Stellen Sie sich für einen kurzen Moment vor, Sie könnten mit Musik und Musikvermittlungsangeboten unsere Gesellschaft zum Besseren verändern. Wie würden Sie es anlegen? Mit einem offenen Opernprojekt für alle? Mit musikalischen Begegnungen von jungen Erwachsenen in einem abgeschiedenen Bergdorf im Tessin? In der Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen oder mit einer Jugendoper als Escape-Room-Experience für Heimatlose und -suchende? Mit Bach für Sterbende im Hospiz oder mit einer „improphonie“ als neuem Konzertformat?

All diese Ideen und Umsetzungen wurden bei der von Sarah Chaker vom Institut für Musiksoziologie und Axel Petri-Preis vom Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (IMP) organisierten und konzipierten internationalen Konferenz Turning Social – On the Social-Transformative Potential of Music Mediation vorgestellt, die am 15. und 16. Juni 2023 an der mdw stattfand. Darüber hinaus wurde in Vorträgen, Workshops, Podiumsdiskussionen und Roundtables über Themen wie kulturelle Demokratie, Dekolonialisierung von Wissen über Musikvermittlung, Artistic Citizenship und die Zukunft der universitären Aus- und Weiterbildung für Musiker_innen und Musikvermittler_innen nachgedacht und diskutiert.

Unmittelbar spürbar war die kommunikative und begegnungsstiftende Kraft von Musik für die Teilnehmer_innen gleich zu Beginn der Konferenz mit einem Auftritt des Duo David e Mia, bestehend aus den mdw-Studierenden Maike Clemens und David Volkmer.

Duo David e Mia, © Stephan Polzer

In ihren Begrüßungsworten betonten Rektorin Ulrike Sych und Arne Forke, Referent von Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, die außerordentliche Kraft, die der Musikvermittlung inne wohnt und noch lange nicht ausgeschöpft ist, da mit Musik Begegnungen zwischen Menschen gezielt angeregt und so gesellschaftliche Veränderungsprozesse angestoßen werden können.

Axel Petri-Preis, © Stephan Polzer

Die Organisator_innen Sarah Chaker und Axel Petri-Preis warfen in ihren Eröffnungsworten zur Konferenz Fragen auf, die im Laufe der beiden Tage erhellend beantwortet wurden oder weitere Impulse lieferten. Der Fokus lag dabei auf Fragestellungen nach der Beheimatung des Sozialen in der Musik, nach der Verantwortung der Musikvermittlung, etwa zu Dekolonialisierungsprozessen in einer pluralen Gesellschaft beizutragen, auf dem Hörbar-Machen von Ungehörtem und Ungehörten sowie auf der generellen Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung füreinander und unseren gemeinsamen Lebensraum.

Sarah Chaker, © Stephan Polzer

Mit der der ersten Keynote der Tagung von François Matarasso begann nun eine vielfältige und spannende interprofessionelle Konferenz-Reise – lassen Sie sich mitnehmen auf diese Entdeckungsreise in 13 Szenen, Sie werden Ithaka erreichen!

Szene 1: Kunst für alle

Der Community-Artist, Schriftsteller und Forscher François Matarasso konstatierte in seiner Keynote die Notwendigkeit, im Sinne einer kulturellen Demokratie von einer „Us & Them“-Dichotomie in der Kunst zu einem „We“ zu gelangen. Dazu sei aber noch ein weiter Weg zu gehen. Ziel sei eine Ent-Kategorisierung von Kunst, damit sie von, für und mit allen Menschen ermöglicht wird. Eine verändernde gesellschaftliche Wirkung, so seine zentrale These, könne nicht allein durch Kunst-Angebote, sondern durch die Teilhabe an Kulturprogrammen entstehen, vor allem mit dem Anspruch der Ko-Kreation von professionellen und nicht professionellen Künstler_innen. Bedeutsam dabei ist, dass alle Stimmen gehört werden, um zusammen etwas zu kreieren, das alleine nicht möglich ist. So nannte Matarasso als Prinzipien von Ko-Kreation Bewusstheit, Gleichberechtigung, Aufrichtigkeit, Aufgeschlossenheit und Zuversicht, und empfahl, bei allen Freiheiten, die wir genießen können, uns immer wieder aufs Neue mit unseren Lebens-Umfeldern auseinanderzusetzen.

