6.1 Tragödie versus Komödie: Divergenzen und Annäherungen

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Felber, Silke. 2023. Travelling Gestures - Elfriede Jelineks Theater der (Tragödien-)Durchquerung. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467022. Cite

Unterkapitel

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6.1 Tragödie versus Komödie: Divergenzen und Annäherungen
  6.1.1 Figurenpersonal, Dramaturgie und Sprache
  6.1.2 Maske und Kostüm
  6.1.3 Metatheatralität und Aufführungskontext
  6.1.4 Chor


Die Suche nach historischen Zeugnissen, die die Trennung von tragischem und komischem Genre infrage stellen, führt uns ausgerechnet zu einer Erzählung über ein exzessives Saufgelage, nämlich zur Schlussszene aus Platons Symposion. Eyximachos, Phaidros und einige andere waren bereits nach Hause gegangen, so schildert Aristodemos dort. Und auch er selbst hatte sich zur Ruhe begeben. Als er am späten Morgen wieder erwachte, sah er, dass alle anderen ebenfalls gegangen waren oder schliefen – mit Ausnahme von drei Männern, wie wir in einer Art Botenbericht erfahren:

Nur Agathon und Aristophanes und Sokrates seien noch wach gewesen und hätten, nach rechts herum, aus einer großen Schale getrunken, und Sokrates habe ein Gespräch mit ihnen geführt. Worüber sie sonst geredet haben, sagte Aristodemos, könne er sich nicht mehr erinnern, sei er doch nicht von Anfang an dabei gewesen, und zudem hätte er zwischenhinein ein wenig geschlummert. In der Hauptsache aber sei es darum gegangen, sagte er, daß Sokrates sie zuzugeben genötigt habe, ein und derselbe Mann müße sich darauf verstehen, eine Tragödie und eine Komödie zu schreiben, und der kunstgemäße Tragödiendichter sei auch ein Komödiendichter.2

Weder der Tragödiendichter Agathon noch der Komödiendichter Aristophanes, so lesen wir weiter, konnten Sokrates so recht folgen – beide nickten ein. Sokrates’ Überlegung, Tragiker müssten eigentlich auch imstande sein, Komödien zu dichten (und umgekehrt), stellt sich als wirres Gedankenexperiment in der Folge übermäßigen Alkoholkonsums dar. Die Passage zeigt mithin, dass die klare Trennung von Tragödie und Komödie bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. als eine Selbstverständlichkeit angesehen wurde. Tatsächlich konnte ein Tragödiendichter innerhalb des Agons nicht gegen einen Komödiendichter antreten, sondern nur gegen »seinesgleichen«. Aus Aufzeichnungen zu den abgehaltenen Spielen können wir ableiten, dass Tragödiendichter im Athen des 5. Jahrhunderts ausschließlich Tragödien und Satyrspiele, Komödiendichter wiederum ausschließlich Komödien verfassten. Dasselbe galt übrigens auch für den Cast. Der erste Schauspieler, von dem zuverlässig belegt ist, dass er sowohl in Tragödien als auch in Komödien aufgetreten ist, lebte um 100 v. Chr.3 Worin aber weichen Tragödie und Alte Komödie konkret voneinander ab?

6.1.1 Figurenpersonal, Dramaturgie und Sprache

Innerhalb der einschlägigen altphilologischen Forschung bezieht sich die Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie hauptsächlich auf die dort auftretenden Charaktere und deren gesellschaftliche Stellung.4 Diese Unterscheidung geht auf eine viel zitierte Passage aus Aristoteles’ Poetik zurück, wo es heißt: »Die Dichtung hat sich […] nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten, wobei sie zuerst Rügelieder dichteten, die anderen hingegen Hymnen und Preislieder.«5 Während die Tragödie Held*innen aus dem Mythos vorführt, die einer privilegierten Klasse bzw. Schicht angehören, d.h. grundsätzlich einen höheren sozialen Status genießen als der Durchschnitt, präsentiert die Komödie Charaktere, mit denen sich das Publikum der Antike bestens identifizieren kann. Darüber hinaus wartet die Komödie mit einer illustren Mischung aus prominenten Politikern, Göttern und Göttinnen sowie chorisch sprechenden bzw. singenden Tieren (z.B. Vögeln oder Fröschen) auf. Unterschiede ergeben sich aber auch aus genderspezifischer Sicht. Wie Helene Foley gezeigt hat, neigen weibliche Charaktere in der Tragödie dazu, im Zeichen des häuslichen oikos zu agieren, während sie in der Komödie in der öffentlichen Sphäre der polis tätig werden.6

