Ob Theater, Film, Literatur oder Musik – KünstlerInnen aller Genres sind mit Kritik konfrontiert – sei es an der Universität, durch das Feedback von Lehrenden und Studierenden, anhand der Reaktionen des Publikums oder in Form von (Kunst-)Kritiken in den Medien. Der junge Regisseur, Nestroypreisträger und Absolvent des Max Reinhardt Seminars Felix Hafner, Marie Luise Lehner, Autorin, Gewinnerin des Alpha-Literaturpreises 2017 und Studierende der Filmakademie Wien, sowie Stefan Mendl, Lehrender am Joseph Haydn Institut der mdw, Mitbegründer des Wiener Klaviertrios und zweifacher Echo-Klassik-Preisträger, diskutierten am Tag der Angelobung der neuen österreichischen Bundesregierung Fragen zur Bedeutung von Kritik für die Gesellschaft, wie sie selbst mit Kritik(en) umgehen und warum sich auch das Publikum in Sachen Kritik ruhig mehr zutrauen sollte.

Kritikfaehig
©Stephan Polzer

Sprechen wir am Anfang über den klassischen Kunstkritik-Begriff. Oft ist das Wort Kritik ein wenig negativ besetzt. Woran liegt das schlechte Image, was ist für euch Kritik und welche Bedeutung hat sie?

Marie Luise Lehner (ML): Ich finde es immer schwierig, dass man sagt, Kritik ist negativ behaftet, weil es ja eine Grundeigenschaft von uns ist, dass wir Kritik ausüben.

Felix Hafner (FH): Dass das negativ behaftet ist, kommt dadurch, dass Verrisse lustiger zu lesen und vielleicht auch einfacher zu schreiben sind. Man ist auf der einen Seite angewiesen darauf, ich finde es auf der anderen Seite aber auch spannend, Kritiken zu lesen. Es gibt ziemlich viele KollegInnen, die behaupten, dass sie so etwas nicht lesen, aber das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Dass man sich gar keine Kritiken durchliest, da muss man, glaube ich, ziemlich geradlinig sein.

ML: Und auch von sich selbst eingenommen. Kritik kann ja auch extrem förderlich sein für die eigene künstlerische Arbeit.

Stefan Mendl (SM): Bei Zeitungskritiken gilt das für mich nicht. Ich finde, diese werden meistens von Leuten geschrieben, bei denen ich nicht davon ausgehen würde, dass sie kompetent genug sind, um für meine künstlerische Tätigkeit von Belang zu sein. Ich würde aber niemals sagen, dass ich keine Kritiken lese. – Im Gegenteil: Ich schaue immer aktiv, ob es welche gibt. Wir als ausübende KünstlerInnen und unsere Agenturen benutzen sie ja auch für die Promotion. Von KollegInnen höre ich mir Kritik gerne an oder von Leuten, von denen ich weiß, dass sie wissen, was sie sagen. Die sagen das unter Umständen auch mehr oder weniger wohlwollend, aber diese Kritik würde ich mir zu Herzen nehmen. Aber nicht das, was in einer Zeitung steht. Das nütze ich oder schmeiße es weg.

ML: Man hat zumindest etwas ausgelöst, wenn man einen Verriss ausgelöst hat. Man muss es auch schaffen, dass sich jemand dermaßen über eine Arbeit aufregt. Vielleicht auch aus politischen Gründen, das ist dann auch nicht immer schlecht.

Felix Hafner
Felix Hafner ©Stephan Polzer

FH: (lacht) Ja, stimmt. Das war auch bei meiner letzten Produktion am Volkstheater (Nestroys Höllenangst, Anm. der Redaktion), als wir eine schlechte Besprechung von unzensuriert.at (FPÖ-nahe Plattform, Anm. der Redaktion) bekommen haben. Das war eigentlich die größte Genugtuung.

SM: Es ist auch in der langen Geschichte der Kunstkritik oft recht amüsant zu sehen, wie die zeitgenössische Rezension von damals heute absolut gepriesene Meisterwerke verrissen hat. Das war sicher sehr schmerzhaft für die KünstlerInnen. Aber die Zeit hat gezeigt, wie falsch die KritikerInnen lagen. Natürlich sind alle KünstlerInnen auch sensibel und niemand freut sich über eine schlechte Kritik. Man muss es einfach so nehmen: Wenn sie gut ist, nützt man sie, und wenn sie schlecht ist – in den Papierkorb damit.

ML: Wenn sie schlecht ist, nützt man sie auch. Also ich finde es kann schon auch etwas bringen.

FH: Ich würde jedenfalls nicht alle KritikerInnen über einen Kamm scheren. Für mich liegt die Unterscheidung darin, wie gut etwas beobachtet ist. In der Beschreibung dessen, was man gemacht hat, wie genau ich das nachvollziehen kann, wie die Person das einschätzt und bewertet. Und das ist eher die Sache, über die ich mich ärgere, nämlich wenn Dinge, die man gemacht hat, unreflektiert oder pauschalisiert in der Zeitung stehen. Dagegen finde ich eine negative Kritik, die ein Werk sehr kleinteilig zerlegt, oft sehr spannend oder manchmal sogar hilfreich.

