Am 22. und 23. November 2017 veranstaltete der Fachbereich Instrumentalpädagogik am Institut für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (IMP) der mdw unter der konzeptionellen Federführung von Peter Röbke, Hannah Lindmaier und Ivo Berg ein Symposium, dessen Zielsetzung die Verortung der Musikpädagogik im Spannungsfeld gesellschaftlicher Veränderungen war.

All Stars Inclusive
All Stars Inclusive ©Christoph Falschlunger

Neben zwei Keynotes von Franz Kasper Krönig (TH Köln) und Barbara Hornberger (Hochschule Osnabrück) kamen musikalisch die All Stars Inclusive Band der mdw und das Jugendsymphonieorchester Tulln mit eindrucksvollen Performances zu Wort.

In seiner Begrüßung zitierte Peter Röbke den Soziologen Andreas Reckwitz. Laut Reckwitz steht der Tendenz zur globalen Hyperkultur eine Bewegung zum Kulturessenzialismus gegenüber.In diesem Kulturessenzialismus vereinen sich, so Reckwitz, bisherige Gegner zu überraschenden Verbündeten eines Kulturkampfes. Peter Röbke verwies im Speziellen auf die Situation in Österreich und Deutschland, wo man mit der inklusiven Musikschule geglaubt hatte den Kulturessenzialismus überwunden zu haben und wo Akteure der kulturellen Bildung Werte wie Transkulturalität und Weltoffenheit vertreten würden. Die reale politische Situation zeige aber auch, dass gerade diese Werte wieder zur Disposition stünden. Im Zusammenhang mit dem Begriff der „Teilhabegerechtigkeit“ stellte Peter Röbke in den Raum, dass es ein Spannungsfeld, das sich zwischen Respekt und Gönnerhaftigkeit bewege, gebe, um diese „Teilhabegerechtigkeit“ einzulösen, und fragte abschließend, ob wir als Akteure der kulturellen Bildung und als Zivilgesellschaft mit unserem Engagement nicht Gefahr laufen würden, in Fallen zu tappen.

Diese Frage griff Franz Kasper Krönig in der ersten Keynote auf, in der er Engagement als Teil einer großen Erzählung definierte: Es gebe Herausforderungen, die zu einer bestimmten Art von Verantwortlichkeit bewegen, worauf eine bestimmte Art des Engagements folge. Er wies darauf hin, dass die Bearbeitung dieser „Grand Challenges“ nur in der Kooperation verschiedenartiger Akteure (staatlich, über- und zwischenstaatlich, Konzerne, NGOs, Zivilgesellschaft …) möglich sei, was theoretisch die Möglichkeit einer Entpolitisierung böte. Auf der anderen Seite berge die Educational Governance, also die Lenkung und Beeinflussung von Strukturen und Prozessen der Bildung durch verschiedene Akteure, große Fragen in Hinblick darauf, wer das Narrativ der Grand Challenges eigentlich präge und mit welcher politischen Legitimation Akteure wie Großkonzerne gemeinsam mit den Regierungen von Staaten an ihnen arbeiten.

Barbara Hornberger mahnte in der zweiten Keynote des Abends die Musikpädagogik, für hegemoniale Strukturen sensibel zu sein. Akteure kultureller Bildung müssten auf Deutungshoheit verzichten, nicht aber auf Expertise, um Praxiserfahrung zu kontextualisieren und Kennerschaft herzustellen. Sie konstatierte, dass in der Musikpädagogik zum Teil noch immer von einem enggefassten Musikbegriff ausgegangen werde, der von der europäischen Kunstmusik geprägt sei. Dem stellte sie den weitgefassten Kulturbegriff von John Fiske gegenüber: „Kultur ist der konstante Prozess, unserer sozialen Erfahrung Bedeutungen zuzuschreiben und aus ihr Bedeutungen zu produzieren, und solche Bedeutungen schaffen notwendigerweise eine soziale Identität für die Betroffenen.“ Davon ausgehend definierte sie Kultur als Medium von Teilhabe, Aneignung und Transformation und wies darauf hin, dass die Menschen die Artefakte, über die sie dies praktizieren, selbst wählen. Kulturelle Bildungsprozesse würden deshalb in der Mehrheit informell stattfinden, was die Musikpädagogik vor die Herausforderung stelle, sich zu fragen, ob sie das als Bildung anerkenne. Ihren Vortrag schloss sie mit der These, dass das emotionale Vergnügen an der Musik ausreiche, um Bedeutung zu konstruieren. Vielleicht, so Hornberger, seien der Genuss und die Hingabe an Musik eine entscheidende Subversion in einer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft.

