Im Jänner dieses Jahres lancierte das Wiener Zentrum für Musiktherapie-Forschung, kurz WZMF, mit dem Schwerpunkt auf Musiktherapie mit Kindern, Jugendlichen und Familien, eine Kooperation der mdw und der Medizinischen Universität Wien. Thomas Stegemann, Professor für Musiktherapie an der mdw und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Christine Vesely, Lehrende an der Medizinischen Universität Wien und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapeutin, sowie Monika Smetana, Musiktherapeutin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrende am Institut für Musiktherapie an der mdw, im Gespräch mit dem mdw-Magazin.

Interview
v.l.n.r.: Christine Vesely, Thomas Stegemann, Monika Smetana ©Daniel Willinger

Herr Stegemann, Sie sind Teil des Leitungsteams des neuen Wiener Zentrums für Musiktherapie-Forschung. Woher stammt die Idee dazu?

Thomas Stegemann (TS): Im Grunde ist das eine Idee, die ich von Anfang an verfolgt habe. Eine Einrichtung, in der Forschung, Lehre und Therapiebehandlung unter einem Dach vereint sind, und die so dem universitären Gedanken entspricht. Die Studierenden haben dadurch die Möglichkeit, sowohl Forschung als auch Therapien mitzuerleben. Therapien können live beobachtet und anschließend mit den DozentInnen besprochen werden.

Wo sehen Sie die Weiterentwicklung zum bereits existierenden Institut für Musiktherapie?

TS: Das Institut ist hauptsächlich für die Lehre zuständig. Natürlich wurde hier bereits wissenschaftlich gearbeitet. Jetzt bietet sich allerdings die Möglichkeit, eine Forschungsinfrastruktur aufzubauen und Projekte durchzuführen, wo zum Beispiel Videoaufnahmen für Lehre und Forschung genutzt werden können. Geplant ist zudem die Erhebung neurophysiologischer Daten – hier sind wir jedoch auf die Kooperation mit dem AKH angewiesen.

Therapiezimmer
©Daniel Willinger

Was beinhaltet diese Kooperation, Frau Vesely?

Christine Vesely (CV): Die Ausbildungskooperation mit dem Institut für Musiktherapie existiert bereits seit 1996 – neu ist die gemeinsame Durchführung von Forschungsprojekten, mit dem zusätzlichen Vorteil, zukünftig auch ambulante PatientInnen an das WZMF zur Musiktherapie zuweisen zu können.

Wie kann man sich nun die musiktherapeutische Forschung konkret vorstellen?

CV: Fürs Erste werden spezielle Krankheitsbilder ausgewählt, geplant sind hier PatientInnen mit Autismus, beziehungsweise auch traumatisierte PatientInnen. Mit diesen speziellen Diagnosegruppen werden anschließend Projekte erstellt, im Rahmen derer die Effekte von Musiktherapie mithilfe von elektrophysiologischen Methoden, wie EEG oder Neurofeedback, aber auch Messungen von Parametern wie Oxytocin und Kortisol aus dem Blut, gemessen werden sollen.

Instrumentarium
Das Instrumentarium weckt die Neugier der PatientInnen: Was ist das? Wie fühlt sich das an? Wie riecht das? Wie klingt das? Bei Kindern auch: Wie schmeckt das? – Leben mit allen Sinnen. ©Daniel Willinger

Und die Forschung fließt dann auch wieder in den Unterricht ein…

TS: Genau. Idealerweise befruchten sich diese beiden Bereiche. Forschung wird dann lebendig, wenn Studierende direkt eintauchen können und einen Einblick gewinnen können, wie Forschung funktioniert. Oft ergeben sich für die Musiktherapie-Studierenden in den Praktika auch Fragestellungen, die weiterverfolgt werden können und Themen für eine Diplomarbeit bieten, oder Medizinstudierende interessieren sich für ein musiktherapeutisches Thema und bearbeiten es in einer wissenschaftlichen Arbeit. Das hätte den positiven Effekt, dass Medizinstudierende mit Musiktherapie vertraut sind und besser beurteilen können, wann eine Indikation für Musiktherapie gegeben ist.

CV: Es stellt meiner Ansicht nach auch den Sinn einer universitären Ausbildung dar, dass man nicht nur die Diagnostik und Behandlung von PatientInnen erlernt, sondern auch einen Zugang zur Wissenschaft erhält. Dadurch lernen Studierende nicht nur über den Horizont des eigenen Faches hinauszuschauen, sondern auch die Vernetzung mit anderen Bereichen.

Wie werden die Studierenden konkret an die Forschung herangeführt, Frau Smetana?

Monika Smetana (SM): Dazu gibt es speziell wissenschaftliche Seminare, die auf die Diplomarbeit ausgerichtet sind, und Ideen anregen, wie ein Forschungsprojekt überhaupt aufgebaut sein könnte. Die Studierenden sollen sehen, was sich alles beobachten lässt, wie man eine Situation einfangen, beschreiben und analysieren kann. In einem Forschungspraktikum haben Studierende beispielsweise die Möglichkeit, durch Rollenspiele Verschiedenes auszuprobieren, die Infrastruktur zu nutzen und Forschungsstrategien zu formulieren, beziehungsweise Forschungsmethoden im „Trockentraining“ auszuprobieren. Da gibt es eine sehr große Vielfalt an quantitativen und qualitativen Möglichkeiten.