Wenngleich die Tragödie im Hervorbringen des »erhabenen« männlichen Helden die Marginalisierung von Frauen sowie von bestimmten sozialen und ethnischen Gruppierungen befördert, so erweist sich die Sprache der darin auftretenden Charaktere als erstaunlich homogen. Boten, Diener und Frauen verfügen in der Tragödie grundsätzlich über denselben Duktus wie König*innen, Götter und Göttinnen. Sprachliche und stilistische Unterschiede dienen lediglich dazu, die verschiedenen Abschnitte der Tragödie – d.h. Chorpassagen, Botenberichte, Stichomythien etc. – voneinander abzugrenzen. Die Abfolge dieser dramaturgischen Bauelemente ist strikt geregelt und orientiert sich ausnahmslos am Grundschema Prolog – Epeisodien – Exodos, wobei Chorpassagen (parodos und stasimon) und Schauspielermonologe bzw. ‑dialoge einander abwechseln. Rückblenden und Parallelhandlungen können in der Tragödie ausschließlich in Form von Botenberichten, Teichoskopie (Mauerschau) oder mittels dramaturgischer bzw. technischer Kunstgriffe (deus ex machina, ekkyklema) präsent gemacht werden. Die typischen Elemente der Komödie wiederum – allen voran die siebenteilige parabasis (d.h. die Ansprache des Publikums durch den hervortretenden Chor) und der komplexe agón (d.h. die Debattenszene) – sind ebenfalls streng detailliert ausgearbeitet. Das Herzstück bildet jeweils ein wiederholtes Muster aus vom Chorleiter gesungenen Rezitativen, gefolgt von der epirrhematischen Syzygie, d.h. einem zweiten, korrespondierenden Teil, der vom Chor zu singen ist. Der komische Agon wird als rhetorischer Konkurrenzkampf zwischen zwei Charakteren mit stark gegensätzlichen Ansichten formuliert, wie z.B. zwischen Euripides und Aischylos in Die Frösche.7

Wenngleich die Struktur dieser beiden komischen Bauelemente äußerst komplex ist, so erweist sich der dramaturgische Aufbau der aristophanischen Komödie summa summarum als flexibler.8 Ähnliches gilt für die Metrik, wie die Altphilologin Johanna Hanink betont »[…] although the poetry of both kinds of plays used the same metrical building blocks (iambs, trochees, anapaests etc.), the grammar of comedy allowed for more frequent resolution (two short syllables in place of a long) and substitution (two short syllables in place of one short).«9 Im Gegensatz zum sublimen tragischen Register ist der Stil der aristophanischen Komödie zudem von einer Fülle an heterogenen Stilelementen, einer hochpoetischen Bildersprache, aber auch direkten Obszönitäten geprägt.

Diskrepanzen zwischen den beiden Genres zeigen sich freilich auch in thematischer Hinsicht. Während die Tragödie ihre Stoffe großteils aus der griechischen Mythologie bezieht und nur gelegentlich eindeutig auf aktuelle historische Ereignisse rekurriert (wie beispielsweise in Aischylos’ Die Perser), erfindet die Komödie grundsätzlich ihre eigenen Geschichten. Dabei adaptiert sie Themen, Orte, Fragestellungen und häufig auch Personen aus der unmittelbaren Gegenwart. Die Tragödie fungiert gewissermaßen als Zeitmaschine, die ihr Publikum in archaische Epochen versetzt, wohingegen Aristophanes’ Komödien in der Regel innerhalb der Mauern eines vom Peloponnesischen Krieg und seinen Folgen geplagten Athens spielen. Die Texte der Komödiendichter adressieren aktuelle Probleme ohne Umschweife und schrecken nicht davor zurück, die dafür verantwortlichen Personen zu nennen und persönlich anzugreifen. Die Komödie befragt die Instrumentarien der noch jungen Demokratie, verhandelt Aspekte der Erziehung und reflektiert über Fragen der Rhetorik und der Literatur – insbesondere über das tragische Genre. Zielscheibe der parodistischen Kritik sind sowohl Aischylos, Sophokles und Euripides als auch die politischen Schwergewichte der Zeit, d.h. Alkibiades, Perikles, Demosthenes und Kleon. Sie werden entweder ad personam attackiert oder in Form von (unmissverständlichen) Anspielungen parodiert.