François Matarasso, © Stephan Polzer

Szene 2: Befreiter Dialog

Annette Ziegenmeyer und Julia Peters von der Musikhochschule Lübeck waren online zugeschaltet. Unter dem Titel Perspektivenwechsel – gesellschaftliche Transformation stellten sie einen musikpädagogischen Songwriting-Workshop vor, in dem Studierende im Rahmen einer Lehrveranstaltung mit arrestierten Jugendlichen in einer Justizanstalt arbeiteten. Sie zeigten Schlüsselmomente wie etwa die Konfrontation mit anderen Lebenswelten und das Entdecken von Talenten der beteiligten Jugendlichen auf. Der angesprochene Perspektivenwechsel entstand etwa durch Vertrauensbildung zwischen Studierenden und Jugendlichen, durch die Notwendigkeit, mit den Jugendlichen gemeinsam die Workshop-Einheiten zu gestalten, die Leitungsrolle zwischendurch an die jugendlichen Expert_innen abzugeben, und den Mut, sich in offene Prozesse transformativen Lernens hineinzubegeben. Die anschließende Diskussion führte zu Fragen, wie transformative Lernprozesse beispielsweise auch in Schulen hineingetragen werden können und wie ein Dialog und Austausch zwischen allen beteiligten Institutionen intensiviert werden kann.

Szene 3: Gefunden: Lost Place als Kulturdorf

Barbara Balba Weber von der Hochschule der Künste Bern stellte am Nachmittag des ersten Konferenztages ein sehr persönliches Praxisprojekt vor. In Pandemiezeiten lebte sie ein halbes Jahr in einem verlassenen Dorf im Tessin (Schweiz) und gründete dort infolge ihrer eigenen Erfahrung und Vision mit einer Gruppe engagierter Musikvermittler_innen ein Kulturdorf, das afghanischen und schweizerischen jungen Erwachsenen die Möglichkeit gab, an einem geschützten Ort mit Gruppen von Gleichaltrigen und genug Zeit, Kultur zu schaffen, Musik zu machen, Geschichten zu erzählen, Filme zu drehen und Bücher zu schreiben. Das angeleitete und begleitete Projekt zeitigte beeindruckende Ergebnisse und stellte unter Beweis, dass das Schaffen von Beziehungen Kultur schafft. Die unberührte Natur und die Abgeschiedenheit des Ortes bieten fast paradiesische Voraussetzungen für ein produktives und solidarisches Miteinander.

Szene 4: Othering als Unort

In ihrem Vortrag zu Othering-Mechanismen vs Empowerment gibt Lisa Gaupp, Professorin für Cultural Institutions Studies am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) der mdw,  einen umfassenden Einblick in den Stand der dekolonialen Forschung sowie in die Schwierigkeit, nicht wieder in die Fallen der „Fremd-Machung“ zu tappen und in die Möglich- und Notwendigkeit Mechanismen von Exklusion zu entlarven. In der anschließenden Diskussion wurden selbstkritische Fragen aufgeworfen, wie z.B. welche Musikrichtungen an der mdw vertreten sind und wie die mdw sich als gesellschaftlich höchst relevante und machtvolle Institution für mehr soziale Durchlässigkeit und dekoloniale Strukturen, beispielsweise im Zusammenhang mit Zulassungsprüfungen, einsetzen kann.

Szene 5: Ein Ton zur Transformation

Die sich an die Vorträge anschließenden Workshops von Studierenden unter der Leitung von Komponist und Interaktionskünstler Bernhard König wurden von einem „Stückchen Transformation“ eingeleitet mit dem zum gemeinsamen Klingen und Schwingen gebrachten Text:

Musik, was zählt das schon – ein Ton ist nur ein Ton – doch viele Töne vereint – auch wenn es nicht so scheint – sind ein Stückchen Transformation.

In verschiedenen Gruppen von Studierenden geleitet und moderiert konnten sich die Teilnehmer_innen über die psychischen Auswirkungen der Klimakrise, über das Erreichen neuer Zielgruppen und über die gesamtgesellschaftliche Perspektive auf eine Transformation hin zu einer klimagerechteren Welt austauschen.

Szene 6: Poseidon-Escape oder vom richtigen Weg

Fortgesetzt wurde die Konferenz in der Ankerbrotfabrik, einer historischen Stätte im 10. Wiener Gemeindebezirk, die ihre eigene Transformation von der Brotfabrik zur Kulturstätte durchlebt hat, aber immer nährend geblieben ist. Dort gab Krysztina Winkel von der Wiener Staatsoper Einblick in die Probenarbeit und den Entwicklungsprozess des Opernlabors der Wiener Staatsoper sowie in die aktuelle Produktion Die Kaugummi-Göttin. In Anlehnung an die Monteverdi-Oper Il ritorno d’Ulisse in patria erarbeiteten 26 Jugendliche eine Escape-Room-Performance zu den Themen „Heimat“ und „Identität“. Bei der anschließenden Aufführung wurden die Teilnehmer_innen vom Erfolg dieses partizipativen Prozesses überzeugt und die entstandenen Eindrücke noch bei einem gemeinsamen Abendessen in der Community Küche geteilt.