ML: Auf jeden Fall ist es schön, wenn man das Gefühl hat, Leute haben bei mir jetzt einen Text oder ein Buch genau gelesen und verstanden, worum es geht, und können das dann aufgrund dessen positiv oder negativ kritisieren. Das ist dann egal.

Marie Luise Lehner
Marie Luise Lehner ©Stephan Polzer

SM: Wogegen ich mich wahnsinnig wehre, weil ich finde, dass das mit Kritik nur sehr wenig zu tun hat, ist dieses schnelle Rating, das jetzt so beliebt ist – z. B. Sternchen. Das gibt es jetzt ja sogar am Flughafen: Wenn du durch die Sicherheitskontrolle gehst, musst du danach bewerten, ob sie gut, mittelmäßig oder schlecht war. Und wenn du aufs Klo gehst, musst du die Reinlichkeit mit Smileys bewerten, das ist ganz blöd, finde ich. Und das gibt es in der Kritik auch immer mehr, auch in Tageszeitungen. Da gibt’s dann fünf Sterne, drei, zwei … oder keinen … Diese Art von Kritik finde ich plakativ, dumm und sinnlos. Wenn es wirklich eine fundierte Kritik sein soll, dann kann das natürlich auch, wie du sagst, eine literarische Leistung sein.

ML: Es gibt ja auch Kritiken, die einfach wahnsinnig gut geschrieben sind. Das ist etwas, das ich extrem schätze. Das ist überhaupt nicht gang und gäbe. Und es gibt nur wenige Ausnahmen, wo man auch sieht, dass jemand nicht nur am Abend davor kurz vor Redaktionsschluss das nur abgetippt hat. Das merkt man schon, wenn sich jemand wirklich mehrere Tage Zeit genommen hat. Natürlich, wenn ein Roman kritisiert wird, dann muss jemand diesen auch von vorne bis hinten gelesen haben. Man kann in sehr kurzer Zeit herausfinden, ob jemand den Roman gelesen hat. Was ja oft gemacht wird, ist, dass der Klappentext in veränderter Form verwendet wird.

FH: Was mitunter interessant ist, ist die Entwicklung, dass durch das Internet und sehr viele Blogs, sehr viele Menschen die Möglichkeit haben, etwas zu kritisieren und relativ schnell auch eine Plattform bekommen, die googelbar ist und sofort mit dem in Verbindung gebracht wird.

ML: Ich find das eigentlich extrem cool.

Stefan Mendl
Stefan Mendl ©Stephan Polzer

SM: Ja und nein. Es ist extrem cool, aber auch extrem gefährlich, weil was einmal im Netz steht, das geht nie wieder weg.

ML: Auf der anderen Seite hat man so Privatmeinungen. Es gibt Bücherforen, wo Leute teilweise in Echtzeit mitschreiben, was sie gerade lesen und was sie sich dazu denken. Oder bei Amazon, wo das Buch verkauft wird, gibt es 20 Kommentare von irgendwelchen Leuten, die das gerade frisch gelesen haben.

SM: Bei der klassischen Musik auf YouTube werden die Clips kommentiert, und das ähnelt dann manchmal schon sogenannten Hasspostings. Da geht es dann oft um irgendwelche völlig absurden Sachen… Es ist manchmal lustig, dass sich manche Leute da so engagieren, andererseits ist das halt das Web, das bietet allen ein Forum, auch für Dinge, die man sich nicht wohlweislich überlegt hat.

Ihr verfolgt das also, wenn Kritiken oder auch andere Meinungen zu euren Werken erscheinen?

FH: Also ich lese wirklich alles. Auch wenn etwas in den sozialen Medien zu finden ist. Gerade das interessiert mich dann besonders, wenn die Leute etwas schreiben, die im Publikum waren. Und gerade am Theater ist man auch ziemlich abhängig davon. Gerade in der Wiener Theaterszene ist es schon weiterhin so, dass eine gewisse Art von Publikum sich bei der Wahl eines Theaterabends danach richtet, was in der Zeitung steht.

ML: Ich glaube, das ist auch medienübergreifend. Bevor jemand in eine Buchhandlung geht und sich ein Buch kauft, muss jemand eine gute Kritik gelesen haben, sonst passiert das einfach nicht. Es passiert kaum, dass Laufpublikum z. B. zum Thalia geht und einfach ein Buch aus dem Regal nimmt und kauft. Als ich publiziert wurde, stand das Buch im Thalia ein paar Wochen lang im Erdgeschoß und im ersten Stock näher beim Eingang. Und meine Verkaufszahlen waren viel schlechter als nach den ersten großen Kritiken.

SM: Früher gab es viel mehr Zeitungskritiken und jetzt gibt es richtige Online-Plattformen für klassische Musik, die Konzerte und CDs rezensieren. Das ist viel verbreiteter als die Printmedien. Oder zumindest gehen die Leute viel eher in die Konzerte und schreiben dann darüber. So etwas wird immer wichtiger. Wenn in den letzten Jahren Kritiken über unsere Konzerte oder Aufnahmen kamen, dann meistens im Internet und hie und da noch in der Zeitung.

ML: Bei Literatur ist das glaub ich ein bisschen anders. Weil das Publikum liest auch Printmedien und es gibt ja wirklich viele Literaturzeitschriften, wie z. B. manuskripte und kolik, in denen Literatur publiziert wird und hinten sind die Kritiken drinnen, das ist schon recht groß.