In den neuen Räumlichkeiten des WZMF wurden zwei Therapieräume eingerichtet. Wie kann man sich eine Therapiestunde vorstellen?

TS: Das Besondere an der Musiktherapie ist, dass man nie vorhersagen kann, wie eine Stunde verläuft. Das ist eine Stärke – in der Vermittlung –, aber auch eine Herausforderung. Diese Offenheit ist jedenfalls wichtig, um Raum zur Entwicklung zu bieten. Meistens ist es jedoch so, dass man die erste Stunde mit der Exploration des Raumes beginnt – die Instrumente haben einen Appell-Charakter, das verleitet zum Ausprobieren. Manche PatientInnen wollen gleich zu Beginn Instrumente ausprobieren, bei anderen ist es das Ende eines langen therapeutischen Weges, wenn sie sich schlussendlich trauen.
Ein rezeptives Angebot in der Musiktherapie wäre etwa eine Entspannungsübung, bei der der/die TherapeutIn live für den Patienten/die PatientIn spielt. Dafür gibt es auch eine gemütliche Ecke im Raum, in der sich ein Kind entspannen, aber auch zurückziehen kann und vielleicht den Vorhang vorziehen kann.

Instrument
©Daniel Willinger

Wo kann sich die Wirkung von Musik besonders gut entfalten?

CV: Wir beobachten bei kinder- und jugendpsychiatrischen PatientInnen etwas sehr Spannendes in der Musiktherapie. Jene PatientInnen, denen es schwerfällt sich verbal auszudrücken, tun sich oft im Rahmen einer Musiktherapie leichter, Emotionen und Bedürfnisse darzustellen. Gerade Jugendliche in der Pubertät haben oft das Problem, dass sich innerlich sehr viel abspielt, sie es aber nicht ausdrücken können. Für viele ist hier das Medium Musik ein einfacherer Weg. Genauso wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche lernen, einen Dialog aufzunehmen, mithilfe der Musik den Rhythmus einer anderen Person aufzunehmen, zurückzugeben, selbst etwas in Gang zu setzen und eine Antwort zu bekommen. Es war für mich in meinen ersten Zugängen zur Musiktherapie besonders faszinierend, wie gut ein Dialog über die Musik möglich ist.
Darüber hinaus kann Musik als Strategie eingesetzt werden, mit sehr unangenehmen emotionalen Zuständen fertig zu werden, anstatt sich beispielsweise selbst zu verletzen.
Das sind die vier Tragpfeiler, die für mich wichtig sind: das Ausdrücken von Emotionen, in den Dialog gehen, Musik als Strategie zur Emotionskontrolle verwenden zu können und sich zu entspannen. Ich freue mich aber auch schon sehr auf die geplante Interaktionsforschung, denn hier sehe ich ein großes Potenzial der Musiktherapie.

TS: Hier möchten wir ein Projekt mit Stine Lindahl Jacobsen aus Aalborg beginnen. Die dänische Kollegin, die auch Mitglied unseres Scientific Advisory Boards ist, hat das musiktherapeutische Diagnostiktool APCI (Assessment of Parent-Child Interaction) entwickelt, bei dem eine standardisierte Spielsituation zu dritt – Kind, ein Elternteil und ein/eine MusiktherapeutIn – geschaffen wird. Wir sind gerade dabei, dieses Tool für den deutschsprachigen Raum anwendbar zu machen. Das könnte zum Beispiel ein erstes Projekt sein: Interaktion bei Risikofamilien.

Wer zählt zu den sogenannten Risikofamilien?

TS: Dazu gehören Familien, bei denen die Entwicklung des Kindes in irgendeiner Weise gefährdet ist, beispielsweise durch die psychische Erkrankung
eines Elternteils oder aufgrund von sozioökonomischen
Faktoren.

CV: Konkret bedeutet das zu wenig Wahrnehmung oder Empathie für das Kind, beziehungsweise zu wenig oder irreführende Kommunikation seitens der Eltern.

Wie wird man auf solche Risikofamilien aufmerksam?

CV: Meistens läuft das über die Symptome der Kinder, etwa Verhaltensauffälligkeiten, Ängste, die plötzlich auftreten, oder aggressives Verhalten, Jugendliche neigen zusätzlich zu Depressionen, Selbstverletzungen oder Magersucht.

Therapiezimmer
©Daniel Willinger

Wer vermittelt die Betroffenen dann an die Musiktherapie?

TS: Das ist eine der wichtigsten Fragen im Aufbau des Zentrums. Zum Teil läuft das über die Kinder- und Jugendhilfe oder es kommen Empfehlungen von Lehrenden.

CV: Helfersysteme, wie die Kinder- und Jugendhilfe, Lehrende oder die Schulpsychologie überweisen an die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Viele Eltern kommen auch selbst, wenn ihnen auffällt, dass etwas nicht stimmt. Wenn die Indikation gegeben ist, wird an die Musiktherapie zugewiesen.

