Katharina Adamcyk
Exotik im Barock – Le Bourgeois gentilhomme

 

Le Bourgeois gentilhomme, die Ballettkomödie von Molière mit Musik von Jean-Baptiste Lully aus dem Jahr 1670, wartet mit einigen Besonderheiten auf. Ein Beispiel wäre der Ort der Uraufführung: das Schloss Chambord, im landschaftlich reizvollen Loire-Tal gelegen, mit seinen unzähligen Rauchfängen und der besonderen doppelläufigen Wendeltreppe (nach Plänen von Leonardo da Vinci). Oder auch die Auszeichnung, die die Komödie durch die Ausführenden der Titelrolle(n) erhielt: Der Textdichter Molière selbst trat als Jourdain auf und der Komponist Lully als sein Gegenspieler in der Rolle des Mufti. Weiters erfreut sich das Stück zahlreicher Bearbeitungen bis in die nahe Gegenwart. Die berühmteste bildet hierbei sicherlich die Fassung von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss – ebenfalls Dichter und Komponist –, die mit Ariadne auf Naxos eine besondere Adaption dieser Gesellschaftssatire hervorgebracht haben.

Besonders bekannt wurde die Ballettkomödie aber nicht zuletzt wegen ihres prominenten Auftraggebers – kein Geringerer als Louis XIV. – und der sogenannten Türkenzeremonie (cérémonie turque). Diese Szene nimmt auf eine konkrete historische Begegnung Bezug: Louis XIV., der sogenannte Sonnenkönig, traf auf den Gesandten des Sultans des Osmanischen Reiches, Süleyman Aga.

Man vergegenwärtige sich die politische Situation im 17. Jahrhundert: Das Osmanische Reich ist ‚Nachbar‘ der Habsburger, denn es erstreckte sich bis zum heutigen Ungarn. Das Heilige Römische Reich teilte sich somit eine Grenze mit den Türken und konnte sie nur mit Mühe abwehren – man erinnere sich an die Zweite Wiener Türkenbelagerung von 1683. Der Einflussbereich der Türkei war somit weitaus näher und größer, als wir die historische Situation heute wahrnehmen. Der Feind im Osten war mächtig und Akteur wie Projektionsfläche zahlreicher Machtspiele auf europäischem Boden. Zusätzlich entwickelte das Osmanische Reich einen aggressiven Expansionswillen. So galt es, das christliche ‚Abendland‘ gegen die ‚Heiden‘ zu verteidigen.

Frankreich seinerseits wollte diplomatische Beziehungen mit dem Osmanischen Reich unterhalten, wobei es zu einem Treffen zwischen Louis XIV. und jenem Gesandten kam, das auf diplomatischer Ebene vollkommen missglückte und mit einer Kränkung des Sonnenkönigs endete. Um diese Schmach wettzumachen, beauftragte der französische König Molière und Lully, auf der Bühne für ihn ‚Rache zu nehmen‘ und die Türken bloßzustellen.

Die so entstandene Türkenszene sowie das Ballett der Nationen sind nicht nur eine Art der Verarbeitung dieser Begegnung, sondern auch ein Ausdruck der Faszination und der Projektion des Fremden – etwas, das im französischen Musiktheater dieser Zeit ohnehin Hochkonjunktur hatte. Sie bildet laut Thomas Betzwieser auch die ‚Initialszene des Exotismus‘.

Es ist diese herrschende Ambivalenz zwischen Respekt vor einer politischen Großmacht, der Angst und Verachtung vor diesem Fremden und Neuen, die Sorge, an das Osmanische Reich mit seiner ‚wilden‘ und ‚barbarischen‘ Kultur und anderen Gesetzen ausgeliefert zu sein, die diese Faszination ausmacht. Zugleich löste das Osmanische Reich zahlreiche Inspirationen aus. Auch in der Musik ist dies unmittelbar spürbar, etwa wenn, wie Thomas Betzwieser dies allgemein in Bezug auf Exotismen in der Musik als Phänomene beschreibt, „deren Hauptmerkmal in einer Beeinflussung der europäischen Kunst durch fremdländische, insbesondere außereuropäische Elemente besteht.“ Dabei geht es auch immer um eine Abgrenzung der eigenen Kultur gegenüber dem ‚Anderen‘, meist in einer hierarchischen Aufwertung der eigenen Identität.