6.1.2 Maske und Kostüm

Wesentliche Unterschiede zwischen Komödie und Tragödie lassen sich aber erst im Berücksichtigen der abweichenden Aufführungsbedingungen feststellen. Interessanterweise tut dies bereits Aristoteles, wenn er die Differenzierung zwischen Ernstem (spoudaion) und Nichternstem (phaulon oder geloion) im Rückbezug auf die Maske argumentiert. Dieser Bezug ist es auch, der die von Aristoteles vorgenommene sozial und ethisch determinierte Valenz der Dichotomie zwischen tragischen und komischen Charakteren am deutlichsten belegt:

Die Komödie ist […] Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.10

Tatsächlich fällt die komische Maske, zu deren charakteristischen Merkmalen ein klaffender, asymmetrischer Mund zählt, durch ihre verzerrte, übertriebene Ausgestaltung auf. Das Besondere an ihr zeigt sich darin, dass sie imstande ist, scheinbar konträre Affekte und Gemütsregungen zum Ausdruck zu bringen bzw. aufzuführen. Stephen Halliwell hat diesbezüglich festgehalten: »[…] many representations of masks possess at least one feature (above all, a markedly widened and/or sharply curving mouth, and/or rounded cheeks) compatible with laughter (or smiles), while at the same time having other features (say, a furrowed brow and/or depressed, v‑shaped eyebrows) which appear to send contrasting signals.«11 Die gegenteiligen visuellen Signale, die die Maske aussendet, erschweren den Abstraktions‐ und Klassifikationsprozess, der der Entschlüsselung von mimischen Bewegungen als Zeichen von Gefühlen und Affekten vorausgeht. Im Gegensatz dazu gestalten sich die Masken der klassischen Tragödie einheitlich und divergieren hauptsächlich im Hinblick auf das damit vermittelte Alter oder Geschlecht einer Figur.12

In der Maske materialisiert sich somit der Unterschied zwischen der »erhabenen« Tragödie und der auf groteske Körperlichkeit setzenden Komödie. Zwar ist keine einzige Maske aus dem Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. erhalten, doch liegen uns zahlreiche Darstellungen, Terrakotta‐Modelle und andere Artefakte vor, die uns dabei helfen, ihre Beschaffenheit zu rekonstruieren. Unumstritten ist, dass der Kopf des Schauspielers vollständig vom prosopon (was übersetzt übrigens nicht nur Maske, sondern auch Gesicht meint) umschlossen war. Die Masken bestanden aus einem starren, geformten Gesicht mit anhängendem Haar, das je nach Typus in unterschiedlichen Proportionen zusammengesetzt war. Tragödienmasken waren in der Regel reichlich mit Haaren bestückt, die der Schauspieler einfach anheben konnte, um von hinten hineinzuschlüpfen. Im Gegensatz dazu ist davon auszugehen, dass die Kronen der komischen, oftmals kahlköpfigen Masken in einem Stück mit dem Gesicht geformt worden sind. Wurden die Masken der dargestellten Männer in Brauntönen gehalten, so waren jene der dargestellten Frauen weiß, wie Alan Hughes festhält: »[…] white skin in Greek art suggests a woman, because women’s conventional place was indoors; men are distinguished by a darker colour, representing the tan that resulted from the outdoor life of a citizen. Brown or russet would be applied to male masks […].«13 Der Maskenmund eines stummen Statisten konnte geschlossen sein, während der einer sprechenden Figur notwendigerweise offen und oftmals sehr groß war.

Groteske Vergrößerung bewirkte darüber hinaus das standardisierte Kostüm der Alten Komödie. Der enganliegende, fleischfarbene Ganzkörperanzug des komischen Schauspielers war typischerweise an Bauch und Gesäß ausgestopft und verfügte über einen in der Intimregion angebrachten überdimensionalen Phallus.14 Das, was die Komödiendarsteller darüber trugen – etwa ein knappes Überhemd oder einen Mantel –, konnte innerhalb einer Aufführung mehrfach variieren. Die Komödie ist nämlich nicht nur bekannt für ihre üppigen Kostüme, sondern auch für die vielen Kostümwechsel, die damit verbunden waren.