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Gehen wir noch mal zu der Frage, wer diese Kritiken schreibt. Johann Gottfried Herder hat schon gesagt: „Denn wie keine Kunst ohne Übung möglich ist, so auch ohne Kenntnis dieser Übung kein vollständiges, richtiges Urteil.“ Was sollte ein/e KrikterIn mitbringen?

ML: Ich finde es extrem wichtig, dass KritikerInnen mehr Zeit haben, sich mit Sachen zu beschäftigen. Das ist auf jeden Fall ein Faktor, der ein Problem darstellt. Gerade beim Fernsehen oder auch beim Radio habe ich die Erfahrung gemacht, dass JournalistInnen innerhalb kürzester Zeit sehr viele Sendungen machen müssen, zu sehr vielen Themen, und einfach nicht die Zeit haben, sich genauer mit etwas auseinanderzusetzen. Es ist natürlich auch ein Unterschied – ein Buch hat man nicht wie ein Theaterstück in wenigen Stunden gesehen. Das Theaterstück muss man trotzdem noch nachwirken lassen.

FH: Was teilweise auch nicht passiert. Es gibt ja mittlerweile den Trend, dass Pausenkritiken online gestellt werden. Da wird im Burgtheater in der Pause, nach dem ersten Teil, schon eine Kritik geschrieben. Das verstehe ich nicht, denn du kannst ja noch nichts darüber sagen, wenn du erst die Hälfte davon gesehen hast. Aber das wird tatsächlich gemacht…

ML: Genau. Und ich habe eben die Erfahrung gemacht, dass Leute aus Zeitdruck das Buch nicht lesen und das ist dann oft sehr offensichtlich. Ich habe ein Buch geschrieben, in dem es um eine Vater-Tochter-Beziehung geht und dann fragt mich jemand etwas zum Thema Kindererziehung. Oder es wird danach gefragt, wie autobiografisch ein Text ist – das ist die schlechteste Frage, die man bei Literatur überhaupt stellen kann.

SM: Ich glaube, bei der Musik ist es ein bisschen anders. Bei der Musik erwarte ich von einem Kritiker/einer Kritikerin, dass er/sie ein gewisses Hintergrundwissen hat. Und dass er/sie sich trotzdem mit einer gewissen Offenheit hineinsetzen kann und ein bisschen das widerspiegelt, was das Publikum empfindet und wie es reagiert. Ich finde ein Kritiker/eine Kritikerin muss schon etwas davon verstehen, im Idealfall auch Erfahrungen haben und oft in Konzerte gehen und auch aufnahmefähig dafür sein, wie etwas rezipiert wird vom Publikum, denn es ist auch Teil seiner Aufgabe darüber zu berichten. In Wahrheit ist eine Kritik ja auch ein Bericht über ein Event.

Inwiefern beeinflussen wirtschaftliche Aspekte die Kritik und die Tatsache, ob überhaupt über ein „Kulturprodukt“ geschrieben wird?

SM: Also vor 20 Jahren war das noch nicht so. Da kamen die Sachen heraus und wurden besprochen. Jetzt bekommst du, wenn eine neue CD herauskommt, z. B. aus Amerika unmoralische Angebote von CD-Magazinen, denn in den USA kann man für Artikel bezahlen. Das geht in eine Richtung, die scheußlich ist. Natürlich wirst du auch beworben, wenn du in einem Konzerthaus spielst, natürlich machen die Aussendungen, das ist die Art von PR, die passiert. Aber heutzutage ist das mittlerweile fast zu wenig, weil du in diesem riesigen Pool der Medienlandschaft mit etwas, das kein gigantisches Event ist, ziemlich schnell untergehst.

ML: Also bei mir gibt es keine Events. Niemand geht zu Lesungen. Niemand interessiert sich für Lesungen, egal wo ich lese. Lesungen sind nicht der Bringer. Die Lesung ist für mich also viel weniger wichtig, als z. B. eine Preisverleihung.

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Apropos Preise: Ihr habt 2017 alle einen Preis gewonnen – hilft einem so etwas?

ML: Der Alpha-Literaturpreis hat mir wahnsinnig viel gebracht. Weil die auch eine extrem große PR-Abteilung haben, die viel Geld in die Bewerbung des Ganzen hineingesteckt hat. Gerade auch, weil der Preis nun mehr und mehr in die Öffentlichkeit rückt und es den noch nicht so lange gibt.

SM: Also der Echo-Klassik ist, was das Medieninteresse betrifft, sehr wichtig. Wir haben den 2010 und jetzt 2017 wieder bekommen. Aber so direkte Auswirkungen … da kommt es auch darauf an, in welcher Kategorie man gewinnt. 2010 war der Preis für die beste Einspielung Kammermusik zweite Hälfte 18. Jahrhundert, da habe ich damals zu den Kollegen gesagt: ,Das ist, wie wenn du den Oscar für das beste Kostüm bekommst. Das weiß auch kein Mensch.‘ Heuer haben wir den Preis für das beste Ensemble bekommen, das ist natürlich schon ein bisschen mehr im Fokus, aber letztendlich … Auch bei der Gala waren wir nicht. Wenn du schon ein Star bist, dann ist es für dich noch mehr von Nutzen, aber wenn du Kammermusik machst … Du kannst dir die Trophäe hinstellen und alle werden dir gratulieren, aber einen großen Effekt auf die Auftragslage hat das nicht.

