Die MMRC Lecture ist eine jährlich stattfindende Veranstaltung des Music and Minorities Research Center (MMRC). Aufgrund ihrer hybriden Abhaltung in diesem Jahr konnte das Publikum (insgesamt etwa 130 Besucher_innen) sowohl im Joseph Haydn-Saal der mdw als auch online über Zoom daran teilnehmen. Zusätzlich war es möglich, die MMRC Lecture über Livestream zu verfolgen. Durch den Abend führte MMRC-Leiterin Ursula Hemetek, Begrüßungsworte kamen von Rektorin Ulrike Sych.

Minderheitenbegriff und Identität
Ursula Hemetek © Stephan Polzer

Das MMRC wurde 2019 von Ursula Hemetek an der mdw gegründet und ist der ethnomusikologischen Minderheitenforschung gewidmet. Die Schwerpunkte der drei aktuellen Forschungsprojekte am MMRC sind Musik im Kontext von Migration und Flucht sowie die musikalische Vielfalt Wiens. Mit der diesjährigen MMRC Lecture trat ein weiteres Desideratum in den Vordergrund: die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Minderheitenbegriff und dessen Beleuchtung unter verschiedenen Gesichtspunkten. Ausgangspunkt für diese Themenwahl war die Beobachtung, dass der politische Aktivismus verschiedener marginalisierter Communities zunehmend von der Infragestellung starrer Identitätskonzepte geprägt ist. So werden unweigerlich politische Kämpfe hinterfragt, die auf traditionelleren Vorstellungen von Identität beruhen. Dies schlägt sich auch in verschiedenen musikalischen Praktiken nieder.

Identität und gesellschaftliche Machtverhältnisse

Gesellschaftlich benachteiligte Gruppen sehen sich mit folgender Problematik konfrontiert: Um für die „eigenen“ Rechte zu kämpfen, ist es notwendig, „das Eigene“ zu definieren, ein „Wir“ zu schaffen, gemeinsam geteilte Anliegen zu finden und zu vertreten. Solche Definitionsvorgänge können jedoch nur in Abgrenzung zum „Anderen“ vor sich gehen, es werden also Ausschlüsse produziert. Dies führt oft früher oder später dazu, dass innerhalb einer gesellschaftlich benachteiligten Gruppe einzelne Mitglieder beginnen, die Selbstdefinition der Gruppe zu hinterfragen und auf Anliegen hinzuweisen, die innerhalb der Gruppe selbst wiederum marginalisiert werden – wie etwa lesbische Anliegen in Frauenbewegungen oder Anliegen von Trans-, Inter- und nicht-binären Personen in schwul-lesbischen Bewegungen.

Kiki House of Dive © Stephan Polzer

Queer-theoretische Zugänge beschäftigen sich zentral mit den Ein- und Ausschlüssen, die von gesellschaftlichen Machtverhältnissen erzeugt werden, wenn sie darauf verweisen, dass gesellschaftliche Normen, die in einer Gesellschaft auf Basis von Machtverhältnissen vorherrschen, darüber entscheiden, welche Formen von Identität überhaupt denkbar, sichtbar sind: In einer Gesellschaft beispielsweise, in der Geschlecht binär – also in den Kategorien männlich und weiblich – gedacht wird, sind Personen, die sich jenseits dieser Binarität verorten, damit konfrontiert, dass ihre Identität in vielen Bereichen des täglichen Lebens – vom Ausfüllen von Formularen bis hin zum Gang auf öffentliche Toiletten – nicht anerkannt wird. Um dergestalt marginalisierten Identitäten Geltung zu verschaffen, wird ein „Queeren“ – also ein machtkritisches Hinterfragen, „Veruneindeutigen“ und Erweitern – von Identität vorgeschlagen, das jene Formen, sich zu identifizieren, die in genormten Vorstellungen von Identität nicht vorkommen, denkmöglich macht, ihnen Sichtbarkeit verleiht und Personen somit bestärkt.

Kiki House of Dive © Stephan Polzer

„Do you feel seen?“, war die zentrale Frage der ersten Performance des Kiki House of Dive, die den Abend eröffnete. Anhand von persönlichen Erfahrungen von Mitgliedern des Houses setzten sich die Performenden textlich und tänzerisch damit auseinander, welche unterschiedlichen Voraussetzungen Menschen auf Basis gesellschaftlicher Gegebenheiten und damit verbundener Unterdrückung dabei vorfinden, gesehen zu werden; wie viel Repräsentation welchen Formen des Seins zugestanden wird, und dass der Tanz und ihr House ihnen den Raum bieten, um sich angenommen und frei zu fühlen.