Während sich das Kostüm der Komödie aus einem Körperkostüm – das im Falle des Vögel‐ oder Wespenchors tierische Attribute inkludiert – und einem individuellen Kostüm zusammensetzt, weist die Tragödie nicht auf den Unterschied zwischen dem Kostüm einer Figur und ihrem Körper hin. Der tragische Schauspieler trägt ein langärmeliges Gewand, das sich wesentlich von der Alltagskleidung des Publikums abhebt, das bis zu den Füßen reicht und mit ausschweifenden geometrischen und figürlichen Verzierungen geschmückt ist. Der in der Komödie ausgestellte Gap zwischen dem Bühnenkörper eines Charakters und seiner Kleidung, die ihn bedeckt, ist im ernsten Genre also nicht sichtbar. Ähnliches gilt für die tragische Maske. Sie orinetiert sich an einem intersektional operierenden ästhetischen Ideal, das am deutlichsten auf Keramik‐Artefakten und Statuen zutage tritt.15 Als solche zieht sie die Aufmerksamkeit nicht auf sich selbst – ganz im Gegensatz zur komischen Maske, deren grotesk übertriebenen Züge kein Ideal zum Ausdruck bringen, sondern dieses vielmehr ins Gegenteil verkehren und dadurch das Augenmerk ex negativo sowohl auf das Ideal als auch auf die das Publikum umgebende »normale« Welt lenken.16

6.1.3 Metatheatralität und Aufführungskontext

Folgt man Oliver Taplin, so sind die bislang besprochenen Parameter innerhalb der Diskussion um die Diskrepanzen zwischen Tragödie und Komödie zu vernachlässigen. Der wesentliche Unterschied ergibt sich seiner Ansicht nach aus der jeweiligen Relation zwischen der dargestellten Welt und der Welt des Publikums.17 Die Tragödie vermeidet (zumindest nach Aischylos’ Persern und Eumeniden) weitgehend aktuelle Anspielungen, während die Komödie immer wieder auf die gegenwärtige soziale und politische Realität abzielt. Dadurch ergibt sich eine, im Vergleich zur Tragödie gesehen, engere Verbindung zwischen Bühne und Publikum. Zuschauende der Komödie wurden regelmäßig angesprochen, auf immer neue Weise in das Stück miteinbezogen, mitunter sogar von Schauspielern mit Nüssen und Feigen beworfen. Im Publikum anwesende Persönlichkeiten des öffentlichen und religiösen Lebens direkt anzuspielen oder aber diese als dramatis personae ins Spiel zu bringen, war sozusagen State of the Art. Das dramaturgische Mittel der parabasis erlaubte es einem Komödiendichter darüber hinaus, seine eigene Kunst zu reflektieren und zu verteidigen. Die ungeschriebene Regel schließlich, wonach sich Komödiendichter explizit auf den Festrahmen der Dionysien bezogen, ließ die Barriere zwischen Bühne und Auditorium noch brüchiger werden.