ML: Bei mir war es praktisch so, dass ich in der Woche nach dem Alpha-Preis auf Platz 4 der österreichischen Bestseller-Liste war. Das war extrem …

FH: Bei mir hat es nicht so viel gemacht. Der Nestroy-Preis hat schon eine ziemliche Medienaufmerksamkeit erregt und in meinem Dorf in der Steiermark wissen es jetzt alle und verstehen auch was das ist, was ich mache. Aber dieses berühmte klingelnde Telefon nach so einem Preis hat es nicht gegeben. Ich glaube aber schon, dass es längerfristig schon ganz gut ist, den Preis zu haben. Aber so eine direkte Auswirkung – auch auf Zuschauerzahlen – hat es nicht.

Stefan Mendl
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Beeinflusst euch das, was in Kritiken steht, in der Praxis? Historisch gesehen haben beispielsweise die Filmkritik und eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Film die praktische Entwicklung sehr wohl vorangetrieben.

SM: Für mich würde ich es total ausschließen. Für mich ist es ein Produkt, das ich mit Freude, Amüsement oder Ärger lese, aber das mich überhaupt nicht beeinflusst. Und ich glaube, dass das früher in der Musik gar nicht so anders war. Ich glaube nicht, dass die Kritik die Musik in der Entwicklung wirklich wesentlich beeinflusst hat, das waren andere Dinge. Gerade gesamtgesellschaftliche Ereignisse haben die klassische Musik immer am meisten beeinflusst. Die Kritik hat vielleicht manches verhindert oder zu verhindern versucht. Aber meistens – wenn etwas wirklich gut war – hat es sich dann doch durchgesetzt.

ML: Ich finde es sehr schön, wenn man merkt, dass jemand etwas verstanden hat. Dass jemand sagt: „In dem Text geht’s darum.“ Und ich denk mir: „JA!“ (Lacht.)

SM: Stimmt, das ist schön. Das ist in der Musik natürlich genauso. Wenn jemand sagt, das oder jenes war besonders berührend und du hattest auch das Gefühl, dass das so war.

FH: Das ist am Theater auch manchmal sehr schön, wenn man über einen Probenzeitraum mit dem Ensemble Dinge bespricht oder vorhat, was man mit der Inszenierung erzählen möchte, und wenn das dann beschrieben wird in einer Kritik, ist das natürlich eine super Bestätigung.

SM: Das ist ja dann das Umgekehrte. Du wirst ja dann quasi bestätigt. Aber hast du jemals das Gefühl gehabt, dass du eine Kritik in deine Arbeit als produktive Anregung einbauen kannst?

FH: Nicht direkt, aber es gibt schon so Trigger bei mir. Sachen, die bei mir immer wieder Thema sind und waren. Wenn die dann drinnen stehen in einer Kritik, dann werde ich hellhörig. Woran ich aber tatsächlich sehr arbeiten möchte, ist, dass ich im Prozess vorher sehr viel darüber nachdenke, was darüber geschrieben werden könnte. Ich weiß, dass das total ohne Sinn ist und einen eigentlich nur versperrt, aber ich kriege das durch die diversen Druckmechanismen, die am Theater herrschen, manchmal tatsächlich nicht aus dem Kopf.

ML: Die Kritik, die einem natürlich die liebste oder auch die hilfreichste ist, ist natürlich die, die man sich von KollegInnen holt. Und da geht man zu Menschen, die man sehr schätzt. – Ich gehe dann zu AutorInnen, die ich sehr schätze und deren Werk ich sehr schätze, und gebe ihnen einen Text. Die Kritik ist dann eine viel ausführlichere, längere und vielleicht auch ein Dialog, in dem man auch bestimmte Dinge nachfragen kann. Das ist die Kritik, nach der ich mich in jedem Fall sehr sehne und die extrem wertvoll und anregend ist.

SM: So ähnlich ist es für mich beim Unterrichten. Da kommen Studierende, die sind meistens wahnsinnig motiviert und wollen etwas Schönes machen und das, was sie von mir wollen, ist Kritik. Sie wollen, dass man das, was sie machen, kritisiert – und zwar so, dass sie es dann vielleicht besser machen. Und das ist eigentlich eine ganz wichtige Form von Kritik: Dass du sie nicht verreißt, sondern dass du wirklich versuchst, jeden durch diese Kritik eine Stufe besser zu machen. Und manchmal ist es danach fantastisch und manchmal ist es zumindest eine Stufe besser. Du setzt dich damit einer Person aus, bei der du davon ausgehen kannst, dass sie das, was sie macht, schon lange macht, viel Erfahrung hat und dir nicht bloß irgendetwas sagt.

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Wie ist denn grundsätzlich eure Erfahrung mit Kritik in Form von Feedback im Unterricht an der mdw?