Der zweite Symposiumstag wurde von Natalia Ardila-Mantilla (Hochschule für Musik und Tanz Köln) eröffnet. Den Ausgangspunkt ihres Vortrags „… die Weitergabe des Feuers“? Musikschullehrende zwischen Traditionspflege und Identitätsarbeit bildete das Musikvideo Soy Yo (Das bin ich) der kolumbianischen Band Bomba Estéreo. Es zeigt die Suche nach Identität eines 10-jährigen Mädchens und dessen Mut, das eigene Leben authentisch und kreativ zu gestalten.

Anhand dieses Beispiels veranschaulichte Ardila-Mantilla das Spannungsfeld zwischen gelingender Identitätsarbeit und dem Kohärenzbedürfnis in einer Zeit, in der große Deutungsmuster an Bedeutung verloren haben und in der wir alle gefordert sind, durch unsere Entscheidungen unsere eigene Identität neu zu definieren. Dazu braucht es sowohl materielle Ressourcen, Kontexte sozialer Anerkennung, Fähigkeiten zum Aushandeln mit sich und anderen sowie die Toleranz, Widersprüche und kulturell bedingte Unterschiede wahrzunehmen und zu akzeptieren.

Der Beitrag, den die Musikschule dabei leisten kann, wurde kritisch beleuchtet. Für die Balance zwischen dem Dienen individueller Bedürfnisse und verschiedener Kontexte der Partizipation (Communities of Practice) ist es wichtig, auch unverschulte Räume außerhalb von Institutionen zur persönlichen Entfaltung zu nutzen und Dinge zu tun, die unwichtig erscheinen.

In der anschließenden Diskussionsrunde zum Thema Zwischen Heimat und Identitätsbestimmung, Musikpädagogik und regionale Musikpraxen forderte Peter Röbke die DiskutantInnen (Natalia Ardila-Mantilla, Maria Jenner der Musikschule und Blasmusik Perchtholdsdorf, Daniela Mayrlechner der Volksmusikforschung an der mdw, Hanns Stekel der Johann Sebastian Bach Musikschule Wien) zu divergierenden aber auch einander ergänzenden Stellungnahmen heraus. So kann Heimat ein politisch vergiftetes Wort, aber auch ein Zuhause sowie ein tiefes Wohlbefinden mit der Möglichkeit zur Lebensgestaltung sein. Das Blasorchester im Sinne von Traditionspflege kann einerseits ein starkes Zugehörigkeitsgefühl vermitteln und zum Üben motivieren, andererseits kann aber die Auswahl der immer gleichen Märsche aus den 20er Jahren zur musikalischen Verengung beitragen. Einig waren sich die Teilnehmenden, dass weder Musik noch Menschen in Communities of Practice instrumentalisiert und ausgebeutet werden sollen und Traditionspflege die Offenheit für eine internationale Vielfalt nicht ausschließen muss.

Impuls für die zweite Diskussionsrunde rund um das Thema Inklusion war der Vortrag von Katharina Bradler (BTU Cottbus-Senftenberg) mit dem Titel Vielfalt als Chance. Auch (k)eine Lösung?! Aspekte inklusiver Musizierpädagogik.

In ihrer Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Postulaten, „Vielfalt und Heterogenität als Chance“ zu begreifen sowie „inklusiv“ zu unterrichten, forderte sie zum kritischen Hinterfragen von Begrifflichkeiten auf, die mitunter nur als trendige Begriffsmäntel fungieren. Sie regte zur Reflexion über unseren Sprachgebrauch an – beispielsweise wie wir durch den Begriff „I-Kinder“ bereits Menschen stigmatisieren oder wie sich hinter dem Begriff „wir“ bereits eine Ausgrenzung von Menschen verbergen kann. Wichtig wäre es, keine explizite Zielgruppenorientierung vorzunehmen, inhaltlich und pädagogisch möglichst offen zu konzipieren, achtsam und aufmerksam zu sein, „inklusiv“, in dem bereits Eingrenzung verborgen ist, unwichtig zu machen und vor allem Unterricht als Beziehungsgeflecht zu verstehen.