Ein ganz anderes Bild ergibt sich im Hinblick auf die Tragödie. Wenngleich wir dort zahlreiche Referenzen auf den Theatergott Dionysos vorfinden, so fehlt dabei der metatheatrale Bezug auf den Aufführungskontext. Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich des obligaten Publikumsverhaltens. Die Komödie sah eine lebhafte Beteiligung der Zusehenden vor, die eine spezifische Unterbrechung des Bühnengeschehens mit sich brachte. So können wir zwar nicht eindeutig behaupten, dass während Komödienaufführungen geflüstert, diskutiert, geklatscht oder dazwischengerufen wurde – mit Sicherheit aber wurde gelacht.18 Die Tragödie wiederum verlangte nach einem konzentrierten, statisch verweilenden Publikum, das seinen durch phobos und eleos induzierten Gefühlsregungen keinerlei geräuschvollen Ausdruck zu verleihen hatte: »[…] how ever moved the audience may be, wether by pity towards giving help or by anger towards revenge, or whatever, it knows it must sit quiet.«19 All diese Beobachtungen bringen Taplin zu folgendem Schluss: »We are left, then, with two genres which are in essence fundamentally different. On the whole they reject overlap rather than invite overlap. They are fascinatingly related yet opposed ways of approaching through art the world and the truth.«20 Diese Behauptung verfestigt eine vor allem in der philologisch orientierten Tragödienforschung über Jahrhunderte reproduzierte strikte Differenzierung zwischen Tragödie und Komödie, deren apodiktische Unantastbarkeit ich anhand einer Aussage des Philologen Benard Knox demonstrieren möchte: »For the fifth‐century Athenian tragedy was tragedy and comedy comedy, and never the two should meet.«21 Tatsächlich aber ist zu bedenken, dass uns von den rund 1.200 Tragödien, die allein für die Großen Dionysien produziert worden sind, heute nicht einmal drei Prozent vorliegen.22 Alle noch existierenden Komödien der Alten Komödie wiederum stammen von Aristophanes. Abgesehen davon verfügen wir lediglich über Bruchstücke aus Komödien, deren Autoren(-Namen) wir nicht kennen. Interessanterweise aber weisen diese Fragmente gewisse formale und inhaltliche Diskrepanzen zur aristophanischen Komödie auf.23 Die auf eine strikte Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie abzielenden Zuschreibungen basieren also auf einem relativ kleinen und zum Teil durchaus widersprüchlich anmutenden Textkorpus.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Fokus auf die performativen Rahmenbedingungen und auf den Festivalkontext umso dringlicher. Der Blick auf die Aufführungsbedingungen nämlich offenbart nicht nur die von Taplin ins Spiel gebrachten Unterschiede zwischen Tragödie und Komödie, sondern belegt ebenso eindrücklich die genuine Verstrickung beider Genres. Wertvolle diesbezügliche Hinweise liefert Aristophanes’ Komödie Die Vögel, wo es heißt:

Chorführer:
Nichts besser, süßer, als dass
man sich Flügel wachsen lässt.
Wär zum Beispiel einer von euch
Zuschauern geflügelt, könnt
er, wär hungrig er und fände
der Tragödien Chöre fad,
sich im Flug nach Haus begeben,
dann zu Mittag essen dort,
und, wär er gesättigt, käm er
wieder her zu uns im Flug.24

Die hier Auftretenden zitieren die Rolle des tragischen Chors, der sich – ebenso wie der komische Chor – aus Bürgern Athens zusammensetzt. Die Passage demonstriert, dass Komödie und Tragödie im selben Festivalkontext und am selben Ort gezeigt wurden. Vormittags war jeweils eine tragische Tetralogie zu sehen, während der Nachmittag für das Komische reserviert war – zumindest zur Zeit des Peloponnesischen Krieges.25 Während die Tragödie bereits 534/33 v. Chr. Teil des Kultprogramms war, wurden Dithyramben‐ und Satyrspiel gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. in das Festival miteinbezogen. Die Komödie aber erhielt erst 486 v. Chr. Einzug in den Agon. Tragödiendichter stellten ihre Texte (d.h. jeweils drei Tragödien und ein Satyrspiel) an einem einzigen Tag vor, insgesamt waren hierfür drei Tage vorgesehen. Die Komödiendichter wiederum präsentierten jeweils nur ein Stück, und zwar an einem eigens dafür vorgesehenen Tag. Grundsätzlich wurden an einem solchen Tag fünf Komödien aufgeführt.26

Von der Komödie in den Schatten gestellt wurde die Tragödie im Rahmen der Lenaia, also jener Festspiele, die seit Mitte des 5. Jahrhunderts an drei Tagen im Jänner bzw. im Februar ausgetragen wurden. Wenngleich beide Festivals – also die Dionysien und die Lenaia – im Dionysostheater am Südosthang der Akropolis stattfanden, so wurde dieser Schauplatz von Tragödien‐ und Komödienproduzenten unterschiedlich genutzt. Während das einstöckige Bühnengebäude in der Tragödie gemeinhin einen Palast (und gelegentlich auch einen Tempel, ein Zelt, eine Hütte oder eine Höhle) darstellte, diente es in der Komödie vorrangig als visuelles Zeichen eines städtischen Ambientes. Keinerlei Unterschiede gab es hinsichtlich der genutzten bühnentechnischen Ausstattung: Falltüren, Hebekran (mechane) und die Rollplattform ekkyklema wurden innerhalb beider Genres eingesetzt.