ML: Ich kann die Filmakademie ein bisschen vergleichen mit meinen Erfahrungen an der Angewandten. Ich fand die Kritik an der Filmakademie bisher ein bisschen lähmend, weil es – was schade war – so viele Instanzen gibt, die einen auf unterschiedlichen Ebenen beraten, sodass es ganz schwierig ist noch etwas zu machen, was man gerne machen würde. Wenn ich einen Film an der Filmakademie machen möchte, dann muss ich mir natürlich das Equipment ausborgen, das ist sehr teuer und das gibt man auch nicht so gerne raus. Das heißt, ich muss zuerst einmal ein Drehbuch schreiben und mit der Drehbuchklasse absprechen, diese geben mir dann Feedback, woraufhin ich ein Konzept schreibe für den Regieprofessor, der mir auch Feedback gibt, dann schreibe ich ein Storyboard für den Kameraprofessor und der gibt mir auch Feedback und der findet dann z. B. dass die Dialogsituation mit Schuss und Gegenschuss aufgelöst werden soll, weil das ist eine gute Übung und wir sollen mehr Lichtequipment mitnehmen ans Set. Dann hat man dieses Rad einmal durchgemacht und dann schreibt man quasi ein neues Drehbuch – und so geht es dann weiter. Und dann gibt es noch die Produktion. Das heißt man schreibt Drehpläne und auch die Produktion muss das absegnen. Erst wenn alle d’accord sind, kann man sich das teure Equipment ausborgen. Das ist manchmal schwierig und schon zu viel Feedback, weil das alles dadurch viel schwerfälliger und langsamer wird. Manchmal wäre es meiner Meinung nach einfach angenehmer einen Film schnell zu machen und ein bisschen abseits von der Idee in die Filmbranche zu gehen, in der ja auch alles sehr schwerfällig und langsam funktioniert. Aber an der Filmakademie wird man natürlich stark auf diese Filmbranche hintrainiert und das Kurzlebige vom unabhängigen Film oder einem Film, in dem das Künstlerische im Vordergrund steht und vielleicht nicht die Technik, ist fast nicht möglich. Weil es fast unmöglich ist, dass man sagt: „Ich würde mir einfach gern nur eine Kamera ausborgen und wir machen das wackelig und ohne viel Lichtequipment.“

FH: Das Beste an der Feedbackkultur war bei mir am Max Reinhardt Seminar sicher der Austausch unter den Studierenden, mit den Kommilitonen, deren Arbeiten zu verfolgen, mit denen darüber zu sprechen. Das ist das Lehrreichste am ganzen Studium gewesen oder das, was es am meisten ausgezeichnet hat. Ich habe etwa zwei Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass die Bewertung von meinen Projekten vonseiten der Lehrenden mitunter auch mit einem Politikum zusammenhängt und natürlich total subjektiv und vom Theatergeschmack abhängt. Und das muss man auch erst verstehen… Dass man irgendwann weiß: „Wenn es dem nicht gefällt, ist es eigentlich ganz gut.“ (lacht)

ML: Es ist auch immer sehr wichtig, dass man sich aussuchen kann, von wem man sich die Kritik holt. Das war bei der Filmakademie nicht der Fall. An der Angewandten, wo ich Sprachkunst studiere und gerade abschließe, konnte ich mir mehr aussuchen, bei welchen ProfessorInnen ich mir mein Feedback hole und in welchen Kurs ich gehe und wessen Meinung mir wichtig ist. Da hängt natürlich nicht so viel Equipment dran…

Und wie ist das aus der Sicht des Lehrenden?

SM: Ich bin ja jetzt erst seit zwei Jahren hier. Vielleicht bin ich noch in dieser Anfangseuphorie. Aber bis jetzt ist das unglaublich erfreulich, was ich erlebe und was von den Studierenden zurückkommt, wie sie sich in kurzer Zeit oft weiterentwickeln und im Endeffekt versuchen das Beste zu bringen. Es sind auch wahnsinnig viele verschiedene Studierende, ich habe ja etwa in dem Semester um die 70 Studierende. Mehr als 90 Prozent sind mit Begeisterung und Offenheit zugange und wollen wirklich hören, was ich ihnen da erzählen will – das ist ein schönes Gefühl. Ich könnte mir nie vorstellen, etwas zu unterrichten, von dem ich das Gefühl habe, dass das eigentlich keiner hören will. Ich habe ja selber vor vielen Jahren hier studiert, und da war das alles bei Weitem nicht so positiv, wie es jetzt ist. Da hat sich schon sehr viel – vor allem auch für die Kammermusik – getan. Was wir machen ist künstlerischer Einzelunterricht. Es ist nicht so, dass ich eine Vorlesung halte. Die Studierenden kommen mit etwas zu mir, das sie vorbereitet haben, und ich sage ihnen, was ich davon halte, wie man Feinheiten noch besser rausbringt etc. Das kann nur im Moment passieren. Natürlich weiß ich einiges über die Werke, aber es ist nicht so, dass ich mir vorher überlege, was ich genau sage – jeder Student/jede Studentin ist ja auch völlig anders. Und das sind noch dazu Gruppen – da gibt es Gruppendynamiken, die manchmal witzig, manchmal auch anstrengend sein können – auch auf das muss man eingehen. So wie wenn man selbst Kammermusik spielt – da muss man auch auf die Leute, mit denen man spielt, eingehen.

Betrachten wir den Kritik-Begriff nun globaler. Erziehung zum kritischen Denken ist in einer Demokratie wichtig – gewinnt das jetzt in einer Zeit, in der wir von Fake News sprechen oder z. B. unabhängiger Journalismus von vielen infrage gestellt wird, wieder mehr an Bedeutung?