Politische Kämpfe und Sorgetragen füreinander durch Musik
Thomas Hilder © Stephan Polzer

Thomas Hilder verflocht in seinem Vortrag sein eigenes Engagement in LGBTQ-Chören mit einem historischen Überblick über die schwul/lesbische bzw. LGBTQ-Geschichte in Europa und den USA im Laufe der letzten hundert Jahre. Er thematisierte dabei zentrale Musikstücke, die in verschiedenen Kontexten für die jeweiligen Communities eine Rolle spielten. Diese spiegeln auch die unterschiedlichen Formen der Unterdrückung bzw. die unterschiedlichen Herausforderungen wider, vor die LGBTQ+ Communities gestellt waren und – in unterschiedlichen Regionen und Ländern der Welt sehr unterschiedlich – immer noch sind. Anhand seiner aktuellen Forschung führte der Vortragende vor Augen, wie die Gemeinschaft, die Chöre zu schaffen imstande sind, dazu dienen kann, gemeinsam zu kämpfen und füreinander Sorge zu tragen. Dafür ist es notwendig, Traditionen und Praktiken kritisch zu hinterfragen und zu erweitern: etwa musikinhärente, wie die verbreitete und transfeindliche Aufteilung in Frauen- und Männerstimmen in Chören oder gar in ganze Frauen- und Männerchöre, oder die Tatsache, dass in LGBTQ-Kämpfen häufig „weiße, männliche Mittelklasse-Anliegen“ im Vordergrund stehen, also soziale Positionen, die innerhalb einer marginalisierten Community für Einzelne zu Privilegien führen.

Musik und soziale Gerechtigkeit

Die Universalisierung solcher privilegierten Positionen nahm einen wichtigen Stellenwert in Rasika Ajotikars Respondenz auf Thomas Hilders Vortrag ein. Sie verwies in diesem Kontext darauf, dass die verbreitete Praxis, US-amerikanische Theoretisierungen von race dem Verständnis des indischen Kastensystems zugrunde zu legen, diesem nicht gerecht würde, da sie den ökonomischen Aspekt von Kaste völlig ausklammere. In ihrem Vortrag schlug sie daher vor, dem Aspekt des sozialen Status und der materiellen Ausbeutung im Kontext von sozialer Ungleichheit verstärkt Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, da diese in neoliberalen Gesellschaften von besonderer Bedeutung seien. Anhand ihrer Zusammenarbeit mit Aktivist_innen und Musiker_innen einer Anti-Kasten-Bewegung in der westindischen Provinz Maharashtra zeichnete die Vortragende dann die Wandlung der Bedeutung der Parai nach, einer Rahmentrommel, die lange als unrein betrachtet wurde und die zu spielen Dalit – die früheren „Unberührbaren“, die im nun offiziell abgeschafften Kastensystem Indiens auf der untersten Stufe standen – häufig gezwungen wurden. Sie führte vor Augen, wie das Instrument, ein einstiges Symbol der Unterdrückung, durch verschiedene aktuelle Praktiken seines Spiels für manche gar ein Zeichen des Widerstandes wurde und dazu verwendet wird, musikalischen Widerstand gegen Unterdrückung zu formulieren. Dieser Bedeutungswandel geschieht jedoch oft um den Preis der Entpolitisierung des Instruments, also des Nichtbeachtens seiner Geschichte, oder der nachträglichen Romantisierung des Kastenwesens und geht somit nicht notwendigerweise mit mehr sozialer Gerechtigkeit und einer wirklichen Verbesserung der Situation der Dalit einher. In der Anti-Kasten-Bewegung ist diese Form der Umdeutung daher umstritten.

Kiki House of Dive © Stephan Polzer
Solidarität über Identitätspolitiken hinweg

In der anschließenden Diskussion wurden Möglichkeiten angedacht, über separate Identitätspolitiken hinweg Allianzen zu bilden, die über ein essentialistisches Verständnis von Identität hinausgehen, aber dennoch Erfahrungen von Diskriminierung auf Basis gewisser regionaler und historischer Gegebenheiten anerkennen – damit emanzipatorische Kämpfe, wie beispielsweise anti-rassistische und anti-sexistische Anliegen, nicht gegeneinander verwendet werden, sondern zu einem gemeinsamen und gegenseitig verständnisvollen Bemühen um mehr soziale Gerechtigkeit werden.

Zum Abschluss der Veranstaltung stellten die Mitglieder des Kiki House of Dive in einer weiteren Performance zentrale Elemente des Voguing in Zusammenhang mit ihren politischen Kontexten vor.

mediathek.mdw.ac.at/mmrclecture2021

Kiki House of Dive © Stephan Polzer
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