Sowohl der Tragödien‐ als auch der Komödiendichter hatten bei einem archon um Aufführungsrechte anzusuchen, beide benötigten darüber hinaus einen choregos, der die eigene Produktion finanzierte, sowie (selbstredend männliche) Schauspieler und Choreuten, die das jeweilige Stück zur Aufführung brachten.27 Begleitet wurde das Geschehen jeweils von einem aulos‐Spieler. Siegesaufzeichnungen deuten darauf hin, dass die Lenaia als Veranstaltungsort für Komödien in etwa gleichberechtigt neben den Großen Dionysien standen – Aristophanes trat dort oft und erfolgreich an. Die Tragiker aber erachteten die Dionysien als die prestigeträchtigeren Wettbewerbe.28

6.1.4 Chor

Eine der wohl interessantesten Gemeinsamkeiten zwischen Tragödie und Komödie erschließt sich hinsichtlich des Ursprungs der beiden Genres. Die Quellen, über die wir verfügen, legen nahe, dass sowohl die Tragödie als auch die Komödie auf chorische Wurzeln verweist. Schenken wir Aristoteles Glauben, so hat sich die Tragödie aus der antiken griechischen Chorlyrik des Dithyrambus entwickelt.29 Die Komödie wiederum hat verschiedene Ursprünge, allen voran ist hier der komos zu nennen, ein ausgelassener, musikbegleiteter Umzug zu Ehren des Dionysos. Tatsächlich herrscht in der Forschung mittlerweile Einverständnis darüber, dass komos und κωμῳδίαkomoidia (Komödie) etymologisch verwandt sind.30 Zeitgenössische Darstellungen bestätigen die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs aus dem Chorischen. In Bezug auf die Komödie liegen uns mehrere Exponate vor, die die vielfältigen Formen des komos widerspiegeln, darunter gepolsterte Tänzer aus Korinth, attische Darstellungen phallischer Prozessionen und Bilder von Tierchören, die alle aus einer Zeit stammen, da die Komödie noch nicht Teil der dionysischen Wettbewerbe war. Den wichtigsten Beleg für die Tragödie liefert eine attische Vase aus etwa 480/90 v. Chr., die den statischen Gestus eines vor einem Grab performenden Chors in Szene setzt. Bezeichnenderweise handelt es sich dabei zudem um die früheste uns vorliegende Darstellung von maskentragenden Choreuten – erkennbar an der durchgehenden Kinnlinie und den offenen Mündern.31 Wir haben es also mit einer autoreflexiven Darstellung zu tun, die dazu einlädt, den Aufführungskontext der Tragödie mitzudenken. Tatsächlich finden sich solche metatheatralen Bezüge später nur mehr auf Exponaten, die Komödienaufführungen abbilden. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass die Selbstreferenzialität, die Philolog*innen wie Oliver Taplin der Tragödie kategorisch absprechen, nicht schon immer und nicht ausschließlich eine Eigenart der Komödie war.32


Abbildung 16: Rotfiguriger Kolonnettenkrater. Antikensammlung Basel BS415. 490–480 v. Chr. Foto: Antikenmuseum und Sammlung Ludwig, Basel.

Diese Beobachtung soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich tragische und komische Chöre in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Die Tragödie hatte zu Beginn zwölf Chormitglieder, die von Sophokles auf 15 erweitert wurden, während die Komödie 24 zählte. Noch elementarer sind die funktionellen Verschiedenheiten bzw. die unterschiedlichen dramatischen Funktionen, die dem Chor in den beiden Gattungen zukommen.33 So bedeutend der Chor in der Alten Komödie ist, so erstaunlich mutet es an, dass er in sämtlichen uns vorliegenden Texten des Aristophanes in der zweiten Stückhälfte mehr und mehr verschwindet. Stephanie Nelson hat dafür eine schlüssige Erklärung parat: »In a way […], the reason for the difference is obvious: not that the chorus is strangely inactive toward the end of Athenian comedy, but rather that they were strangely active before.«34 Der Chor bleibt auch gegen Ende der Komödie am Verlauf des Geschehens beteiligt, mehr noch: Seine Rolle besteht nunmehr vermehrt darin, als eine Art metatheatrale Instanz an das Hier und Jetzt des Performancekontexts zu erinnern.35