TS: Es gibt im Kinder- und Jugendbereich eine große Versorgungslücke was die Therapien betrifft. Die Musiktherapie ist zwar im psychiatrischen Bereich der Institutionen relativ gut verankert, der ambulante Bereich ist jedoch nicht gut abgedeckt. Das hat unter anderem mit der finanziellen Situation zu tun, da Musiktherapie im ambulanten Bereich nicht von den Kassen bezahlt wird. Die Nachsorge ist aber ein wichtiges Thema. Wenn PatientInnen im stationären Bereich gut auf die Musiktherapie ansprechen und dann entlassen werden, setzt oft eine kritische Phase ein; hier wäre es von Vorteil, wenn die Therapie weitergeführt werden könnte. Mit dem Zentrum für Musiktherapie-Forschung möchten wir auch dazu beitragen, die Versorgungslücke nach einem stationären Aufenthalt zu schließen. Finanziell wäre das beispielsweise durch Forschungsprojekte oder Pilotprojekte mit den Krankenkassen zu realisieren – daran arbeiten wir bereits.

Instrument
©Daniel Willinger

Welchen Nutzen gewinnen die Studierenden dadurch?

TS: Wir bilden MusiktherapeutInnen aus, die nach dem Gesetz als MusiktherapeutInnen eigenverantwortlich in einer Praxis tätig sein können. Wenn es gelingen würde, dass Musiktherapie auch im ambulanten Sektor finanziert wird, würden sich damit auch die Karrierechancen der Studierenden verbessern. Darüber hinaus können sie erfahren, was es bedeutet ambulant tätig zu sein, denn das ist eine völlig andere Situation, als die Praktika in den Krankenhäusern.

CV: Das ist ein guter Zeitpunkt, um die Ziele des WZMF zusammenzufassen. Diese können in drei Bereiche zusammengefasst werden: erstens die Verbesserung der Ausbildung der Studierenden, die sich auch in den Bereich der Forschung ausweiten soll, zweitens die ambulante Versorgung der PatientInnen, wobei eine Beteiligung der Krankenkassen angestrebt werden soll, und drittens die Forschung, die den Aufbau des Forschungszentrums und die Kooperation zwischen Musiktherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie inkludiert.

TS: Durch die Forschungsbemühungen wollen wir auch die Qualität der Musiktherapie verbessern, um besser zu verstehen, für wen welche Intervention wann am besten wirkt. Das ist auch in der Argumentation gegenüber den Krankenkassen sehr wichtig. Die große Herausforderung ist, angemessene Forschungsmethoden zu finden und weiterzuentwickeln, denn der Bereich der Interaktionsforschung ist viel komplexer als beispielsweise eine Medikamentenstudie.

Instrument
©Daniel Willinger

Wie funktioniert der Schritt von einer/einem beobachtenden Studierenden zur/m praktizierenden MusiktherapeutIn?

TS: Dieser Schritt wird bei uns sehr gut vorbereitet. Unsere Studierenden sind oft sehr junge Menschen, da bedarf es einer guten Supervision und Begleitung, und darauf legen wir auch viel Wert. Dazu haben alle Studierenden Einzelselbsterfahrung, bei der sie in der Klientenrolle sind und Musiktherapie selbst erleben. Dadurch können sie auch gleichzeitig eigene Themen aufarbeiten. Das ist wichtig, um das eigene Thema von dem des/der PatientIn unterscheiden zu können. Einzelselbsterfahrung wird über sechs Semester, also drei Jahre angeboten, dazu kommt noch die Gruppenselbsterfahrung, bei der sich der Jahrgang in eine Gruppentherapie begibt. Das alles ist das Gerüst, das erlaubt, dass sie relativ früh in diese Verantwortung gehen können.

Wo liegen die Herausforderungen in der musikalischen Ausbildung der MusiktherapeutInnen?

TS: Es ist eine Spezialität der Wiener Ausbildung, dass wir sehr hohe Anforderungen an das musikalische Niveau stellen. Wir haben eine dreitägige Zulassungsprüfung, bei der zwei Tage lang nur das musikalische Können abgeprüft wird – von Gehörbildung bis hin zu Klavier, Gitarre, Gesang, Melodieinstrument und Hauptinstrument. Dadurch ergibt sich bereits eine bestimmte Auslese. Wir brauchen keine KonzertpianistInnen, sondern Leute, die sehr musikalisch sind, aber auf einer breiten Ebene. Die Bedeutung der musikalischen Ausbildung zeigt sich dann im Umgang mit den PatientInnen – je weniger ich mich auf das Musikalische in der Therapiesitzung konzentrieren muss, desto mehr kann ich den Fokus auf mein Gegenüber legen.
Ebenso wichtig ist die eigene musikalische Betätigung im Sinne der Psychohygiene. Die Freude am Selbermusizieren und Kreativsein darf nicht verloren gehen. Das ist mir sehr wichtig und das versuche ich auch zu vermitteln.

 

Zur Website des Wiener Zentrums für Musiktherapie-Forschung:

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