Es ist die Begeisterung für das ‚Exotische‘, welche sich in allen Kunstsparten der damaligen Zeit wiederfindet. Es stehen Kulturen im Mittelpunkt, die eine starke Anziehungskraft ausüben und vor allem eine ‚andere‘ sinnliche Erfahrung ermöglichen wollen. Hier geht es nicht um eine reale Darstellung, sondern um Inspiration, Fiktion, Adaptionen von Kulturen, die sich meist außerhalb des europäisch-abendländischen Gebietes befinden und eine gewisse Mystik umwittert. Diese fremdländischen Abbilder wirken geheimnisvoll, werden verklärt, idealisiert und auch verformt: „Das Phantastische vermischt sich mit realen Momenten und Zuständen, es kommt zur Erschaffung von stilisierten, realitätsfernen Gegenwelten, die die eigenen Begierden und Sehnsüchte widerspiegeln. Das ‚Fremde‘ fungiert dabei zumeist ‚als Projektionsfläche eigener Wünsche‘.“

Im Fall von Molières Stück gibt es eine weitere Besonderheit: Hier zog man sich für die Umsetzung einen ‚Experten‘ zurate. Laurent d’Arvieux galt als Sachkundiger in Sachen Osmanisches Reich, da er den Orient selbst bereist hatte und sogar Türkisch sprach. Er soll vor allem auf die Gestaltung der Kostüme, die osmanischen ‚Gebräuche‘ und vermutlich auch auf die Wahl der Musikinstrumente Einfluss gehabt haben. So scheint die ‚türkische Weihe‘ auf einen von d’Arivieux beschriebenen Ritus eines Derwischs zurückzugehen.

Lully selbst kennzeichnet die Szene zwar nicht eindeutig mit neuartigen, exotisch anmutenden Klängen, es wird jedoch in der Lingua franca gesungen und gesprochen, wodurch die Szenerie durch diese ungewohnten Laute eine fremdartige Note erhält. Außerdem verwendet er zunehmend prägnante Rhythmen mit einem ausgebauten Instrumentarium im Schlagwerk sowie kleingliedrige Intervalle, eine gewisse Monotonie in der melodischen Gestaltung und Phrasierung als auch eine Verdoppelung des Continuo-Parts. Dies erzeugt eine Art ‚Kabarett‘ und ‚Groteske‘ für das Fremdländische, darüber hinaus soll in diesem Zusammenhang auch eindeutig eine gewisse Primitivität hervorgebracht werden. Gleich der beginnende Marsch der Türken ist mit vielen musikalischen Schwerpunkten und starker Percussion besetzt, wodurch sofort eine besondere musikalische Atmosphäre geschaffen wird. Im Rahmen einer Zeremonie mit vielen Gesängen, Tänzen und dargestellten Kämpfen wird der Hauptfigur Jourdain von einem Mufti - dem Gesandten des türkischen Großfürsten – zum ‚Mamamouchi‘ (Worterfindung Molières) geweiht. Mit seinem Gefolge aus Derwischen wird in einem von Lully durchkomponierten Dialog abwechselnd gesungen (teilweise auch A-Cappella) und gesprochen und in komödiantischer Art Jourdain der Lächerlichkeit preisgegeben, da er sich nun als türkischer Edelmann fühlt. Lully zeigt in dieser exotischen Szene die Selbstironie für den immer aufsteigen wollenden französischen Bürger.

Mit dem darauffolgenden Ballett wird erneut ein Sujet über ‚das Andere‘ aufgemacht und werden verschiedene Kulturkreise portraitiert: Italien erhält beispielsweise eine ‚typische‘ italienische Arie mit zahlreichen Verzierungen, die zunehmend grotesk-überzeichnet anmuten, und dadurch ironisch betrachtet werden kann. Ebenso werden spanische Tänze und solche der Einwohner von Marais Poitevin aufgeführt. Interessanterweise wählte bald darauf der französische Komponist André Campra in seiner Oper L’Europe galante (Das galante Europa) im Jahr 1697 ähnliche Länder, nämlich Frankreich, Spanien, Italien und……die Türkei! Für Campra schien die Türkei aus damaliger Sicht also zu Europa zu gehören.

Am Schluss des Le Bourgoise gentilhomme – nach diesem musikalischen und künstlerischen Spektakel – ist man sich jedoch nicht mehr sicher, wer jetzt nun lächerlich gemacht wurde: der türkische Mufti wie von Louis XIV. verlangt; der Adelige Dorante, der immer in Geldnot ist; der Bürger Jourdain, der so gerne ein Edelmann wäre oder doch die gesamte gesellschaftliche Haltung gegenüber dem Fremden?