Zusammenfassend kann behauptet werden, dass Komödie und Tragödie in Athen zwar getrennt, aber nebeneinander aufwuchsen. Wenngleich Tragödiendichter ausschließlich Tragödien verfassten und Komödiendichter ausschließlich Komödien, so belegen die überlieferten Stücke dennoch, dass jede Gruppe sich von der Arbeit der anderen inspirieren ließ und sich produktiv damit auseinandersetzte. So nutzten Tragödiendichter etwa das Genre des Satyrspiels, um mit komischen Handlungssträngen zu experimentieren und aus einem vulgärsprachlichen Wortschatz zu schöpfen, der in der »hehren« Tragödie grundsätzlich nicht zur Anwendung gelangen konnte. Umgekehrt wiederum konstituiert sich ein großer Teil der Komödien des Aristophanes aus einem intensiven karikierend‐parodierenden Rekurs auf die Tragödie. Wir haben es bei Tragödie und Komödie folglich weniger mit zwei strikt voneinander trennbaren Sphären zu tun als vielmehr mit komplementären Genres, die aufeinander Bezug nehmen, aneinander anknüpfen, sich unterbrechen und stören. Die dramaturgischen und poetischen Techniken, die in diesem Zusammenhang zur Anwendung gelangten, unterminieren die Grenzen zwischen dem Ernst(haft)en und dem Lächerlichen, zwischen dem Erhabenen und dem Vulgären. Sie stellen ein Archiv an disturbierenden Gesten bereit, die in Jelineks Tragödienfortschreibungen nachleben.

Endnoten

2 Platon: Symposion. Griechisch–Deutsch. Übers. v. Rudolf Rufener, mit einer Einführung, Erläuterungen und Literaturhinweisen v. Thomas A. Szlezák. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler 2002, S. 151–152 (223d1-7).

3 Vgl. O’Connor, John Bartholomew: Chapters in the History of Actors and Acting. Chicago: University of Chicago Press 1908, FN 415.

4 Vgl. hierzu z.B. Rusten, Jeffrey: »In Search of the Essence of Old Comedy: From Aristotle’s Poetics to Zieliński, Cornford, and Beyond.« In: Fontaine, Michael/Scafuro, Adele C. (Hg.): The Oxford Handbook of Greek and Roman Comedy. Oxford/New York: Oxford University Press 2014, S. 33–50, hier S. 34ff.

5 Aristoteles: Poetik. Übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2002, S. 31, 1448b.

6 Vgl. Foley, Helene: »The ›Female Intruder‹ Reconsidered: Women in Aristo­pahnes’ Lysistrata and EcclesiazusaeIn: Classical Philology 77 (1982), S. 1–21, hier S. 11.

7 Aristophanes: Die Frösche. Übers.u. hgg. v. Niklas Holzberg. Stuttgart: Reclam 2011, 895–1098, künftig abgekürzt mit der Sigle Arist. Frö.

8 Vgl. Sifakis, G. M.: »The Structure of Aristophanic Comedy.« In: The Journal of Hellenic Studies 112 (1992), S. 123–142; Zimmermann, Bernhard: »Aristophanes.« In: Fontaine, Michael/Scafuro, Adele C. (Hg.): The Oxford Handbook of Greek and Roman Comedy, S. 132–159.

9 Hanink, Johanna: »Crossing Genres: Comedy, Tragedy, and Satyr Play.« In: Fontaine, Michael/Scafuro, Adele C. (Hg.): The Oxford Handbook of Greek and Roman Comedy, S. 258–277, hier S. 262.

10 Aristoteles: Poetik, S. 17, 1449b.

11 Halliwell, Stephen: Greek Laughter: A Study of Cultural Psychology from Homer to Early Christianity. Cambridge: Cambridge University Press 2008, S. 542.

12 Vgl. Pickard‐Cambridge, Arthur: The Dramatic Festivals of Athens. Oxford: Clarendon Press 1988, S. 190–196 (Tragödie) bzw. 218–220 (Komödie).

13 Hughes, Alan: Performing Greek Comedy. Cambridge: Cambridge University Press 2011, S. 174.

14 Zum Kostüm in Tragödie und Komödie vgl. Pickard‐Cambridge, Arthur: The Dramatic Festivals of Athens, S. 180–190 bzw. 220–223; Csapo, Eric: »Performing Comedy in the Fifth through Early Third Centuries.« In: Fontaine, Michael/Scafuro, Adele C. (Hg.): The Oxford Handbook of Greek and Roman Comedy, S. 50–69.