SM: Ich glaube es wird sehr wichtig – das Problem ist nur: Jeder/jede lebt in seiner/ihrer Blase, und wenn wir aus dieser Blase kurz herauskommen, dann sehen wir, wie viele andere Meinungen es da gibt. Ich glaube, das wird uns noch viel Kopfzerbrechen bereiten.

ML: Ich glaube, dass der Diskurs dadurch, dass sich solche Blasen entwickeln, immer spezifischer wird. Weil man sich, gerade durch soziale Medien, viel stärker in einem Umfeld bewegt, das politisch ähnlich denkt. Ich bewege mich in einer Blase, die ist z. B. Literatur- und Kulturinteressiert, queer-feministisch, wahrscheinlich gesamtgesellschaftlich gesehen radikal links und das ist der Konsens – und dann beginnen wir zu reden. Und das ist wahnsinnig angenehm auf vielen Ebenen, weil man auf einmal Gespräche führen kann, die nicht mehr so grundsätzliche Sachen aushandeln. Z. B. dass man nicht mehr erklären muss, warum es wichtig ist, in einem Gespräch zu gendern, sondern wir können schon viel weitergehen und über Dinge sprechen, die vielleicht wirklich wichtig sind und an denen man sich aufreibt.

SM: Natürlich, nur wir müssen alle in unseren Blasen aufpassen, dass dann nicht irgendwann jemand kommt und uns diese Blasen nicht mehr zugestehen will. Das ist ja die große Gefahr. So lange es dieses Umfeld gibt, und man weiß, man bewegt sich da auf einem Level, auf dem man in einem anderen Umfeld erst einmal händeringend hinkommen müsste … Wenn sich gesamtgesellschaftlich solche Umwälzungen ereignen, besteht natürlich die Gefahr, dass einem diese Foren nicht mehr zugestanden werden oder dass man dann anfangen muss darum zu kämpfen. Das mobilisiert sehr viel Energie, was vielleicht auch wieder gut ist.

ML: Ich glaube es ist auf jeden Fall wichtig, dass man sich dieser Blase bewusst ist. Dass man weiß: Es gibt diese Leute, ich weiß wo sie sind, ich weiß wie ich sie mobilisieren kann und wenn es notwendig ist, gehe ich mit meiner Blase auf die Straße. Und dass man auch mit ihnen kommunizieren kann. Also über soziale Medien kann ich auf jeden Fall mit meiner Blase viel leichter kommunizieren als im Alltag.

SM: Nur glaube ich, dass diese Blasen und Spaltungen oder Verschiedenheiten oft so grundlegend sind, dass es manchmal überhaupt keine Berührungspunkte mehr gibt. Das hat man bei der Präsidentenwahl in Österreich gesehen, das sieht man in den USA… Ich bin wirklich sehr oft dort und habe in all den Jahren niemanden getroffen, der mir gesagt hätte, dass er Trump wählt. Man bewegt sich auch dort in gewissen Blasen…

ML: Wenn man es näher herbringt – ich kenne jetzt auch keine Personen, die FPÖ wählen, aber man hat trotzdem Berührungspunkte mit Menschen, die das sehr wohl tun …

FH: Am Theater habe ich die Erfahrung gemacht, dass das dann doch näher ist, als man denkt. Das Theater besteht nicht nur aus KünstlerInnen, die sich natürlich liberal, offen, links usw. präsentieren. Aber es gibt dann noch die Technikmannschaften, die Verwaltung und andere Bereiche von so einem Haus. Und wenn man dann auf der Bühne für gewisse Sachen einsteht, ist die Frage, wie man an diese Leute herankommt. Das ist das, was mich am meisten beschäftigt: Wie kommt man auf einen gewissen Konsens. Gewisse Dinge, bei denen man davon ausgehen könnte, dass die im Interesse aller Menschen sind, dass man die erklären muss oder diese quasi wieder herstellen muss in so einem Gespräch, das ist das, was mich manchmal total erschüttert und wo ich auch nicht weiß, wie ich so einen Dialog schaffe.

ML: Wenn man Theater, Film oder Literatur macht, dann hat man ein ziemlich großes Privileg, weil man zu sehr vielen Leuten sprechen kann. Ich habe das Gefühl, damit geht für mich auch eine ethische Verantwortung einher, dieses Privileg so zu nutzen, dass ich auch meine politischen Standpunkte propagiere. Natürlich nicht mit dem Holzhammer und nicht agitativ, aber es ist auf jeden Fall notwendig, sich politisch zu äußern in seiner Kunst und auch niemandem die Möglichkeit zu geben, dass der deine Kunst aus einer anderen Ecke missbraucht.

SM: Wenn man davon ausgeht, dass wir als Uni nicht nur dafür da sind KünstlerInnen auszubilden, sondern auch um einen gewissen moralischen oder ethischen Hintergrund zu vermitteln, dann muss man diesen Hintergrund, solange es möglich ist, auch liefern. Und da muss man sich bewusst sein, dass manche Dinge gefährlich sind und man bewusst dagegen ankämpfen sollte. Das ist etwas, das immer wichtiger werden wird, dass man für Überzeugungen auch einsteht.

FH: Genau. Dass eine Haltung dahintersteht, für die man dann auch eintritt.

