4.1 Schnee Weiß

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite


Schnee Weiß entstand im Kontext der #MeToo‐Debatte, die im Herbst 2017 als Antwort auf die zahlreichen Missbrauchsvorwürfe gegen den US‑amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein ins Leben gerufen worden war. Wenige Tage nach Publikwerden dieser Vorwürfe wandte sich die ehemalige Skirennläuferin Nicola Werdenigg an die Tageszeitung Der Standard und gab Aussagen zu Protokoll, die die Alpenrepublik Österreich nachhaltig erschüttern sollten. In einem Gespräch mit dem Journalisten Philip Bauer bezichtigte Werdenigg den ÖSV des systematischen Machtmissbrauchs und behauptete, in ihrer Zeit als aktive Athletin mehrfach Opfer und Zeugin sexualisierter Gewalt gewesen zu sein. Ihr Bericht beginnt mit folgenden Worten:

Er war ein Skifabrikant. Ein unappetitlicher alter Mann. Er bat mich zu sich, setzte mich auf seine Knie und berührte mich, wie es nicht hätte sein sollen. Er sagte, ich sei gut und intelligent. Er sagte, es bräuchte Leute wie mich in seinem Team. Ich stand auf und ging. Wenige Monate später war ich unter meinem Mädchennamen Nicola Spieß österreichische Meisterin im Abfahrtslauf.8

Die Skifirmen haben Werdenigg zufolge Mitte der 1970er‐Jahre angefangen, einen beachtlichen Einfluss auf den Verband auszuüben. Es sei üblich gewesen, dass sich die Verantwortlichen mit Trainern zusammengeschlossen und Mitspracherecht bei der Besetzung von Läuferinnen und Läufern beansprucht hätten. »Damit fing der Machtmissbrauch an. Auch in Form von unangenehmen Annäherungsversuchen. Mit der Attraktivität der maßgeblichen Männer hatte das Flirten – und dabei blieb es oft nicht – wenig zu tun. Wer nicht mitspielen wollte, brachte seinen Startplatz in Gefahr.«9 An der Tagesordnung gewesen seien aber auch sexuelle Übergriffe durch Trainer und innerhalb der Kollegenschaft. So war es angeblich üblich, junge Rennläuferinnen beim Geschlechtsverkehr zu filmen und das daraus resultierende pornografische Material gemeinsam im Team zu konsumieren. »Man hat sich damit gebrüstet.«10

Viele der Missbrauchshandlungen präsentierten sich als pervertierte Initiationsrituale. So berichtet Werdenigg etwa von einem Neuankömmling, der vom Heimleiter darauf angesetzt worden sei, sie selbst zu vergewaltigen: »Die Tatsache, dass der Mann, der diese Aktion aus Frauenverachtung inszenierte, dabei Befriedigung vor meiner Zimmertür erlebte, war der erste große Schock in meinem Leben.«11 Im Alter von 16 Jahren sei sie von zwei Männern unter Alkohol gesetzt und anschließend vergewaltigt worden. Alle hätten von solchen Missbrauchshandlungen gewusst, so Werdenigg. »Man dachte, das sei normal. Geredet wurde darüber kaum, erst recht nicht dagegen vorgegangen.«12 Ein anderer ehemals aktiver Rennläufer berichtete im Anschluss an Werdeniggs Outing von der Praktik des sogenannten Pasterns, die im Skigymnasium Stams gang und gäbe gewesen sei.13 Arno Staudacher, Direktor dieser international hoch angesehenen Kaderschmiede des österreichischen Skisports, versuchte gar nicht, die Vorwürfe des ehemaligen Schülers zurückzuweisen. Vielmehr gab er an, selbst als Jugendlicher die Erfahrung dieses »Rituals« gemacht zu haben: »Ich kenn das unter Burschen, dass die Älteren die Jüngeren sozusagen eingeweiht haben. Da wurde gezeigt, wo es langgeht. Da hat man den Hintern ein bissl mit Schuhcreme eingerieben bekommen. Das ist eine Erfahrung, die ich persönlich gemacht habe.«14 Für den klagenden ehemaligen Stams‐Schüler kommt diese Beschreibung eines offensichtlich sexuellen Machtspiels einer groben Verharmlosung gleich: »Das ist kein netter Initiationsritus, sondern da wurde ganzen Generationen mit Gewalt von mehreren meist älteren und stärkeren Sportlern die Hose heruntergerissen. Und je nachdem, wie aufmüpfig einer vorher war, bekam er Zahnpasta oder einen mehr oder weniger klebrigen Klister anal verabreicht.«15

