5.1 Wenn Affekte auftreten

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


In der Einleitung ihres gemeinsam herausgegebenen Affect Theory Reader unterstreichen Melissa Gregg und Gregory Seigworth, dass Affekte grundsätzlich innerhalb einer in‑betweenness entstehen.15 Tatsächlich beschreiben Affekte spezifische Kräfte oder Intensitäten, die zwischen verschiedenen Körpern, nämlich zwischen menschlichen und nichtmenschlichen, zwischen organischen und anorganischen, zutage treten.16 Als solcherlei Kräfte können sie uns zu bestimmten Bewegungen, Gedanken und Impulsen führen, uns mitunter auch »überwältigen«. Affekte werfen uns auf die Komplexität einer Welt zurück, in die wir eingebunden sind – bewusst oder unbewusst, vermeintlich aktiver oder passiver. Sie markieren die vielschichtige und verzweigte Zugehörigkeit eines Körpers zu einer kontinuierlich aus Begegnungen sich neu erschaffenden, relationalen Welt, zeigen aber auch seine Unzugehörigkeit an. In diesem Zusammenhang sticht eine weitere Beobachtung von Gregg und Seigworth ins Auge:

At once intimate and impersonal, affect accumulates across both relatedness and interruptions of relatedness, becoming a palimpsest of force‐encounters traversing the ebbs and swells of intensities that pass between bodies (bodies defined not by an outer skin‐envelope or other surface boundary but by their potential to reciprocrate or co‑partecipate in the passage of affect).17

Greggs und Seigworths Bezeichnung palimpsest für das Phänomen des Affekts erscheint mir in unserem Kontext äußerst fruchtbar. Jelineks Theatertexte, die sich grundsätzlich aus Verfahren der Bricolage, der Montage und der Schichtung herstellen, wurden von der Forschung mehrfach mit diesem Begriff in Verbindung gebracht.18 Kolleg*innen rekurrierten in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf Gérard Genette, der das Konzept des Palimpsests heranzieht, um damit Phänomene der Para‑, Inter‑, Meta‑, Archi‑, Trans‐ und Hypertextualität zu beschreiben.19 Tatsächlich lassen sich die Texte Jelineks als Arbeiten lesen, die eine »palimpsestuöse Lektüre«20 im Sinne von Genette sowohl vornehmen wie auch provozieren. Abgesehen von dieser strukturalistischen Lesart jedoch erscheint mir das Konzept des Palimpsests vor allem deshalb so brauchbar, weil es erlaubt, Jelineks Texte als Archäologien des Affektiven zu lesen. Im intertextuellen Rückgriff auf die Tragödie und andere kanonisierte und nichtkanonisierte Texte bilden diese Arbeiten vielschichtige (Sprech‑)Flächen, die sich gemäß des überschreibenden Prinzips wieder und wieder (πάλιν, palin) neu konstituieren und dabei das relationale Gefüge erfahrbar machen, innerhalb dessen Affekte wie Wut, Angst, Schuld und Verachtung entstehen. Die Akkumulierung, gemäß derer sich diese palimpsestuösen Texte generieren, gehorcht dabei dem dialektischen Prinzip von relatedness und interruptions of relatedness, das Gregg und Seigworth in Bezug auf die Entstehung von Affekten hervorheben. Der Fokus auf dieses Axiom erscheint mir vor allem für die Analyse von Jelineks Auseinandersetzungen mit der griechischen Tragödie unabdingbar. In der Tragödie treten Affekte nicht nur zutage, sondern mitunter in divinisierter Form auch auf.

