Ein experimentelles Projekt in der Ethnomusikologie

In der Musikforschung im sogenannten „Westen“ sind es Ethnomusikolog_innen, die nach wie vor für jede Art von Musik zuständig sind, die als „außereuropäisch“, „traditionell“ (oft im Gegensatz zu Kunst), „andersartig“ oder „fremd“ gilt. Ethnomusikolog_innen schreiben und sprechen auch meist über Musik von Menschen, die in global unterprivilegierten Regionen leben oder gesellschaftlich marginalisiert werden. Dies hat seine Wurzeln in der Geschichte einer globalen, kolonialen, weißen Vorherrschaft, in der die männliche, europäische Musikproduktion der Mittel- und Oberschicht als „die höchste Kunst“ etabliert wurde. Obwohl Ethnomusikolog_innen sich mit ihren Forschungen gegen diese Hierarchie positionieren, bleibt weiterhin die Regel, dass ein privilegiertes „Wir“ Wissen über ein „Sie“, über „andere“ Menschen und ihre Musik produziert.

Das neue Forschungsprojekt Reverse Ethnomusicology: Migrant Musicians as Researchers fordert diesen Status quo kreativ heraus. Das Projekt wird am Music and Minorities Research Center (MMRC) in Kooperation mit dem Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der mdw durchgeführt. Ausgangspunkt des Projekts war die auf Beobachtungen basierende Hypothese, dass Musiker_innen während des Ankommens nach einer Migrationserfahrung ähnlich wie Ethnograf_innen vorgehen: Um sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, müssen sie lernen, die lokalen musikbezogenen Praktiken, Institutionen, Netzwerke, das Publikum sowie Aufführungskontexte verstehen.

Nach Österreich migrierte Musiker_innen werden in diesem Projekt nicht als Native Informants für deren eigene Praxis gesehen. Vielmehr steht die Perspektive der Musiker_innen als Beobachter_innen und Interpret_innen von Musikpraktiken, Institutionen und Netzwerken in Österreich im Mittelpunkt. Damit wird die Ethnomusikologie symbolisch auf den Kopf gestellt: Nicht „österreichische Forscher_innen“ untersuchen Musik von Migrant_innen, sondern migrierte Musiker_innen beforschen Musikpraktiken in Österreich. Demnach verortet das Projekt sich innerhalb der Engaged Ethnomusicology, die sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzt, Hierarchien innerhalb der Musikforschung hinterfragt und strukturelle Veränderungen fordert.

Im April 2023 startete das Projekt mit seiner ersten Phase, der Suche nach Musiker_innen, die Interesse daran haben, als Musicians*Researchers am Projekt teilzunehmen. Gesucht wurden Personen, die zwischen 2015 und 2020 angekommen waren, um ein gewisses Maß an Eingewöhnung zu garantieren und dennoch frische Perspektiven auf Erfahrungen, Beobachtungen, Emotionen und Lerneffekte zu haben. Das Forscher_innen-Team führte Interviews mit unterschiedlichen Musiker_innen in Österreich durch, die vielseitige Einblicke in die Beobachtungen und Begegnungen von ankommenden Musiker_innen in einem neuen Land gaben. Die Interviewten kamen aus verschiedenen Ländern, wie den USA, Nigeria, Syrien, Griechenland, Moldawien, Mexiko und Chile. Sie hatten unterschiedliche Migrationserfahrungen; einige kamen als Geflüchtete, andere zum Studieren oder aus beruflichen Gründen. Manche haben sich bewusst für Österreich entschieden, andere zufällig. Auf Basis dieser Interviews wurden sechs Musiker_innen eingeladen, für zwölf Monate aktiv als Musician*Researchers am Projekt teilzunehmen. Derzeit befindet sich das Projekt in seiner zweiten Phase: Nach einem Kick-off-Workshop starten die sechs Musiker_innen nun ethnografische Recherchen zu einem Thema ihrer Wahl rund um Musik in Österreich. Sie dokumentieren interessante Ereignisse, führen Interviews und beobachten. Um diese Arbeit zu unterstützen, organisiert das Projektteam regelmäßig Workshops und kleinere Gruppentreffen, um die Musiker_innen bei ihrer Forschung zu begleiten, aber auch um von ihren Fragen, Perspektiven und Herangehensweisen zu lernen. Das Projekt verfolgt zwei verschränkte Ziele: Erstens geben die Aktivitäten der Musicians*Researchers neue Einblicke in die musikalischen Praktiken in Österreich aus einer bislang ignorierten Perspektive. Zweitens erweitert das Projekt kollaborative ethnomusikologische ebenso wie Citizen-Science-Ansätze zu der Idee einer Citizen Music Ethnography. Darüber hinaus ist zentral, dass die beteiligten Musicians*Researchers einen Nutzen aus dem Projekt ziehen können, der über das vermeintliche Prestige einer akademischen Zusammenarbeit hinausgeht.

Das Projekt wird im Rahmen der Programmschiene „1.000 Ideen“ des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF gefördert, einem Programm, das auf sogenannte High-Risk-High-Gain-Forschung abzielt und ermöglicht, bewusst und kreativ über gängige Forschungsansätze hinauszudenken.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt.

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