4.4 In den schneeweißen Alpen. Interreferenzielle Schichtungen

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Die alpinen Landschaften sowie ihre Abgründe und (Gletscher‑)Spalten, die Schnee Weiß im intertextuellen Rückgriff auf Tragödie und Satyrspiel entwirft, evozieren einen spezifischen Gestus der (An‑)Klage, der Jelineks Texten grundsätzlich immanent ist. »Berge sind bei Elfriede Jelinek stets Leichenberge«, hat Wolfgang Straub angemerkt.47 Sie verweisen auf die Hybris des Menschen und gemahnen an die Verdrängung der Verantwortung für den Genozid an Jüdinnen und Juden im Kontext des Nationalsozialismus.

Besonders eindrücklich zeigt sich dieses politisch‐poetologische Verfahren in In den Alpen (2002). Dieser Theatertext entstand als Antwort auf die größte menschengemachte Misere, die sich in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg ereignet hat – das Seilbahnunglück von Kaprun. Auslöser dieser Katastrophe, bei der 155 Menschen ums Leben kamen, war ein für Fahrzeuge nicht zugelassener Heizlüfter, der in den Führerstand der Kabine eingebaut worden war und dort Feuer fing. Die Kaminwirkung im Tunnel fachte den Brand weiter an und verbreitete die giftigen Rauchgase in Windeseile. Der Umstand, dass die Kabine über keine aus dem Inneren zu öffnenden Notausgänge verfügte, trug zum verheerenden Verlauf des Unglücks bei. Diese Kausalkette war Gegenstand eines Strafprozesses, bei dem 16 Beschuldigte – darunter auch die Geschäftsführung der Gletscherbahnen Kaprun AG – vorgeladen waren. Die Anklage lautete auf fahrlässiges Herbeiführen einer Feuersbrunst und auf fahrlässige Gemeingefährdung.48 Zur Empörung der hinterbliebenen Angehörigen aber wurden alle Angeklagten freigesprochen.

Ausgehend von diesem Unglück entlarvt Jelineks Theatertext In den Alpen die vermeintliche Beherrschbarkeit der Natur durch die Technik als Akt menschlicher Hybris und porträtiert die katastrophalen Auswirkungen, die die Vermarktung der österreichischen Berge durch Skisport und ‑tourismus mit sich bringt. Dabei dekonstruiert die Autorin den als Motor dieser Profitmaximierung fungierenden Mythos des frühen Alpinismus als Exklusionsmaschinerie. Die Erschließung der Alpen, so betont Jelinek am Beispiel der Alpenüberquerung Hannibals, sei von jeher hauptsächlich eine Geschichte des Ausschlusses, die vor allem die Jüdinnen und Juden betreffe: »Die Geschichte des Alpinismus seit dessen Beginn ist eine Geschichte auch des Antisemitismus. Juden wurden aus allen Sektionen des Alpenvereins und der Wandervogelbewegung schon sehr früh, Anfang der zwanziger Jahre, ausgeschlossen und mußten ihre eigene Sektion (›Donauland‹) gründen.«49 Vor diesem Hintergrund erschließen sich die Bezüge auf die beiden zentralen Intertexte, auf denen In den Alpen aufbaut: Paul Celans Gespräch im Gebirg (1959) und Leo Maduschkas Junger Mensch im Gebirg (1936).

Wenn es in In den Alpen verunglückte Freizeitsportler sind, die als »gespenstische, störende Kostenfaktoren wieder auf[treten],«50 dann sind es in Schnee Weiß die Opfer der Missbrauchsvorfälle, die die Bilanz des erfolgsverwöhnten Wintersportlands Österreich negativ zu beeinflussen drohen. Die Verzahnung von Alpinismus, Judenfeindlichkeit und Profitmaximierung, die Jelinek mit In den Alpen sichtbar gemacht hat, rückt in Schnee Weiß durch einen interreferenziellen Kunstgriff erneut ins Blickfeld. Das Corpus Delicti der Kaprunner Katastrophe – der »kleine Heizlüfter« (SW, S. 9) – kehrt hier als Sündenbock wieder, der »es auf sich nehmen muß, sonst knirscht der Fremdenverkehr so laut mit den Zähnen, daß unsere Gäste nicht schlafen können« (SW, S. 9). »Feuer« (SW, S. 9), »Rauch« (SW, S. 9) und »Asche« (SW, S. 9), die dieser Heizlüfter erzeugt, rufen dabei – wie bereits in In den Alpen – metonymisch die Opfer des Holocaust auf und verweisen auf die spezifischen Mechanismen der Verdrängung, die im Zusammenhang mit der österreichischen (Nicht‑)Aufarbeitung der Judenvernichtung evident werden: »Keiner will schuld sein, ich weiß jetzt wirklich nicht, woran, das ist mir nicht erinnerlich, und alle sind frei, alle sind freigesprochen […]« (SW, S. 9). Auf den Plan gerufen ist damit die Funktionslogik einer Schuldabkehr, die sich sowohl angesichts der verdrängten österreichischen NS‑Vergangenheit als auch hinsichtlich des vertuschenden Umgangs mit den Opfern des alpinen Breiten‐ und Leistungssports zeigt: »Keiner war es, keiner fragt nach ihnen, doch jeder will was aus sich machen, damit er es dann nicht gewesen sein wird. Es unterblieb die Gewalt, welche zum Öffnen der Türen und zum Töten nötig ist. Die Leute haben zu viele Hemmungen« (SW, S. 9–10).