Szene 7: Nah-Tod-Musik

Der nächste Konferenztag startete musikalisch mit dem Rubik Quartet. mdw-Vizerektor Johannes Meissl berichtete im Anschluss über das Konzept Musethica, ein von Avri Levitan und Carmen Marcuello ins Leben gerufenes pädagogisches Programm, das es Musikstudierenden ermöglicht, sich mit intensiver Performance-Erfahrung außerhalb traditioneller Konzertsäle auseinanderzusetzen. Konzerte werden demnach in Flüchtlingslagern, Gefängnissen, Hospiz-Einrichtungen und vielen weiteren Plätzen und Orten organisiert. Mit einem klaren Bekenntnis zum sozialen Engagement, sollen Darbietungen von höchster Qualität für vom traditionellen Konzertbetrieb exkludierte Gesellschaftsgruppen ermöglicht werden. Die Erfahrungen bei diesen speziellen Aufführungen erweitern wiederum den Blick und Horizont der Musizierenden. Davon überzeugte die Teilnehmer_innen  Janay Tulenova, die von einer beeindruckenden Erfahrung in einem Hospiz erzählte: Eine im Sterben liegende Frau wünschte sich ein Stück von Johann Sebastian Bach als letztes musikalisches Ereignis vor ihrem Tod. In diesem Bewusstsein zu spielen und Musik zu schenken, veränderte für die junge Musikerin die Sichtweise auf ihre bisherige Aufführungspraxis.

Szene 8: Musiker_innen als „Change Agents“

Maria Westvall, Professorin am Rhythmic Music Conservatory in Kopenhagen, ging in ihrer Keynote Artistic citizenship – who gets to participate? darauf ein, wie eine  „Artistic Citizenship“ konkret gelebt und gesellschaftsverändernd wirken kann. Wenn Künstler_innen und Musiker_innen „change agents“ sein sollen, was heißt das dann für Ausbildungen, Zugänge und Verantwortlichkeiten? Geht es darum, Musik für einen sozialen Wandel zuständig zu erklären? Und wenn ja, welchen Wandel wollen wir und in welche Richtung soll es denn eigentlich gehen? Und wer darf mitmachen, wer fühlt sich angesprochen und wer ist gemeint? Manche Fragen dürfen und müssen offenbleiben, aber dass das In-Beziehung-Treten von Menschen und Musiken im Prozess des „musicking“ (Christopher Small) und die Verbindung von musikalischem Tun und sozialen Veränderungsprozessen von Bedeutung sind, steht außer Frage. Was bleibt und bleiben wird, ist Musik als soziale Praxis mit Verantwortung für das Gemeinwohl, mit allen damit einhergehenden neuen Herausforderungen und Chancen.

Szene 9: Mount Stupid statt Orchestergraben

Im Anschluss wurde das Stegreif Orchester als improvisierendes Symphonieorchester mit einem Hang zum Experimentieren von Immanuel de Gilde und Lorenz Blaumer in einer Praxisreflexion näher vorgestellt. Fokus lag dabei auf das für das Orchester typische Zusammenspiel von Interpretation, Rekomposition, Improvisation und Staging Idealismus. Kombiniert mit einer aktiven Gestaltung, führt diese Mischung zu Formaten wie den KlimaCampWorkshops oder einer Change-Symphonie und endet oder beginnt manchmal auch am „Mount Stupid“, einem Ort, an dem das Nicht-Wissen um all das, was nicht geht, eine große und produktive Kraft entfalten kann. Mit großer Authentizität wurde über Engagement, Wirkungen von Mut und Mut zum Scheitern gesprochen und so die Möglichkeitsform von Musikvermittlung gedanklich und praktisch ausgedehnt.

Szene 10: “It´s hard to survive in a jungle if you were trained in a zoo”

In ihrem Vortrag Transforming higher music education – Systems learning through counternarratives of Finnish socially engaged musicians gaben Heidi Westerlund und Sari Karttunen von der Sibelius-Akademie in Helsinki Einblicke in eine Studie. Dieser zugrunde liegt die Forschungsfrage, wie Musiker_innen mit Hochschulbildung ihre Erfahrungen und ihr Lernen in sozial-engagierter Arbeit reflektieren, und wie diese Überlegungen die traditionelle professionelle Musikausbildung beeinflussen können. Dabei wurde von den Studienteilnehmer_innen vermerkt, wie gut es sein kann bei sozial-musikalischer Arbeit, einmal vom hohen Ross herunterzusteigen, sich auf weniger reglementiertes Terrain zu begeben und als Musiker_in zur gleichrangigen Ansprechperson für verschiedenste soziale Gruppen und zum/zur Lernenden zu werden.

