seidensticker, Bernd: »Distanz und Nähe. Zur Darstellung von Gewalt in der griechischen Tragödie.« In: Seidensticker, Bernd/Vöhler, Martin (Hg.): Gewalt und Ästhetik. Zur Gewalt und ihrer Darstellung in der griechischen Klassik. Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 91–122, hier S. 95.

61 Aristoteles: Rhetorik. Übers.u. hgg. v. Heinrich Knebel. Stuttgart: Balz 1813, S. 82.

62 Ebd., S. 82.

63 Ebd., S. 88.

64 Vgl. ebd., S. 90.

65 Seidensticker, Bernd: »Distanz und Nähe«, S. 97.

66 Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte.« In: Ders.: GS 1/2. Hgg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 691–704, hier S. 701.

67 Schneider, Rebecca: »Opening Space in Time. Gestures of Re‑Enactment and Pre‐Enactment.« In: Czirak, Adam et al. (Hg.): Performance zwischen den Zeiten. Reenactments und Preenactments in Kunst und Wissenschaft. Bielefeld: transcript 2019, S. 121–126, hier S. 122.

68 Lehmann, Hans‐Thies: Theater und Mythos, S. 49.