Ein Beispiel hierfür stellt Euripides’ Tragödie Herakles dar, die Jelinek mit ihrem 2016 verfassten Theatertext Wut ins Gedächtnis ruft.21 Wut entstand als Antwort auf die Pariser Terroranschläge vom 7. und 8. Jänner 2015, bei denen drei mutmaßliche Islamisten die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo sowie ein koscheres Lebensmittelgeschäft gestürmt und zwölf Menschen ermordet hatten. Diese Ereignisse und das Sprechen darüber zum Anlass nehmend, beleuchtet Jelineks Text das Verhältnis von Religion, Familie und Gewalt in Zeiten einer globalisierten, den Spielregeln des Neoliberalismus unterliegenden Welt und fragt danach, welche Rolle dem Affekt der Wut in diesem Kontext zukommt. Im Folgenden möchte ich demonstrieren, welcher ästhetischer Verfahren sich Jelinek bedient, wenn sie Gewalt im Rekurs auf die antike Tragödie als Zusammenspiel unterschiedlicher, nicht nur humaner Kräfte dechiffriert. Dabei werde ich vorrangig auf die Waffen fokussieren, die sowohl in Euripides’ Herakles als auch in Jelineks Fortschreibung dieser Tragödie als agierende Objekte auftreten. Ich möchte zeigen, dass diese Objekte bei beiden Autor*innen als Materialitäten hervortreten, die nicht nur die Grenzen zwischen Organischem und Anorganischem, sondern auch jene zwischen Schuld und Unschuld, Zivilisiertheit und »Barbarei« sowie Wahnsinn und Vernunft brüchig erscheinen lassen.

Euripides’ Herakles setzt mit einem Prolog ein, in dem Herakles’ Adoptivvater Amphitryon von Lykos berichtet, der seinen Feind Herakles, dessen Frau Megara und deren gemeinsame drei Kinder töten will. Herakles kann seiner Familie jedoch nicht zur Seite stehen – er ist gerade im Begriff, die letzte seiner heroischen zwölf Arbeiten zu verrichten. Die Familie des Herakles hat deshalb am Zeus‐Altar Zuflucht genommen. Der Chor der Greise sympathisiert mit Megara und ihren Kindern, sieht sich aber nicht in der Lage, ihnen zu helfen. Nach einem langen Gespräch mit Amphitryon, in dem dieser versucht, Lykos davon zu überzeugen, die Familie ins Exil gehen zu lassen, gibt Lykos schließlich den Befehl, die Zufluchtsstätte mitsamt der Bittsuchenden niederzubrennen. Megara jedoch weigert sich, als Feigling lebendig verbrannt zu werden. Nachdem sie die Hoffnung auf die Rückkehr des Herakles aufgegeben hat, erwirkt sie die Erlaubnis des Lykos, die Kinder vor deren Tötung in Totengewänder zu kleiden. Just während Lykos davongeht, um die Vorbereitungen für die Verbrennung zu treffen, kehrt Herakles unerwartet zurück. Er hört von Lykos’ Plan, Megara und die Kinder umzubringen, und beschließt daraufhin, sich an ihm zu rächen. Als Lykos in den Palast zurückkehrt, um Megara und die Kinder zu holen, wird er von Herakles empfangen und getötet. Das Freudenlied, das der Chor der Greise nun anstimmt, ist nicht von langer Dauer. Es wird unterbrochen vom unerwarteten Erscheinen der Botengöttinnen Iris und Lyssa, die Herakles im Auftrag Heras in den Wahnsinn treiben, sodass dieser schließlich seine eigenen Kinder tötet und daraufhin in einen tiefen Schlaf fällt. Als Herakles wieder erwacht, wird er von Amphitryon über seine mörderischen Taten in Kenntnis gesetzt. Daraufhin bringt sich Herakles um.

Im Unterschied zu Sophokles, der Herakles bereits in den Trachinerinnen ein Denkmal gesetzt hat, zeichnet Euripides die mythologische Figur weitaus vielschichtiger, indem er sie zunächst als väterlich sorgend und rechtschaffen vorführt und sodann als irrational mordend. Mit diesem raffinierten dramaturgischen Schachzug provoziert Euripides eine maximale Fallhöhe im Moment der Peripetie.22 Die Zwiespältigkeit, die sich aus der Tugendhaftigkeit (arete) des »Kulturheros« einerseits und seiner »barbarisch« anmutenden Transgression andererseits ergibt, erweist sich für Jelineks Herakles‐Fortschreibung als paradigmatisch: Eine klare Opfer‐Täter*innen‐Differenzierung wird hier, wie dies grundsätzlich für Jelineks Arbeiten zu behaupten ist, verunmöglicht.