Szene 11: Ausbildung statt Einbildung

Wie Studienergebnisse und Praxiserfahrungen konkret in die traditionelle professionelle Musikausbildung einfließen können, war auch Thema der anschließenden Podiumsdiskussion zur Ausbildungssituation von Musikvermittler_innen und Musiker_innen. Lydia Grün, Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater in München, Sean Gregory, Vice-Principal und Director of Innovation and Engagement an der Guildhall School of Music & Drama in London, und mdw-Rektorin Ulrike Sych stellten sich den Fragen von Sarah Chaker und Axel Petri-Preis.

Dabei wurden die Beiträge der Musikhochschulen und Universitäten zu einer gerechteren und solidarischeren Welt, Grenzen der universitären und künstlerischen Verantwortung, die Infragestellung des „Exzellenz-Begriffes“, insbesondere im Hinblick auf Künstliche Intelligenz und die Bewusstmachung der eigenen privilegierten Ausgangslage, durchaus kontrovers diskutiert. Über Videoeinspielungen kamen internationale Musikstudierende zu Wort, die ihre aktuellen Erfahrungen in der universitären Musikausbildung kritisch reflektierten und kommentierten.

Den letzten Teil der Konferenz läutete, besser gesagt, zupfte und streichte die Kanun-Spielerin Sofia Labropoulou ein. Sie präsentierte den Song No beauty without freedom und betonte im anschließenden Gespräch, dass das Kanun eine großartige, traditionsreiche Soundbox sei. In ihrer Perfomance wurde das Potential des Instrumentes deutlich, als sie durch erweiterte Spieltechniken dem Saiteninstrument eine Vielzahl an Klangfacetten entlockte.

Szene 12: Gestaltungswille

Im abschließenden, von Axel Petri-Preis und Sarah Chaker moderierten Round Table Zukunft gestalten stellten sich Annette Ziegenmeyer (Musikhochschule Lübeck), Annemarie Mitterbäck (Music*Scapes) und Sabine Reiter (mica – music austria) der Frage, was und wie Musikvermittlung zum Musikleben und zur Gesellschaft von morgen beitragen kann. Annemarie Mitterbäck stellte ihren Verein Music*Scapes in Wien vor, einen Experimentierraum mit immer wieder neuen Projekten, die sich einer neuen transkulturellen Musiksprache verschreiben und jenseits institutioneller Kontexte machtkritische Aspekte in Community Music Projekte einbringen.

Sabine Reiter, geschäftsführende Direktorin bei mica – music austria, berichtete als Beobachterin und Mitgestalterin, wie sich die Szene der Musikvermittler_innen aktuell entwickelt. Sie gab einen Überblick über Musikvermittlung in Österreich und berichtete, dass Aus- und Weiterbildung in der Community brennende Themen waren, bevor Aspekte der Vernetzung in den Vordergrund rückten. Als Erfolg ist sicherlich zu verzeichnen, dass nun auch Fördergelder für Vermittlungsprojekte ausgeschüttet werden. Sie unterstrich die Relevanz und das Potenzial von Community Music, Ko-Kreation und Musikvermittlung.

Annette Ziegenmeyer erzählte, wie in ihrer eigenen Ausbildung und der fachlichen Orientierung des Studiums der Blick auf die Menschen fehlte und berichtete von der Neugierde, über den Tellerrand zu blicken. Ziegenmeyer hob die Bedeutung von Community Music in ihrer Lehre hervor und wie sie die Frage umtreibt, welche gesellschaftliche Relevanz und Verantwortung mit schulischer Musikvermittlung verbunden ist. Abgerundet wurde der Round Table durch Statements aus dem Publikum und dem Wunsch, lustvoll in Musik- und Kunstvermittlung wirksam zu sein.

Szene 13: Ithaka als neuer Ausgangsort

Am Ende der Konferenz wurde Sarah Chaker und Axel Petri-Preis für die Konzeption und Durchführung mit einem herzlichen Applaus gedankt. Was bei den Teilnehmer_innen dieser Konferenz im Gedächtnis bleibt, ist der Eindruck einer vielfältigen gemeinsamen Reise an sehr inspirierende Orte mit innovativen Ideen, immer der Möglichkeit und Notwendigkeit treu bleibend, Musik und Musikvermittlung als Kraft und Ort der gesellschaftlichen Verantwortung und Veränderung zu sehen und wahrzunehmen. Ithaka ist erreicht. Hier wissen wir, dass die Reise nicht vorbei ist, sondern immer neu beginnt.

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