Was ist die Basis des Schauspielhandwerks? Anja Thiemann, seit März 2023 Professorin am Max Reinhardt Seminar, gibt im mdw-Magazin Einblicke in ihre Arbeit mit den Schauspielstudierenden des ersten Jahrgangs, ihre vielseitige Karriere und ihre Strategie, um verdrängte Autorinnen zurück ins öffentliche Licht zu bringen.
Arbeit mit den Studierenden Julius Dörner, Bernadette Leopold, Gabriel Fernandes Genebra, Anja Thiemann (v. l. n. r.) © J Wernisch
Die Basisfertigkeiten

Wahrnehmung und Beobachtung schärfen ist im Fach Grundlagen der Rollengestaltung zentral. Was fällt den Studierenden an sich selbst, an anderen Menschen, an der Welt um sie herum auf und wie können sie es beschreiben? Die Studierenden werden darauf aufmerksam, was es überhaupt zu sehen und in weiterer Folge darzustellen gibt. „Das Handwerkszeug dafür ist die Sprache. Im Unterricht wird die Fertigkeit der differenzierten Beschreibung des Beobachteten erweckt und trainiert“, sagt Thiemann. Ein wesentlicher Anteil des Schauspielberufs ist, über die Darstellung jenseits von privatem Geschmack zu sprechen. Dafür ist es notwendig, den Unterschied zwischen der Beschreibung des Gesehenen und dessen Deutung zu verstehen. Thiemann: „Auf die Fakten, also was man gerade auf der Bühne gesehen hat, kann man sich einigen. Die Deutung hängt von der jeweiligen sozialen Prägung, der Generation oder der Lebenserfahrung ab.“ Durch die Erkenntnisse zu Beschreibung und Deutung werden die Schauspielstudierenden auf ihre spätere Arbeit mit der Regie vorbereitet, denn „wenn die Regie etwas beschreibt, sollen Schauspieler_innen es in ihr Spiel übersetzen können.“ Frei von Wertung zu beschreiben, ist für die Studierenden im Unterricht eine Herausforderung, „weil wir in einer Gesellschaft leben, in welcher es leicht und üblich ist, Dinge oder Verhalten zu ,liken‘ und/oder zu bewerten“, meint die Schauspielprofessorin.

Stationen einer Karriere

Unterrichtet hat Thiemann bereits an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin, der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig, am Mozarteum in Salzburg und an der Otto Falckenberg Schule in München. Über die Professur am Max Reinhardt Seminar und die damit einhergehende Möglichkeit, im kulturell vielfältigen Wien zu leben, freut sie sich besonders. Ihr eigener Weg zum Schauspiel begann im Kindertheater in der DDR, wo Thiemann aufgewachsen ist. Die Leiterin des Kindertheater faszinierte sie und weckte in ihr schon früh den Wunsch, selbst Schauspielerin zu werden. Da später die Aufnahme ins Schauspielstudium zunächst nicht klappte, studierte sie Ethnografie und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach der Wende bewarb sich Thiemann erneut für das Schauspielstudium und wurde an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch aufgenommen – ein Traum ging in Erfüllung. Die Studien Ethnografie und Geschichte waren Thiemann in ihrer Karriere weiterhin nützlich als „wichtiger Quell für Wissen, Toleranz und Vorstellungskraft beim Unterrichten und in Projekten“. Ihre Schauspielengagements führten sie an zahlreiche Bühnen. An Improvisation als Schauspielkunst hatte sie immer schon großes Interesse und war Mitglied des Deutschen Instituts für Improvisation. Im Grundlagenunterricht am Max Reinhardt Seminar lernen die Schauspielstudierenden die Techniken, um etwas zu reproduzieren, dennoch möchte ihnen Thiemann den Mut zur Improvisation mitgeben, denn „das Gefühl zu scheitern begegnet Schauspieler_innen in fast jeder Produktion. Es ist wichtig und möglich, sich durch Improvisation darin zu üben, mit der Angst umzugehen.“

Filmstill aus ,Vergessene‘ Autorinnen zurück ins Licht © Anja Thiemann
„,Vergessene‘ Autorinnen“

Ein großes Anliegen ist Thiemann das Projekt „,Vergessene‘ Autorinnen“. Mit Studentinnen begann sie während der Corona-Lockdowns mit der Suche nach Werken von Dramatikerinnen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt worden waren. Thiemann: „Ich habe mich gefragt, warum es für diese Autorinnen kein Bewusstsein in der Theaterwelt gibt.“ In ihren eigenen Recherchen fand sie unter anderem heraus, dass die Autorinnen und ihre Stücke in Lexika, die zum Beispiel als Grundlage für die Stückauswahl der Theater dienten, zwar anfangs erwähnt waren, in folgenden Auflagen jedoch nach und nach wieder verschwanden. „Es war ein schleichender Vorgang, wie sie – anders als ihre männlichen Kollegen, die wir heute noch kennen – in Vergessenheit gebracht wurden – letztendlich aufgrund patriarchaler Strukturen“, sagt Thiemann. Hinzu kommt, dass Stücke im 18. Jahrhundert oft anonym verfasst oder mit dem Verweis „von einem Frauenzimmer“ veröffentlicht wurden. „Autor_innenschaft war lange nicht üblich, weil Stücke nur eine Aufführung erlebten. Erst als sie wiederholt gespielt wurden, wurden die Urheber_innen relevant“, erklärt Thiemann. Sie will das Thema weiter erforschen und ist überzeugt, an der mdw dafür den idealen Ort gefunden zu haben: „Die Wahrnehmung von Komponistinnen aus der Vergangenheit ist ebenso lückenhaft. An der mdw gibt es den Forschungsdrang und Kolleg_innen, die sich damit beschäftigen und auseinandersetzen.“ Für Thiemann steht fest: „Es gibt so viele interessante Autorinnen und ihre Stücke zu entdecken. Ich will dazu beitragen, dass sie jenseits der Archive zugänglich und auf Bühnen gespielt werden.“ Am Schauspielhaus Graz gelangte diesen Herbst unter dem Titel Von einem Frauenzimmer eines dieser Stücke einer „vergessen gemachten“ Autorin nach 245 Jahren zu seiner Uraufführung: Düval und Charmille von Christiane Karoline Schlegel.

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