Diese Unentscheidbarkeit zeigt sich bereits auf struktureller Ebene. Der Text verfügt über keinerlei ausgewiesene Sprechinstanzen; er lässt ein zwischen Ich und Wir mäanderndes Stimmenkonglomerat laut werden, aus dem sowohl die Parolen islamistischer Dschihadist*innen zu vernehmen sind wie auch die Tiraden europäischer Rechtspopulist*innen und ‑extremist*innen. Das chorische Gefüge, das hier hörbar wird, resultiert aus der Bündelung spezifischer Intensitäten und Kräfte, die erst in ihrer Relationalität das erfahrbar machen, was aus ihnen spricht: eine allumfassende Wut. Diese Wut offenbart sich als Affekt, der aus dem Gefüge von Körper(n), Geist, sozialem System und kultureller Ordnung hervorgeht. Interessant aber ist, dass sich die damit aufgerufene Assemblage weder bei Euripides noch bei Jelinek ausschließlich aus humanen Kräften konstituiert. Beide Dichter*innen erkennen in ihren ästhetischen Auseinandersetzungen mit den Ursachen und Auswirkungen mörderischer Raserei das Zusammenspiel von menschlichen Akteur*innen und nichtmenschlichen Objekten an. Gewalt erscheint in der antiken Tragödie und in ihrer Fortschreibung als Effekt einer zwischen dem mordenden Menschen und seinen (materiellen) Waffen aufgeteilten Agency.

Fokussieren wir auf den Moment, in dem Herakles über einen möglichen Suizid nachdenkt. Wir erfahren davon aus einem Zwiegespräch, das Herakles mit seinen Waffen führt. Diese Waffen ergeben sich in einer spezifischen Ambiguität zu erkennen, die Herakles’ Unberechenbarkeit auf merkwürdige Art spiegelt. Gerade noch hatten Pfeil und Bogen ihn dabei unterstützt, seine heroischen Arbeiten zu verrichten. Dann dienten sie ihm dazu, Lykos zu töten. Sie sind es aber auch, die sich im Moment der Katastrophe gegen die eigene Familie des Protagonisten richten: Mithilfe seiner Waffen tötet Herakles seine Kinder, die er für die Kinder seines Feindes Eurytheus hält. Die damit verbundene Ambivalenz äußert sich besonders eindrücklich mit Blick auf die Verse 1376–1385:

Herakles:

[…]
O bitterer Blick auf die Waffen! Ach, soll
Ich sie lassen? Sie tragen? Ach, werden sie nicht
An der Seite mir raunen: »Wir habens vollbracht!
Deine Knaben getötet!« Wie soll ich sie da
Noch schultern? Und kann doch nicht ohne sie,
Mit denen ich strahlende Taten vollbracht,
Mich von Knechtschaft retten, von schmählichem Tod.
Ihr seid schaurige Last, doch muß es so sein.23

Herakles hört seine Waffen sprechen, sie geben sich als tötende Partner zu erkennen, gleichzeitig aber auch als Schmerz zufügende Feinde. Sie offenbaren sich mithin als »material ›friends‹ and ›foes‹«24, wie die Altphilologin Erika Weiberg eindrücklich gezeigt hat.

In Jelineks Fortschreibung Wut kehrt die besondere Agency, mit der Herakles’ Waffen in dieser Passage ausgestattet sind, wieder:

Brüllend vor Macht oder leise wegen der Anstrengung, den Abzug zu drücken, wie macht man das bei einer Kalaschnikow?, liebes Gewehr der AK‑Familie, nicht Arbeiterkammer gemeint, die ist gut ausgedacht, Tochter, Sohn, sakra, wie heilig, diese Waffe bringt Unglück und gleich darauf Erleichterung für den Schützen, die Waffe selbst? Benutzt einen Teil der Energie der Patronenladung, die kommt nicht von Patroklos, der immer nur beweint wird, das Energiebündel, nein, der nicht; dieser Energieteil, dieses Teil wird also benutzt, um die Mechanik zu spannen und für den nächsten Schuß, der gewiß kommen wird, vorzubereiten. Das haben wir natürlich geübt, so, und wir stöhnen vor gar nichts, die Waffe schreit wie ein Hund, dem man auf den Fuß tritt, wir verfolgen unseren Weg der Macht, die keine ist, deswegen nennt man sie Macht, weil es nichts macht, ob man sie hat oder nicht, es macht nichts, töten muß man, egal, wo sich die Macht aufhält, wenn man töten will, dann kann man es auch. (WU, S. 11–12)

