Un/Learning: Norms and Routines in Cultural Practice

„Wenn ich davon ausgehe, daß im hiesigen Vorgang des Lernens das Verlernen schon eingebaut ist. Auch Elitenerhalt und geistiger Feudalismus. Dann muß die Durcharbeitung der Lernkultur hier nicht unlearning einsetzen, sondern entlernen sagen. Ein Prozess des Zurücklassens beschreibt sich mit der Vorsilbe ent. Das Verlassen eines Raums bietet sich an. Entkommen käme als Synonym in Frage.“ Marlene Streeruwitz1

Die internationale und interdisziplinäre Sommerkonferenz isaScience 2022 findet von 31. August bis 4. September 2022 in bewährter hybrider Form im Hotel Marienhof in Reichenau an der Rax sowie online statt. Folgend dem Motto der isa – Internationale Sommerakademie der mdw „ALWAYS ANEW“ gibt es dieses Jahr einige Neuerungen.

Zuerst gilt es das neue wissenschaftliche Leitungsteam vorzustellen: Andrea Glauser vom Institut für Kulturmanagement und Gender Studies (IKM) sowie Stephanie Probst vom Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung zeichnen gemeinsam mit Marko Kölbl vom Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie verantwortlich für das diesjährige Konferenzprogramm. Eine weitere Neuerung stellt der Konferenztermin dar: Erstmals findet die isaScience im Anschluss an die isa statt und bietet somit insbesondere für mdw-Angehörige eine einfachere Teilnahme zu Ende des Hochsommers und außerhalb der Hauptferienzeit an.

Inhaltlich wieder in Auseinandersetzung mit dem isa-Thema „ALWAYS ANEW“ konzipiert, hat sich das neue Leitungsteam für den Fokus auf „Un/Learning: Norms and Routines in Cultural Practice“ entschieden. Hier steht ein breit gefasster Diskurs zum Lernen, Verlernen und Entlernen kultureller Praktiken im Mittelpunkt, der künstlerische Verfahren des Übens, Interpretierens und Darstellens von Musik wie auch andere künstlerische Ausdrucksformen umfassen kann. Wie bestimmen gesellschaftliche Normen und Routinen unser Lernen und Handeln, sei es das spezifisch künstlerische Lernen im Üben, Spielen und Aufführen, sei es das individuelle und

kollektive Handeln im Kontext einer zunehmend ökonomisierten Wissenskultur? Normen und Routinen tendieren dazu, hegemoniale Strukturen und Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten sowie Gruppen und Individuen eingegrenzten Identitäten zuzuordnen. Unter dem Blickwinkel „Un/Learning“ lädt die isaScience 2022 dazu ein, diese Dynamiken und das Potenzial für Veränderung kritisch zu untersuchen.

In emanzipatorischen und dekolonisierenden Diskursen wird Un/Learning in letzter Zeit von Forschenden und Kulturschaffenden gleichermaßen als Grundlage für mögliche Veränderungen hervorgehoben. Das Potenzial von Un/Learning gilt auch für die Erneuerung kritischer Ansätze in der Forschung, wie jüngere Arbeiten zu kulturellen Praktiken zeigen. Die koloniale, rassistische und vergeschlechtlichte Logik von Disziplinen wie der Ethnomusikologie, der Musiktheorie und der Musikgeschichte zu hinterfragen, bedeutet mehr als konventionelle Kanonkritik. Da die Grundlagen der Musikforschung selbst erschüttert sind, sind radikale Neuerfindungen von disziplinären Feldern, epistemologischen Traditionen und wissenschaftlichen Rankings gefragt. Aber wie genau können diese erreicht werden? Welche Strategien, Techniken und Technologien können dabei helfen?

Solche Überlegungen sind auch für die künstlerische Praxis relevant. Die klassische westliche Kunstmusik zum Beispiel hängt von normativen Standards musikalischer Exzellenz sowie von klassenspezifischen, eurozentrischen und rassifizierten Erwartungen an Rollen und Aufführungspraktiken ab. Wohin würde ein Ver- bzw. Entlernen dieser gewohnten Codes führen? Zudem verkaufen global zirkulierende Formen populärer Musik oftmals ein scheinbar sozialkritisches Image, während sie gleichzeitig der Logik der wirtschaftlichen Vermarktbarkeit folgen. Worin besteht diese Dialektik zwischen ökonomischer Normierung und dem Nicht-Normativen zum Beispiel in der Popularmusik? Eine andere Frage betrifft den Einfluss normativer Gewohnheiten auf die Gestaltung von (Musik-)Instrumenten und Technologien. Wie bestimmt die (materielle) Infrastruktur der darstellenden Künste Inklusion und Exklusion bei der kulturellen Teilhabe?

Die Unterbrechung oder Irritation von Routinen spielt nicht zuletzt auch bei künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum eine wesentliche Rolle: Sie zielt darauf ab, vorherrschende Normen sichtbar zu machen, verinnerlichtes Wissen zu hinterfragen und so einen sozialen Wandel hervorzurufen. Über den Fokus auf künstlerische Praktiken hinaus beleuchtet diese Konferenz damit auch die breitere Dynamik von Un/Learning in gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen. Überall auf der Welt werden kulturelle Praktiken an eurozentrischen Normen gemessen – oft unmarkiert und scheinbar universell. Wie fördern die Routinen des globalen Nordens implizite Normen und diktieren die Logik und Ästhetik kultureller Interaktion? Wie kann Un/Learning zur Dezentrierung oder Provinzialisierung Europas beitragen?

Diesen angesichts zahlreicher und andauernder Krisen brennenden Fragen wird bei der kommenden isaScience 2022 nachgegangen. Die Teilnahme steht allen Interessierten offen. Das isaScience-Team freut sich auf einen anregenden und kritischen Austausch zwischen den Forschenden der mdw und der internationalen Forschungscommunity!

 

isaScience
31. August – 4. September 2022
Anmeldung bis 31. Juli 2022 (Teilnahme vor Ort) bzw. 31. August 2022 (online)
isa-music.org/de/isascience

  1. Zitiert aus ihrem Vortragstext „Ver. Um. Er. Und lernen“ im Rahmen eines internationalen Symposiums in St. Pölten im Februar 2022 zum Thema „Unlearning – Praktiken und Begegnungen des Verlernens“. http://www.marlenestreeruwitz.at/werk/ver-um-er-und-lernen/#0
Comments are closed.