Zur internationalen Entwicklung des Wissenschafts- und Hochschulsystems

Kerstin Mey
Kerstin Mey ©Vitaliy Bodner

Unsere Gegenwart befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch. Der Raubbau an natürlichen Ressourcen und der Umwelt fällt zusammen mit dem Beginn eines globalen Wandels der herrschenden Vorstellungen von monetären, sozialen, kreativen und emotionalen Ökonomien. Er schließt den Zugang zu Ressourcen und ihre Verteilung ein. Spannungen zwischen lokalen Bedürfnissen und globalen Erfordernissen werden u. a. sichtbar in anschwellenden Migrationsbewegungen, beschleunigten Produktionszyklen, und einer fortschreitenden Urbanisierung. Ökonomisch motivierte Globalisierungsprozesse werden durch die alle Lebensbereiche erfassende Digitalisierung ermöglicht. Die damit einhergehenden Umwälzungen fordern etablierte Wertmodelle und Deutungshoheiten heraus. Mobile Kommunikation und soziale Netzwerke schaffen neue Entscheidungsräume und Handlungsoptionen. Digitale Technologien befördern eine wachsende Hybridität zwischen realen und virtuellen Realitäten, zwischen Offline- und Online-Räumen, öffentlichen Bereichen und der Privatsphäre. Sie treiben eine auf Informationen und Wissen basierende Wertschöpfung voran.

All diese Entwicklungen verändern auch das Hochschulsystem und die Wissenschaften. Die Zahl der weltweit inskribierten Studierenden wird sich von der Millenniumswende bis zum Jahr 2030 mit einem vorausgesagten Anstieg auf über 414 Millionen mehr als vervierfacht haben. Dieser Trend wird von einer Diversifizierung der Anbieter begleitet: aus dem Privatsektor, der Wirtschaft und im virtuellen Bereich. Die zunehmende Mobilität der Studierenden, Lehrenden und Forschenden (oft noch monodirektional vom „globalen Süden“ in „entwickeltere“ Länder als Teil der wachsenden Marktorientierung und des steigenden Wettbewerbs im globalen Hochschulsystem) bildet einen wichtigen Aspekt der Internationalisierung der tertiären Bildung. Sie bedarf jedoch größerer Anstrengungen, um die bestehende Pluralität von Weltbildern und -erfahrungen in den Lehrinhalten und Forschungsperspektiven zu reflektieren. Will man den Hochschulzugang und die akademische Community nachhaltig diversifizieren, braucht es dazu geeignete Hochschulbildungsmodelle und -kontexte. Die zunehmende Vorherrschaft der englischen Sprache im Wissenschafts- und Hochschulbetrieb unterstützt einen breiteren Wissenszugang und Ideenaustausch. Sie leistet aber auch einer verengten „Normierung“ der Wissenschaftskultur Vorschub. Ein differenzierendes Abbildungs- und Reflexionsvermögen und die Diskursqualität bedürfen einer hohen Sprachkompetenz und der Vielsprachigkeit.

Kerstin Mey
Kerstin Mey ©Vitaliy Bodner

Als Reaktion auf den rasant voranschreitenden digitalen Wandel vermehren sich die Forderungen, diesen auch in den Wissenschaften zu forcieren. Zum einen geht es um die Schaffung eines verbesserten Wissenszugangs und darum, diesen als Grundlage für Innovation zu nutzen, zum anderen soll die Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften mit fortgeschrittenen digitalen Kompetenzen den erhöhten Anforderungen der Wissensgesellschaft gerecht werden. Von der Forschung wird erwartet, dass sie zu einem differenzierten Verständnis der „Kultur der Digitalität“ und ihrer vielfältigen Auswirkungen auf die Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft und das Individuum beiträgt. Dabei müssen das „digital mindset“ und entsprechende fachliche Fähigkeiten und technische Fertigkeiten sowie die Didaktik ihrer Vermittlung und Aneignung selbst Gegenstände der Forschung werden.

Um die komplexen Herausforderungen der Wirklichkeit zu begreifen und zu bewältigen, haben sich neue und dynamische Formen der trans- und interdisziplinären Wissensproduktion herausgebildet, wie zum Beispiel in den Biowissenschaften, der Cyberpsychologie, den Medienwissenschaften oder den Gender Studies. Computerbasierte und datenverarbeitende Verfahren prägen Wissenschaftsentwicklungen, was am Beispiel der digitalen Architektur oder der Computermusik oder im Entstehen der Digital Humanities und der Digitalen Soziologie sichtbar wird. Digitale Datenerfassung, -verknüpfung und vergleichende Datenanalyse erweitern bzw. vertiefen Erkenntnismöglichkeiten. Ihre kritisch-produktive Nutzung beruht nicht nur auf entsprechenden technischen und fachlichen Voraussetzungen, sondern wirft auch komplexe Fragen in Bezug auf Datenmanagement, Informationssicherheit, Urheberrecht usw. auf, die sowohl institutionell als auch im Wissenschafts- und Hochschulbereich insgesamt beantwortet werden müssen.

Gerade weil sich die Lebens- und Arbeitswelt mit rapider Geschwindigkeit in der Überlagerung aus vielschichtigen Homogenisierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen wandelt, darf sich die Hochschulbildung nicht zunehmend parzellieren oder ein enges Konzept der „Employability“ bedienen. Vielmehr werden sowohl eine ganzheitliche Bildung, die digitale und analoge Arbeitsweisen einschließt, als auch ein pluraler Wissenschaftsbegriff mehr denn je gebraucht. Im Zeitalter selbstlernender Maschinen und autoadaptiver Systeme spielen die Geistes-, Kultur- und Kunstwissenschaften sowie die Künste eine bedeutsame Rolle, um vertieft über das, was den Menschen ausmacht, nachzudenken, um ein kritisches Bewusstsein für Werte und Normen zu fördern, um Lebens- und Ver/Gesellschaftsentwürfe zu „visionieren“ und damit für die Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft zu wirken.

Die Vermittlung von Wissen muss sich auf das Beherrschen von Ansätzen, Methoden und Instrumenten konzentrieren – auf das Know-how. Es muss die Grundlagen und Motivation für ein lebenslanges Lernen und die kritische Selbstreflexion festigen. Will sie relevant bleiben, muss sie sich der unterschiedlichen Sozialisierung, den Erfahrungen und sich wandelnden Erwartungen der Studierenden und AkademikerInnen in ihren Herangehensweisen stellen, z. B. durch challenge-basierte und projektbezogene Lehre, durch Peer- und Generationslernen oder durch die Schaffung offener Räumen für Experimente, Irritationen und kreative Widerständigkeit.

Dieser Artikel basiert auf einem Vortrag von Kerstin Mey anlässlich der Klausur der Wissenschaften 2018 an der mdw.

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