Vor dem Hintergrund der antiken Tragödie entpuppt sich die Waffe hier als Objekt, von der eine zerstörerische wiewohl kathartische Wirkung ausgeht – diese Waffe bringt Unglück und gleich darauf Erleichterung für den Schützen. Das ästhetische Verfahren der Be‑Lebung, das dabei zum Einsatz kommt, anim(alis)iert das todbringende Objekt (die Waffe schreit dabei wie ein Hund, dem man auf den Fuß tritt) und führt es als lebendige Materie vor: Die Waffe tobt. Das Gewehr wird als Familienmitglied beschrieben, wobei die darauffolgende Nennung von Patroklos Assoziationen zu dessen Waffenfreundschaft mit Achilleus weckt. Die zwischen Mensch und Gerät aufgeteilte Agency rückt dabei die affektive Beziehung in den Vordergrund, die grundsätzlich zwischen Soldat*innen, Terrorist*innen und ihren Waffen besteht.25 Sie sorgt dafür, dass sich die Waffe als Mitstreiterin und Kumpanin zu erkennen gibt: »Ich streite allein gegen alle, und diese Waffe hilft schon sehr, sie hilft mir dabei […]« (WU, S. 12). Das Materielle (d.h. die Waffen) und das Soziale (d.h. die Zugehörigkeit zu anderen und spezifische Identitätskonzepte) offenbaren sich in Wut ebenso wie in der antiken Vorlage als untrennbar miteinander verstrickt. Innerhalb dieser Verstrickung entsteht der Affekt der mörderischen Wut, den Euripides und Jelinek unter die Lupe nehmen. Aber wie kommt es zu dieser Verstrickung?

Erika Weiberg hat darauf hingewiesen, dass die Waffen für Herakles die Abwesenheit seiner Freunde kompensieren.26 Tatsächlich geht Herakles’ mörderischen Taten die Erkenntnis darüber, von seinen Freunden verlassen worden zu sein, voraus. Werfen wir einen Blick auf das Gespräch, in dem Megara Herakles über die mörderischen Pläne des Lykos unterrichtet:

Herakles:
So ganz ohne Freunde verblieb unser Haus?
Megara: 
Wer hat je im Unglück noch Freunde gesehn?
Herakles: 
Und die Minyerschlacht? Sie war ausgelöscht?
Megara: 
Die Not – hör es nochmal! – vertreibt den Freund.
Herakles: 
Nun fort mit den Totenkränzen, o tauscht
Diese Schatten der Nacht mit dem strahlenden Licht!
Ich geh an mein Werk und als erstes sei
Thebens Zwingburg gestürzt! Ich trenne vom Rumpf
Lykos’ schamloses Haupt, allen Hunden zum Fraß.
Und die undankbaren Bewohner der Stadt
Erschlägt diese strahlende Waffe, erlegt
Mein schnelles Geschoß; Ismenos füllt
Sich mit Toten und Dirke verfärbt ihre Flut. (Eur. Her. 558–73)

Die fehlende Loyalität seiner Freunde, die es unterlassen haben, seine Familie zu retten, kränkt Herakles dermaßen, dass er sich an ihnen rächen will. Seine Waffen spielen in diesen Überlegungen eine zentrale und aktive Rolle. Sie sind Teil eines spezifischen sozialen, affektiven und materiellen Umfelds, in dem die Gewalt des Helden verwurzelt ist. In diesem Zusammenspiel werden die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn brüchig. Herakles glaubt, rechtmäßig zu agieren – stattdessen erweist sich seine Gewalttat schließlich als Resultat geistiger Verwirrung.