Wie aber verknüpft Jelinek nun diese Bezüge mit den genannten antiken Prätexten? Besonders eindrücklich zeigt sich dies angesichts eines intertextuellen Rückgriffs auf jene Schlüsselszene innerhalb der Bakchen, in der sich Pentheus auf einer Tanne verbirgt, um die Gewaltorgie der Mänaden heimlich zu beobachten:

So. Jetzt verberg ich mich im tiefen Tann, gute Idee, sonst bin ich daran auch noch schuld, daß man nichts sieht, also an dem Feuer mein ich, dem Brand, der den Ausgang nicht fand, wo doch jeder weiß: Den Ausgang nahm das Feuer von diesem kleinen Lüfter mit seinem heißen Lüfterl und kehrt nicht mehr in ihn zurück. Das war ein entsetzliches Ereignis, vor welchem sich alle, wirklich jeder, damit ja kein Schuldiger übrigbliebe, verbergen konnten wo?, na, in Verborgenheit, mir fällt nicht ein, wo das derzeit ist. Der Skiverband hat damit nichts zu tun, er hat mit nichts etwas zu tun […]. (SW, S. 10)

Die Versteckszene aus den Bakchen fungiert hier als Folie, vor der Jelinek das Verdrängen und Vertuschen struktureller Gewalt entlarvt. Auf stilistischer Ebene aber entfernt sich die Autorin vom Ton des Tragischen: Die Diminutiva, die Jelinek verwendet, um sprachliche Strategien der Untertreibung und der Verharmlosung zu entblättern, wären in der Tragödie undenkbar, sind aber dafür umso typischer für das Satyrspiel.51 In der zitierten Passage demonstrieren sie die perfide Logik eines Urteilsspruchs, der die Verantwortlichen von Kaprun dabei unterstützt hat, die Schuld von sich weg‐ und auf den kleinen Lüfter mit seinem heißen Lüfterl abzuschieben. Euphemistisch wird die durch menschliche Fahrlässigkeit ausgelöste Katastrophe als entsetzliches Ereignis verbrämt, d.h. als unabwendbares, in Kauf zu nehmendes Fatum (de‑)maskiert. Die Natur erscheint dabei schlichtweg als Spielball des Homo oeconomicus. Ist der weiße Schnee, das »Marschierpulver« (SW, S. 75), geschmolzen, »macht man was andres mit ihnen, mit die Berg, uralte Turngeräte schon für berühmte Gletschermumien […]« (SW, S. 75). Was für den Menschen von einst »noch ein Weg« (SW, S. 75) war, ist »für uns nur ein Weg, um diese notorische Fettleibigkeit zu bekämpfen […]« (SW, S. 75).52 Die Natur mutiert in Schnee Weiß also zum Trampelpfad des Massen‐ und Leistungssports, der ganz im Zeichen der (Selbst‑)Optimierung und des Profits steht – und dabei Spuren der Gewalt hinterlässt.

Endnoten

47 Straub, Wolfgang: »Jelineks ›Bergstücke‹ – Ein neuer Mythos?« In: Arteel, Inge/Müller, Heidy Margrit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie van Belgie 2008, S. 175–182, hier S. 178.

48 Vgl. Neuhold, Thomas: »Prozess um Kaprun beginnt.« In: Der Standard, 16.6.2002.

49 Jelinek, Elfriede: »Nachbemerkungen.« In: Dies.: In den Alpen: drei Dramen. Berlin: Berlin‐Verlag 2002, S. 253–255, hier S. 254.

50 Thiériot, Gérard/Schenkermayr, Christian: »In den Alpen. Das Werk. Ein Sturz. Kein Licht.« In: Janke, Pia (Hg.): Jelinek Handbuch. Stuttgart: Metzler 2013, S. 185–189, hier S. 186.

51 Vgl. Seidensticker, Bernd: »Philologisch‐literarische Einleitung«, S. 15.

52 Die Metapher des Turngeräts hat Jelinek bereits in einem Interview anlässlich der Uraufführung von Das Werk am Wiener Burgtheater im Jahr 2003 (Regie: Nicolas Stemann) bemüht: »Die Natur ist das Turngerät des verspielten Technikers. Was gemacht werden kann, wird auch gemacht. […] Die Natur wird gesteuert wie ein Auto.« (Lux, Joachim: »Was fallen kann, das wird auch fallen.« In: Programmheft zu Elfriede Jelineks »Das Werk.« Burgtheater Wien: 2003.)