Ein Forschungsprojekt hinterfragt Dresscodes im klassischen Konzert- und Opernbereich

© Florian Tanzer

Das bestehende Regelwerk des globalen Nordens für Auftrittskleidung und Verhalten auf der Bühne geht, wie wir wissen, auf die sich im 19. Jahrhundert etablierende bürgerliche Kultur zurück. In dieser Zeit entstanden auch das Konzertwesen, die Konzerthäuser, die Konzertkultur. Geprägt durch die Vorstellung der ewigen Aktualität von Meisterwerken wie einer universellen Sprache der Musik fungierten sie als Momente bürgerlicher Identitätsgenerierung und Selbstnobilitierung.

Ich träume von der Bühne, seit ich acht bin, aber jetzt gibt es ganz viel, was ich ändern möchte, auch wenn ich das Spiel oft mitspiele.1

In den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts ist es unumgänglich, sich der Historizität dieser Strukturen bewusst zu werden und zu hinterfragen. Im Bewusstsein um Traditionen werden wir frei, Schritte in Richtung Innovation zu setzen, auch wenn sich Studierende, Lehrende, Musikschaffende und Kulturmanager_innen immer noch fragen: „Dürfen wir das eigentlich?“ Wir dürfen, sollen und müssen Konzerte neu denken! Und uns fragen: Zu welchen ästhetischen Erfahrungen könnten sie denn heute einladen? Zu welchem emotionalen Erleben? Welche einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur entsprechenden Erfahrungsräume sind nun zu öffnen? Neue Konzertformate sind gesucht. Das Aus-der-Reihe-Tanzen ist gefragt.

Für mich ist es ein wichtiges Kriterium, wie ich mich anziehe. Es muss mit jedem Stück, das ich spiele, im Einklang stehen.

© Florian Tanzer

Setzen wir der selbst ernannten Performance-Polizei, wie Daniel Leech-Wilkinson sie nennt, den Gatekeepern der unausgesprochenen Regeln, die den Status quo bewachen, zum Trotz den Fokus auf das Transformationspotenzial von Sänger_innen und Instrumentalist_innen, hinterfragen wir damit gesellschaftliche Wissens- und Machtordnungen. Wir bringen in unserem Projekt Tired Attire – Dress Rehearsal diese Thematik ins Bewusstsein, machen sie besprechbar und öffnen den Möglichkeitsraum für alternative (Selbst-)Inszenierungen der Künstler_innen.

Wieso muss denn alles so gegendert sein? Schauen wir in die Geschichte, so haben tatsächlich Männer zuerst High Heels getragen. Im alten Persien fungierten sie als Reitschuhe der Männer.

Kleidung ist engstens mit Imagination bzw. Selbstimagination verflochten. Es geht nicht allein darum, den Körper zu bedecken. Kleidung ist für das Gefühl des Seins in der Welt mitverantwortlich. Sich kleiden ist eine kulturelle Praxis, ein Doing Fashion, wie Gertrud Lehnert es nennt, und ein Doing Gender.

Wearing, das Tragen von Kleidung, kann auch als experimentelle Forschungsmethode einer Arts-based bzw. Performance-based Research fungieren. Die Berührung des Stoffes auf der Haut, diese taktile, ja multisensorische Erfahrung beim Tragen von Kleidung, generiert Theorie im Dazwischen von Idee, Materie und Form.

Auch wenn bei Instrumentalist_innen das Instrument immer im Vordergrund steht, finde ich, die Künstler_innen dahinter müssen nicht unbedingt untergehen.

„Als Kostüm darfst du alles tragen, als Musiker_in nicht“, so die international renommierte Bühnen- und Kostümbildnerin Hannah König. „Zwischen Kostümen und Outfit besteht ein großer Unterschied.“ In gemeinsamen Gesprächen entwickelte sich in unserem Projekt ein Gespür für jede einzelne Persönlichkeit und ihre Kleidungswünsche. Die Knöchel, die Knie nicht zeigen zu dürfen, und auch nicht Schultern. Und trotzdem chic sein zu wollen. Schwarz sehr gerne zu tragen, aber nicht immer und nicht so schlicht. Wie weit können und wollen wir im Experimentieren mit Auftrittskleidung gehen? Der Papierrock war schon einen Versuch wert. Die Anregung „Hüll mich in Architektur!“ inspirierend.

Ich glaube, wenn wir die Dresscodes hinterfragen, können wir dazu beitragen, unsere Kunst zugänglicher zu machen. Das möchte ich als Künstler mit meiner Kunst auf jeden Fall versuchen.

Farbsemantiken und -diskurse spielen in soziokulturellen Ordnungen eine wesentliche Rolle. Was bedeutet es, wenn Schwarz und Weiß in Ordnung sind, Farbe bei Auftritten jedoch gar nicht geht? Farben fungieren als sinngenerierende Medien für kulturelle Selbstvergewisserung. Auch darüber gilt es zu reflektieren. Wer darf welche Farben für sich in Anspruch nehmen? Und warum? David Batchelor schreibt Kulturen des globalen Nordens sogar eine grundlegende Chromophobie, eine Angst vor Farben als konstituierendes Moment zu. Vielleicht ist das Bunte gerade deswegen ein Element, mit dem wir experimentieren können?

Es ist so schön, in Bunt aufzutreten und so anders, als ich es mir vorstellte. Ich dachte, es lenkt ab, aber eigentlich macht es genau das Gegenteil.

© Florian Tanzer

Von der Intensität der Erfahrungen im Dress Rehearsal war jede_r einzelne Musiker_in ebenso überrascht wie auch wir: Hannah König, die die Kreationen entworfen, zusammengesteckt und genäht hat, Katharina Pfennigstorf, die Mitdenkerin, Florian Tanzer, der Visual Artist, und ich, die Gender- und Artistic-Research-Forscherin. Im Vergleich zu flachen Schuhen bewirkten Absätze ganz unerwartet eine andere Haltung, ein ungeahntes Gefühl der Stärke und Stabilität. Zu einem lose fallenden Kleid mit Applikation kam ein Lied in den Sinn, das gesungen werden wollte. Das selbstimaginierte, auf den Körper zugeschnittene Outfit vereinte Freiheit und Geschützheit. Musik wurde als körperlich ästhetisches Ereignis in der Verbindung von Klang, Bewegung, Tanz in Raum und Zeit spürbar.

Was passiert in der Gesellschaft, wenn Funken der Stimmigkeit auf so vielen Ebenen erfahrbar werden?

Mit meiner Kunst fühle ich mich als Künstler_in verantwortlich für gesellschaftliche Anliegen und Veränderungen.

Ein Projekt im Rahmen des Gender|Queer|Diversität Call_mdw 2020. Mitwirkende: Daniele De Vecchi, Julia Diaba, Bernarda Klinar, Paula Langthaler, Sonia Lehrhuber, Elia Merguet, Constantina Nicolaou, Katharina Püschel, Dalma Sarnyai

 

Literatur:

David Batchelor (2002), Chromophobie. Angst vor der Farbe, Wien.
Daniel Leech-Wilkinson (2016), Classical Music as Enforced Utopia, in: Arts and Humanities in Higher Education 15/3–4, 325–336.
Gertrud Lehnert (2016), Ist Mode queer? Neue Perspektiven auf Modeforschung, Bielefeld.
Ellen Samson (2018), Entanglement, Affect and Experience. Wearing As Experimental Research Methodology, in: International Journal of Fashion Studies 5/1, 55–76.
Martin Tröndle (Hg). (2011), Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Bielefeld.

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