15 Vgl. Hall, Edith: Greek Tragedy: Suffering Under the Sun. Oxford/New York: Oxford University Press 2010; Chaston, Colleen: Tragic Props and Cognitive Function: Aspects of the Function of Images in Thinking. Leiden/Boston: Brill 2010, S. 11, 33–36, 55; Golder, Herbert: »Visual Meaning in Greek Drama: Sophocles’ Ajax and the Art of Dying.« In: Poyatos, Fernando (Hg.): Advances in Nonverbal Communication. Sociocultural, Clinical, Esthetic, and Literary Perspectives. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins Publ. Comp. 1992, S. 323–360.

16 Vgl. Nelson, Stephanie: Aristophanes and His Tragic Muse: Comedy, Tragedy and the Polis in 5th Century Athens. Leiden/Boston: Brill 2016, S. 43.

17 Vgl. Taplin, Oliver: »Fifth‐Century Tragedy and Comedy: A Synkrisis.« In: Journal of Hellenic Studies 106 (1986), S. 163–174, hier S. 164.

18 Zu den Unterschieden bezüglich des angemessenen Publikumsverhaltens im Kontext von Tragödie und Komödie vgl. Chapman, G. A. H.: »Some Notes on Dramatic Illusion in Aristophanes.« In: Athens Journal of Philology 106 (1983), S. 1–23, hier S. 1.

19 Taplin, Oliver: »Fifth‐Century Tragedy and Comedy: A Synkrisis«, S. 173.

20 Ebd., S. 173.

21 Knox, Bernard: »Euripidean Comedy.« In: Ders.: Word and Action. Essays on the Ancient Theatre. Baltimore: John Hopkins University Press 1979, S. 250–274, hier S. 251.

22 Ich bedanke mich für den Hinweis bei Stefan Büttner.

23 Vgl. Landfester, Manfred: »Geschichte der griechischen Komödie.« In: Seeck, Gustav Adolf: Das griechische Drama. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979, S. 354–400.

24 Aristophanes: Die Vögel. Übers.u. hgg. v. Niklas Holzberg. Stuttgart: Reclam 2013, S. 42 (786–789).

25 Vgl. Latacz, Joachim: Einführung in die griechische Tragödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 41–45.

26 Eine Ausnahmeregelung könnte während des Peloponnesischen Krieges getroffen worden sein. Indizien legen nahe, dass damals lediglich drei Komödien aufgeführt worden sind. Vgl. dazu Csapo, Eric/Slater, William J.: The Context of Ancient Drama. Ann Arbor: University of Michigan Press 1995, S. 107.

27 Vgl. Revermann, Martin: Comic Business. Theatricality, Dramatic Technique, and Performance Contexts of Aristophanic Comedy. Oxford: Oxford University Press 2006.

28 Vgl. Pickard‐Cambridge, Arthur W.: The Dramatic Festivals of Athens, S. 25–40; Csapo, Eric/Slater, William J.: The Context of Ancient Drama, S. 122–24, 132–37.

29 Vgl. Aristoteles: Poetik, 1148a, 1148b.

30 Vgl. Nelson, Stephanie: Aristophanes and His Tragic Muse, S. 25 (FN 12).

31 Vgl. Kossatz‐Deichmann, Anneliese: »Das griechische Theaterkostüm unter besonderer Berücksichtigung der Maske.« In: Zimmermann, Bernhard/Rengakos, Antonios (Hg.): Handbuch der griechischen Literatur der Antike. Bd. II: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit. München: Beck 2014, S. 894–905, hier S. 898.

32 Zu Taplins Argumentation vgl. Taplin, Oliver: »Fifth‐Century Tragedy and Comedy: A Synkrisis«, S. 163–174.

33 Zu den Diskrepanzen hinsichtlich von Musik und Tanz vgl. Taplin, Oliver: »Comedy and the Tragic.« In: Silk, Michael S. (Hg.): Tragedy and the Tragic. Greek Theatre and Beyond. Oxford: Clarendon Press 1996, S. 188–202, hier S. 191–194; Gianvittorio, Laura (Hg.): Performing and Theorising Dance in Ancient Greece. Pisa/Rom: Fabrizio Serra 2017.

34 Nelson, Stephanie: Aristophanes and His Tragic Muse, S. 53.

35 Vgl. hierzu u.a. Bierl, Anton: Der Chor in der Alten Komödie. Ritual und Performativität unter besonderer Berücksichtigung von Aristophanes’ Thesmophoriazusen und der Phalluslieder fr. 851 PMG. München/Leipzig: Saur 2001, S. 64ff.