Während die Vorwürfe der sexuellen Belästigung und Nötigung im US‑amerikanischen Fall Harvey Weinstein unverzüglich zur Entlassung des Filmproduzenten aus der Weinstein Company und zu seinem Ausschluss aus der Oscar‐Akademie geführt hatten, zog die »Causa Werdenigg« kaum Konsequenzen nach sich. Die Verantwortlichen des österreichischen Skisports reagierten mit Verleumdung, Verharmlosung und mit einer spezifischen Opfer‐Täter*innen‐Umkehr. Der damalige ÖSV‐Präsident Peter Schröcksnadel hielt es grundsätzlich für »unwahrscheinlich«, dass sexuelle Übergriffe im Skizirkus unentdeckt geblieben seien. Sportchef Hans Pum schloss sich dem an: »Wir sind 200 Tage im Jahr unterwegs. So etwas würde sich in so einem Team sofort herumsprechen, das wäre sicher ans Tageslicht gekommen.«16 Er habe mit vielen Trainern und Athleten gesprochen, aber es habe »nie jemand was von sexuellem Missbrauch gehört.«17 Ihr Gewicht gibt diesen Aussagen der Umstand, dass es sich bei ihren Adressanten um Ikonen des Österreichischen Skisports, d.h. mithin um Schlüsselfiguren des österreichischen Nationalbewusstseins handelt. Hans Pum zeichnete in seiner Zeit als Alpindirektor (1996–2010) für die größten Erfolge des österreichischen Alpinsports verantwortlich, die an Namen wie Michaela Dorfmeister, Stefan Eberharter, Renate Götschl, Hermann Maier oder Benjamin Raich gekoppelt sind. Peter Schröcksnadel war nicht nur Präsident des ÖSV (1990–2021), sondern zählt darüber hinaus zu den einflussreichsten Unternehmern Österreichs. Er ist Geschäftsführer der Austria Skiteam Handels‐ und Beteiligungs GmbH, der Austria Ski Nordic Veranstaltungs GmbH, der Austria Ski WM und Großveranstaltungs GmbH und der Austria Ski Veranstaltungs GmbH. Diese Tochterfirmen des ÖSV gehören zu den wichtigsten Veranstaltern von Sport‐ und Wintertourismusveranstaltungen in Österreich. Zudem leitet Schröcksnadel die Sitour Management GmbH, die gemeinsam mit der von seinem Sohn Markus geführten Vereinigte Bergbahnen GmbH zahlreiche Tourismusunternehmen und Skigebiete hält.

Vor der Folie dieser Hintergründe beleuchtet Jelineks Theatertext Schnee Weiß (Die alte Leier) die gesellschaftlichen Voraussetzungen für sowie die Verleugnung von humaner Gewalt und fragt nach den Spuren, die sie am menschlichen Körper und an der Natur hinterlässt. Sport erscheint dabei – wie Artur Pełka bereits angesichts früher entstandener (Theater‑)Texte von Jelinek konstatiert hat – als »Signatur der männlichen Macht und Potenz.«18

Intertextuell basiert Schnee Weiß auf zwei antiken Prätexten. Zum einen finden sich hier Bezüge zur euripideischen Bakchen‐Tragödie, die bereits als Folie für Jelineks Theatertexte Rechnitz. Der Würgeengel (2009), Die Straße. Die Stadt. Der Überfall. (2012) und Das Licht im Kasten (2016) gedient hatte. Zum anderen rekurriert Schnee Weiß auf das sophokleische Satyrspiel Die Satyrn als Spürhunde. Auch dieses antike Textfragment hat bereits Einzug in das Werk Jelineks gefunden, nämlich in Kein Licht. (2011). Wie wir sehen werden, fungieren diese beiden antiken Prätexte in Schnee Weiß als Referenzrahmen, stellen aber keineswegs die einzigen intertextuellen Bezüge dar, die darin hergestellt werden.

Endnoten

8 Bauer, Philip: »Nicola Werdenigg: ›Es gab Übergriffe. Von Trainern, Betreuern, Kollegen.‹« https://derstandard.at/2000068105376/Sexualisierte-Gewalt-im-Skisport-Ich-kann-ueber-das-Erlebte-sprechen 20.11.2017 [Zugriff am 9.6.2019].

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Vgl. Neumann, Fritz: »Sexuelle Übergriffe in Skigymnasium Stams: ›Da wurde eine Tube eingeführt.‹« https://derstandard.at/2000068889794/Sexuelle-Uebergriffe-in-Skigymnasium-Da-wurde-eine-Tube-eingefuehrt 2.12.2017 [Zugriff am 9.6.2019].

14 N.N.: »Auch Skigymnasium‐Direktor erlebte Übergriff.« https://tirol.orf.at/news/stories/2880094 24.11.2017 [Zugriff am 9.6.2019].

15 Neumann, Fritz: »Sexuelle Übergriffe in Skigymnasium Stams.«

16 N.N.: »Schröcksnadel an Werdenigg: ›Eine Entschuldigung würde reichen!‹« https://diepresse.com/home/sport/wintersport/5328700/Schroecksnadel-an-Werdenigg_Eine-Entschuldigung-wuerde-reichen 28.11.2017 [Zugriff am 10.6.2019].

17 Ebd.

18 Pełka, Artur: »Körper – Sport – Krieg.« In: Janke, Pia: Jelinek‐Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, S. 297–300, hier S. 297.