Aus psychoanalytischer Sicht erfolgt die Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn durch die Lösung der ödipalen Problematik, d.h. durch die Einsetzung des Inzesttabus sowie des Verbots des Vatermords.27 Im Umgang mit diesem väterlichen Verdikt erweist sich, so der Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre, das weitere Schicksal eines einzelnen Subjekts und der Gesellschaft.28 Das Verbot, das vom Vater »kraft Amtes« verhängt wird, verhindert die unheilvolle Vermischung von Generationen und bildet den Grund von Recht und Gesetz. Diese Beobachtungen Legendres sind angesichts von Herakles’ Verlust des Adoptivvaters von besonderem Interesse. Sie sind aber auch deshalb von Bedeutung, weil sie Grundlage eines Artikels des Psychoanalytikers Hans‐Joachim Behrendt bilden, den Elfriede Jelinek in Wut als intertextuellen Bezug angibt (vgl. WU, S. 114). Behrendt zufolge »sichert die Bewältigung der ödipalen Problematik die seelische (und biologische) Existenz des Individuums wie auch des Kollektivs und bewahrt beide vor der Vernichtung.«29 Gemäß dieses Denkens setzt das väterliche Verdikt der Omnipotenz Schranken und stellt darüber hinaus eine fürsorgliche Unterstützung bereit, die für die Emanzipation des Sohnes elementar erscheint.

Diese psychoanalytisch definierte Schlüsselrolle des Vaters nimmt Jelinek in Wut in den Blick. Als Sprungbrett dienen der Autorin dabei die Ausführungen Klaus Theweleits, der in seiner Publikation Das Lachen der Täter feststellt, dass ein Großteil der Dschihadisten, aber auch Amokläufer wie Anders Breivik, ohne väterliche Referenz aufgewachsen sind.30 Im Verknüpfen dieser Ansätze befragt Wut die Auswirkungen einer fehlenden Vaterinstanz für Individuum und Gesellschaft:

Anspruch auf einen Vater hat jeder, doch nicht jeder hat auch einen. Oft ist der Vater tot und verletzt damit die Norm, noch weitere Söhne zeugen und anschließend von Ewigkeit zu Ewigkeit belehren zu können. Er kann das alles aber selbstverständlich auch an eine Instanz delegieren, welche die Unerbittlichkeit des Gesetzes bestärken soll, das wird oft und gern getan, denken Sie nur an Ödipus, was bitte hätte der ohne ein Gesetz noch alles machen können! (WU, S. 73)

Tatsächlich lohnt es sich, in diesem Zusammenhang dem Ursprung des ödipalen Gesetzes nachzuspüren und sich dem zu nähern, was Legendre als »référence fondatrice«, also als Gründungsreferenz, bezeichnet. Das Amt des Vaters nämlich ist in den Bezug zur absoluten Referenz elementar eingebunden. Das zeigt sich nicht nur mit Blick auf den religionenumfassenden Mythos von Abraham und Isaak, sondern auch im christlichen Neuen Testament, wo der Sohn (und »Vater« der Christenheit) das Amt des Vaters ausführt, »zur Rechten Gottes« sitzend. Fällt dieses Zwischenglied des Vaters, der Im Namen von … handelt, weg, ist also – wie es bei Jelinek heißt – »kein Vater […] da, nur Gott, unser Herr, der so groß ist, daß wir nicht über ihn drüberschauen können« (WU, S. 29), so zieht dies ein Festhalten des Kindes an der Mutter nach sich. Folgeerscheinungen einer solchen nicht funktionierenden psychosexuellen Ablösung von der Mutter sind Legendre zufolge übermäßig empfundene Hass‐ und Angstgefühle, aktive und passive Unterwerfungsgelüste sowie eine überbordende narzisstische Selbstüberhöhung.31 Folgerichtig heißt es in Wut: »Ich halte es nicht aus, verlassen worden zu sein, und das macht mich wirklich rasend vor Wut« (WU, S. 46).