SM: Du kannst mit klassischer Musik jetzt nicht direkt politisch Stellung beziehen. Aber du kannst dich z. B. weigern bei einem FPÖ-Parteitag aufzutreten.

FH: Gerade diese rechten Kräfte – mit denen wir jetzt auch die nächsten fünf Jahre zu tun haben werden – sehen oft nicht ein, dass Kritik dazugehört und sie sind leider auch so humorbefreit. Als die FPÖ z. B. gefordert hat, dass man die Förderung für das Theater in der Josefstadt zurückverlangt – was einerseits natürlich witzig ist, weil man kann keine Subvention auf einmal wieder zurückverlangen – und andererseits, weil der Auslöser dafür derart nichtig war…

SM: Dessen muss man sich bewusst sein, die Leute sind schnell beleidigt und kleinkariert und vertragen keine Kritik. Und je mächtiger sie werden, desto weniger Kritik vertragen sie. Es gibt sehr gute Beispiele, die man aus der Ferne beobachten kann, wie den türkischen Präsidenten, der sich mit einem deutschen Kabarettisten einen Rechtsstreit geliefert hat. Das fand ich grenzgenial, ich bin ein großer Fan von „Überspitzungen“, weil sonst reagiert kein Mensch darauf. Du siehst, wie empfindlich und kleinkariert diese mächtigen Leute sind. Und auch dumm.

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Siegfried Kracauer prägte den berühmten Satz: „Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar.“ – Ist so etwas heute noch von Bedeutung für die Kritik, kann sie in diese Richtung noch etwas leisten?

SM: Selbstverständlich, sie kann extrem destruktiv sein, wenn sie z. B unliebsame Kunst niedermacht – das ist geschichtlich schon sehr oft vorgekommen. Wenn du die Medien dominierst, dann schreiben die schon die richtigen Sachen und machen Dinge schlecht. So kannst du den Leuten einreden, etwas sei „entartet“ oder schlecht oder Nestbeschmutzung. Also im negativen Sinn auf jeden Fall und im positiven natürlich auch. Kritik, die sich dafür einsetzt und die dann unliebsame Produktionen nach künstlerischen Aspekten ins gute Licht rückt, kann natürlich sehr helfen – ich glaube das ist sogar extrem wichtig.

ML: Man kann ja Kunst auch nicht losgelöst von einem gesellschaftlichen Diskurs oder von Politik betrachten. Und wenn ich das nicht mitbedenke als KritikerIn, dann kann ich es auch nicht kritisieren. Wie soll Kunst ohne einen politischen Anspruch kritisiert werden? Und gleichzeitig sollen auch unliebsame Dinge angesprochen werden –
z. B. wie werden Schwarze im Theater gezeigt – malt man sie an, werden sie geblackfaced oder werden nur für diese Rollen schwarze Personen gecastet oder spielen schwarze Personen auch weiße Personen? Ohne einen politischen Anspruch zu haben und ohne ein politisches Vorwissen, kann ich das nicht kritisieren.

FH: Gerade dieses Beispiel zeigt die Macht davon am Theater … Vor 10 Jahren war das ja noch gang und gäbe. Heute kannst du das nicht mehr machen.

SM: Letzte Woche an der Staatsoper bei Lulu, da kommt dann schon einmal der ,Neger‘ auf die Bühne mit einer Maske und er ist auch noch sehr brutal und sticht alle ab. Da wird einem schon schwummrig …

ML: Genau, und von der Kritik würde man sich dann wünschen, dass die nicht nur die Musik in der Staatsoper beschreibt, sondern auch diese Szene von der einem schwummrig geworden ist und das machen nur KritikerInnen, die sich selber als politische Menschen in der Gesellschaft sehen.

Wie kann man mehr Bewusstsein für Kritik schaffen – vor allem für Leute, die in Kritik immer etwas Negatives sehen und gar nicht als Dialog oder Diskurs?

ML: Ich denke mir bei jüngeren Menschen ist das viel einfacher, umso älter die Menschen sind, umso schwieriger ist es, finde ich, in so einen Diskurs zu treten. Wenn man das Gefühl hat, jemand ist schon lange mit seiner Meinung gut gefahren, will er sich schwer von etwas anderem überzeugen lassen. Bei Kindern, Jugendlichen und jungen Studierenden macht das noch mehr Sinn, wenn es um grundsätzliche Diskussionen geht.

SM: Das ist vielleicht ein Punkt, über den wir noch sprechen sollten – die Erziehung zur Kritikfähigkeit. Die ist ja nicht gegeben. In fast jeder Schule – mit einigen löblichen Ausnahmen – wird von den Kindern vor allem gefordert, dass sie gut funktionieren, dass sie brav ihren Stoff bewältigen und am besten auch nicht sonderlich auffallen. Das ist der Grundkonsens. Natürlich gibt es immer Leute, die dem nicht zustimmen, aber dass man wirklich zur Kritikfähigkeit erzogen wird, das gibt es selten. Diese Leute werden dann älter und haben nie gelernt ihre kritische Meinung kundzutun. Es wird nicht gefördert eine Meinung zu haben, Kritik zu äußern – verbal, künstlerisch oder wie auch immer.