Die anschließende Diskussionsrunde (Volker Gerland vom Verband deutscher Musikschulen, Michaela Hahn von der Konferenz österreichischer Musikschulwerke, Christoph Falschlunger von der Inklusionspädagogik der mdw und Katharina Bradler) wurde von Ivo Berg moderiert und erörterte zunächst die starke traditionelle Verankerung österreichischer Musikschularbeit, die im Gegensatz zu Deutschland durchschnittlich jedes dritte Kind erreicht. Weiters wurde auch kontrovers der Bogen vom „Kerngeschäft“ der Musikschule, nämlich Nachwuchs zu fördern und auf ein anspruchsvolles künstlerisches Niveau zu bringen, über Schulkooperationen bis hin zu vom Individuum ausgehenden vielfältigen Musizierangeboten, die sich Lehrende selbstständig erschließen können, gespannt. Gerade für Menschen mit Behinderung, die manchmal nicht für sich selbst sprechen können, sollte sich auch die Musikschule der Verantwortung nicht entziehen, jedem Menschen das Recht auf musikalisch-künstlerischen Ausdruck zu ermöglichen. Auch die politische Ebene sei aufgefordert, mit Begrifflichkeiten achtsam umzugehen und sie nicht eigennützig zu instrumentalisieren.

Im Rahmen der dritten Podiumsdiskussion des Tages Zwischen universalistischer Phantasie und handfester Zuschreibung. Musikpädagogische Initiativen angesichts von Flucht und Migration wurden vier Best-Practice-Modelle an der Schnittstelle von Musikhochschulen und sozialen Randgruppen vorgestellt. Offenheit an exklusiven Musikhochschulstandorten zu verwirklichen, erfordert einen Paradigmenwechsel und das punktuelle Aufbrechen systemimmanenter Strukturen. Die Projektverantwortlichen (Dietmar Flosdorf der mdw, Andrea Gande und Silke Kruse-Weber der KUG, Bianka Wüstehube der ABPU Linz und Marko Kölbl der mdw) stellten eindrucksvoll vor, wie offene Lernräume konstituiert und gestaltet werden können, wie Musiziersituationen unter der Prämisse von Intersektionalität, Interkulturalität oder Inklusion gelingen können. Das Eingangsstatement „Sonderschüler seid ihr alle“ rüttelte auf und führte unmittelbar in die Problematik von Wertung durch Begriffe und ihre Konnotation. In der anschließenden Diskussion wurde etwa thematisiert, wie sich für die Studierenden aus zeitlich und räumlich begrenzten Erfahrungen eine durchgängige Haltung entwickeln lässt, wie man in heterogenen Gruppen individuellen Musikbegriffen und unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen gerecht wird, wie in derartigen Projekten Kollektivierung gegen Individualität abzuwägen ist oder wie politischen Erwartungshaltungen zu begegnen wäre.

Das vierte Podium stand unter dem Motto Humanistisches Heilsversprechen oder lokales Engagement? Musikalische Großprojekte im Zeichen sozialer und politischer Verantwortung. In ihrem Vortrag Transformation oder Reproduktion? Die Musikschule der Barenboim-Said-Stiftung und ihr Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung widmete sich Marion Haak-Schulenburg (Berlin) dem möglichen Wert von Musikprojekten für gesellschaftliche Transformationsprozesse bzw. den „Versprechungen des Ästhetischen“. Auch die Musikschule der Barenboim-Said-Stiftung in der West Bank beruft sich auf diese „Versprechen“: Sie möchte (klassische) Musik als Teil einer humanistischen Bildung in der Gesellschaft verankern und durch Musik zu Frieden, Dialog und Versöhnung beitragen.

Wie aber passt diese große Idee mit den konkreten Bedürfnissen der Menschen vor Ort zusammen? Begünstigt die musikalische „Projektewelt“ statt gesellschaftlicher Transformation möglicherweise sogar eher die Reproduktion sozialer Ungleichheit? In der anschließenden Diskussion mit Andy Ocochea Ocochea vom Projekt „Superar“, das von El Sistema inspiriert wurde, mit Hans-Peter Manser, der das Jugendsymphonieorchester Tulln leitet und mit Franz Kasper Krönig, der in Community-Music-Projekten tätig ist, wurde der Frage nachgegangen, ob und wann Projekte mit komplexer musikalischer und sozialer Interaktion nicht nur bestimmten kulturellen oder pädagogischen Vorstellungen folgen, sondern auch anfällig für ein Kippen in ideologische Überhöhungen sind.

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