Euripides inszeniert Herakles’ mörderische Taten sowie sein Denken an Selbstmord als Konfrontation mit den eigenen Waffen des (Anti‑)Helden, die sich diesem als materielle Freunde und Feinde offenbaren. Wenn Jelinek die Attentate von Paris vor dem Hintergrund der antiken Tragödie verhandelt, dann suggeriert sie freilich nicht, dass die Erfahrungen des Herakles mit jenen Erfahrungen gleichzusetzen sind, die zeitgenössische Dschihadisten gemacht haben. Vielmehr demonstriert ihr Text durch das ihm zugrundeliegende ästhetische Verfahren des Palimpsests, dass die Faktoren, die zu Gewalt führen, vielfältig und komplex sind. Die Waffen, die in Wut als sprechende Objekte buchstäblich auftreten, verweisen auf die genuine Verflechtung von Materiellem, Sozialem und der affektiven Erfahrung von Trauma und Verlust. Sie rufen aber auch das auf, was Jane Bennett als Thing‐Power bezeichnet.

Endnoten

15 Vgl. Gregg, Melissa/Seigworth, Gregory: »An Inventory of Shimmers.« In: Dies. (Hg.): The Affect Theory Reader. Durham/London: Duke University Press 2010, S. 1–25, hier S. 2.

16 Vgl. hierzu v.a. Massumi, Brian: Parables for the Virtual: Movement, Affect, Sensation. Durham: Duke University Press 2002.

17 Gregg, Melissa/Seigworth, Gregory »An Inventory of Shimmers.«, S. 2 [Herv. SF].

18 Vgl. beispielsweise Jezierska, Agnieszka: »Das ambivalente Wort in Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft von Elfriede Jelinek.« In: Holona, Marian/Zittel, Claus (Hg.): Positionen der Jelinek‐Forschung. Bern et al.: Peter Lang 2008, S. 279–302.

19 Vgl. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.

20 Ebd., S. 532.

21 Jelinek, Elfriede: Wut (kleines Epos. Geh bitte Elfi, hast dus nicht etwas kleiner?). Unveröffentlichtes Bühnenmanuskript. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2016, im Folgenden zitiert mit der Sigle WU.

22 Zur spezifischen Dramaturgie der Tragödie vgl. Papadopoulou, Thalia: Heracles and Euripidean Tragedy. Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 20–21.

23 Euripides: »Der Wahnsinn des Herakles. Übers. v. Ernst Buschor.« In: Ders.: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Bd. III. Hgg. v. Gustav Adolf Seeck. München: Heimeran 1972, S. 95–190, hier S. 185–187 (1376-1385), im Folgenden zitiert mit der Sigle Eur. Her. und der Versangabe.

24 Weiberg, Erika L.: »Weapons as Friends and Foes in Sophocles’ Ajax and EuripidesHeracles.« In: Telò, Mario/Mueller, Melissa (Hg.): The Materialities of Greek Tragedy, S. 63–78, hier S. 63.

25 Vgl. Weiberg, Erika L.: »Weapons as Friends and Foes in Sophocles’ Ajax and EuripidesHeracles

26 Vgl. ebd., S. 65.

27 Vgl. zu den folgenden Überlegungen Felber, Silke: »Im Namen des Vaters. Herakles’ Erbe und Jelineks Wut.« In: Fladischer, Konstanze/Janke, Pia (Hg.): JELINEK [JAHR]BUCH 2016–2017, S. 43–58.

28 Vgl. Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater. Lektionen VIII. Freiburg: Rombach 1998.

29 Behrendt, Hans‐Joachim:»›iustitia prohibitoria‹. Das väterliche Gesetz und die ödipale Szene. Ein Kommentar zu Pierre Legendre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlung über den Vater.« In: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis XXIII (2008), Ergänzung zu Heft 1/2, S. E1–E25.

30 Vgl. Theweleit, Klaus: Das Lachen der Täter: Breivik u.a. Psychogramm der Tötungslust. Salzburg: Residenz Verlag 2015. Vgl. dazu auch Theweleit, Klaus: »The killer smiles. Klaus Theweleit im Gespräch mit Florian Borchmeyer.« https://www.schaubuehne.de/en/uploads/Schaubuehne_Klaus-Theweleit_Interview.pdf [Zugriff am 30.12.2020].

31 Vgl. Behrendt, Hans‐Joachim: »›iustitia prohibitoria‹«, S. E12.