FH: Ich glaube es ist auch wichtig den Sprachgebrauch immer wieder zu hinterfragen. Weil man so leicht die Kategorien Lob gegenüber von Kritik fällt und man eigentlich sich selbst und andere auffordern müsste Kritik total divers anzusehen. Und da kann ich mich selbst dazu animieren, selbstkritisch zu sein oder Kritik anzunehmen, was auch ein Prozess ist, den man irgendwie erlernen muss. Und auf der anderen Seite steht die Frage: ,Wie gebe ich anderen Kritik?‘ Damit beschäftige ich mich auch oft – was ist eine Kritik, die dem anderen etwas bringen könnte. Das ist gerade am Theater tatsächlich ein Problem – welchen Modus findet man, um sich kritisch mit etwas gemeinsam auseinanderzusetzen. Premieren sind überhaupt nicht gut, um in irgendeiner Form über etwas kritisch zu sprechen. Aber wann triffst du dann die Leute – in welchem Kontext redest du dann über das, was die oder der gemacht hat oder man selbst gemacht hat? Oft redet man dann gar nicht darüber, was total schade ist. Man sollte offensiv Wege suchen, damit man darüber sprechen kann, denn sonst bleibt es bei den Höflichkeitsfloskeln, bei den Glückwünschen.

SM: Das ist etwas total Wichtiges, was du da ansprichst – bei der Kritik von KollegInnen ist der gewählte Zeitpunkt wirklich sehr wichtig. Es gibt Momente, die sind vollkommen ungeeignet – wie du sagst – bei der Premiere. Das ist definitiv nicht der Moment dafür. Die Kritik löst in so einem Moment nur Emotionen oder Abwehr aus. Du willst es nicht hören. Du willst auch nicht, dass nach dem Konzert einer zu dir kommt und sagt: ,Naja, also wenn ich jetzt ganz ehrlich bin…‘ Du hasst die Person dann dein Leben lang dafür.

ML: Eben, weil es steckt ja auch so viel Arbeit drinnen. Nach einer Lesung ist es nicht so schlimm. Es ist eher die Frage, wie weit ist man von der Publikation entfernt. Vor der Publikation ist Kritik großartig, direkt danach vielleicht nicht so gut. Umso mehr Zeit verstrichen ist, umso besser ist Kritik, weil man sie dann wieder einsetzen kann für die nächste Arbeit. Aber direkt nachdem ein Buch oder ein Text in einer Zeitung publiziert worden ist…

FH: Es ist natürlich auch wichtig, was man sagt. Wenn eine Professorin zu mir kommt und sagt ,Das ist ja eh ein ganz konsumierbarer Abend geworden‘, dann ist das das, was mich am meisten aufregt, was man über meine Arbeit sagen kann.

SM: (lacht) Ja, Zeitpunkt und Wortwahl sind es.

ML: Das hat auch damit zu tun, was wir vorhin schon besprochen haben – inwiefern sich jemand in etwas reingedacht hat und damit beschäftigt hat. Und wenn ich mir ein Stück genau angesehen habe und den Inhalt kenne, dann kann ich nicht so etwas sagen. Dann habe ich mich offensichtlich nicht besonders gut damit beschäftigt. Vielleicht auch weil es mich nicht interessiert hat… das kann schon sein.

Was würdet ihr euch für die Zukunft der Kritik wünschen – wenn wir wieder etwas mehr zurückgehen zum Anfang und zur klassischen (Kunst-)Kritik in der Zeitung etc.?

SM: Ich glaube, im Prinzip ist das Medium egal. – Egal ob das auf der Online-Plattform ist oder im gedruckten Medium – ich finde wichtig ist, dass es fundiert ist und man merkt, dass sich der Kritiker/die Kritikerin ausführlich mit der Materie befasst hat und dass es nicht so Fünfzeiler sind, die gerade noch irgendwo hineingepresst werden, sondern dass auf ein Kunstwerk, das mit sehr viel Mühe und sehr viel Einsatz und viel Elan präsentiert wird, mit einem Bruchteil dieser Aufmerksamkeit reagiert wird.

FH: Ich finde gut gemeinte und passiv-aggressive Inhaltsangaben gehören verboten. KritikerInnen sollen sich außerdem begeistern lassen, denn im Endeffekt ist das mitunter sehr schön, wenn sich die Begeisterung für das, was da rausgekommen ist, überträgt oder Begeisterung für das Medium… und sich die Leute damit auseinandersetzen und ins Theater gehen.

Kann Kunst auf Dauer ohne Kritik bestehen?

ML: Kritik ist Rezeption…

FH: Ja, das gehört dazu.

SM: Also darstellende Kunst sollte gar nicht ohne Kritik existieren… ohne Rezeption geht sie am Sinn vorbei. Weil du machst es nicht nur für dich selbst. Es muss ein Publikum da sein – und jeder ist ein Kritiker/eine Kritiker – eine/r schreibt dann vielleicht darüber.

FH: Stimmt, das wünsche ich mir tatsächlich. Das ist am Theater oft problematisch. „NormalzuschauerInnen“, die sich etwas ansehen, fühlen sich oft nicht befähigt, sich kritisch zu äußern. Weil sie sich nicht auskennen oder sich nicht intensiv damit beschäftigt haben. Das find ich total schade, weil du hast ja als ZuschauerIn genau den gleichen Eindruck und du musst nichts darüber wissen – du hast einfach das erlebt, was du erlebt hast, und das kannst du teilen, wie du möchtest.

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