Als Bob Dylan im Jahr 1960 Woody Guthries Autobiografie Bound for Glory, die nicht nur die Situation in den USA zur Zeit der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre abbildete, sondern den amerikanischen Mythos von Selbstbestimmung und Freiheit revitalisierte1, las, befand sich die Singer-Songwriter- und Folkmusikszene noch fern von den heimischen Gefilden des Wiener Umlands. Man könnte meinen, Österreich wäre durch Bill Haleys erstes Wien-Konzert im Oktober 1958 wenigstens vom Rock ’n’ Roll geküsst worden, doch rückwirkend betrachtet kann die österreichische Version dieser Musikrichtung als Genre der vergebenen Chancen von Rebellion und Aufbegehren subsumiert werden. Entwicklungen der internationalen Rock- und Popmusik, die Möglichkeiten zur kreativen Verarbeitung von Protest und Widerstand boten, erfuhren in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren kaum Aufmerksamkeit in den österreichischen Medien und wären ohnehin vonseiten der kommerziellen Musikindustrie ignoriert worden.

Zurück zu Bob Dylan und Woody Guthrie, deren musikalisches und aktivistisches Schaffen spätestens bei der Gründung des Golden Gate Clubs im September 1968 sowie in seiner Fortführung als Folk-Club Atlantis, ein Zentrum der Wiener Musikszene in den 1970er-Jahren, auch in Österreich Gehör fand. Guthrie, dessen Folksongs aus der unmittelbaren Gegenwart hinauswiesen2, habe nach Court Carney dem Musiker Bob Dylan „eine Maske, die er tragen konnte, etwas, an das er sich halten konnte“3, also eine Art musikalische Identität, gegeben. Politische Themen wie die Werte der Arbeiter_innenklasse, die Arbeitsmigration aus dem mittleren Westen und der Dust Bowl werden in Guthries Werken verhandelt4, Aspekte, die auch Dylans Arbeiten beeinflussten und den Protesten der Arbeiter_innen ein Sprachrohr boten. Die Ziele der Arbeiter_innenbewegung wurden in Form von vertonter Lyrik, bei Versammlungen, Gewerkschafts- oder Parteitreffen, öffentlichen Auftritten, aber auch bei Streiks, Aufmärschen und Demonstrationen musikalisch-literarisch dargeboten. „Nach außen waren die Lieder ein Bekenntnis, sie propagierten die Ideen der Arbeiter_innenbewegung, in ihnen wurden grundsätzliches Wissen, Moral, Wertvorstellungen ausgedrückt. Sie dienten der Agitation und Ermutigung von Arbeiter_innen, für die Durchsetzung der sozialen Interessen der eigenen Klasse einzutreten, waren auch ein Stück Selbststärkung.“5 Das gemeinsam gesungene Arbeiter_innenlied reflektiert die soziale Lage, politischen Missstand sowie angestrebte Ziele und ermöglicht gleichzeitig ein kollektives Erleben und das Gefühl von Solidarität. Diese Schlagworte können auf die Auswirkungen des im kollektiven Gedächtnis verankerten „March on Washington for Jobs and Freedom“, der am 28. August 1963 stattfand, geltend gemacht werden. Neben Dr. Martin Luther Kings historischer Rede I Have a Dream vor dem Lincoln Memorial, sind es primär von Joan Baez gesungene Lieder wie We Shall Overcome, Oh, Freedom oder Dylans Blowin’ in the Wind, die den Zielen des Marsches, nämlich für die bürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte der Afroamerikaner_innen einzutreten und der Rassendiskriminierung ein Ende zu setzen, Auftrieb verliehen.

Songs, die in der Verknüpfung mit sozialen, kulturellen und historischen Aspekten den Status des Protestsongs erlangt oder sich vom Arbeiter_innenlied zu diesem gewandelt hatten, dominierten auch das Geschehen im Folk-Club Atlantis, der sich im Wien der frühen 1970er-Jahre in jener Szene, die sich dem Mainstream des deutschen Schlagers und des kommerziellen Rocks entziehen wollte, großer Beliebtheit erfreute. Im Atlantis traf der Geist des US-amerikanisch geprägten Protestsongs auf den Esprit der kritischen Liedermacher_innen im Sinne von Hanns Eisler und Bertolt Brecht. Eislers Erwartungshaltung an die Musik entspricht folgendem Auftrag an diese: „Statt auszugehen auf psychische Betäubung des Zuhörers, auf die Erzeugung anarchischer Erregungszustände, muss die Musik an der Aufhellung des Bewusstseins der fortgeschrittensten Klasse, der Arbeiterklasse, arbeiten und versuchen, das praktische Verhalten der Zuhörer zu beeinflussen.“6 Dieses Verständnis der politischen Funktion von Musik prägte die Sujets und Themen der im Jahr 1969 gegründeten Gruppe Schmetterlinge. Das Musikprojekt rund um Willi Resetarits, Erich Meixner und ab 1976 Beatrix Neundlinger verknüpfte kritisch-politische Texte, die größtenteils von Heinz Rudolf Unger verfasst wurden, mit Melodien beeinflusst von Akteuer_innen der Folkmusic-Szene wie Dylan oder Baez, Rocksounds sowie traditionellem Liedgut. Diese stilistische Vielfalt mit politischem Anspruch wird vor allem in der sogenannten Proletenpassion, einem szenischen Oratorium, tragend. In Zusammenarbeit mit dem Literaten Unger, Studierenden, Historiker_innen und Interessierten entstand ein Werk, das Herrschaftsstrukturen und soziale Themen der europäischen Neuzeit zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, getragen durch verschiedene musikalische und literarische Stilelemente, thematisierte und somit der „Geschichte der Herrschenden“, respektive der „herrschenden Geschichtsschreibung“ die „Geschichte der Beherrschten“ gegenüberstellte. Besonders im Ohr verweilt vermutlich das finale Lied des Epilogs, wegweisend für die Zukunft des Protestsongs, Wir lernen im Vorwärtsgehen, das im ständigen Repertoire der Schmetterlinge bleiben sollte. Das Oratorium wurde bei den Wiener Festwochen 1976, in der Veranstaltungsschiene „Arena“, als Vereinigung von Theaterstück und Konzert uraufgeführt und war ausschlaggebend für die Besetzung des Auslandsschlachthofs im Sommer desselben Jahres.

Gegenwärtig findet der Protestsong regelmäßig Einzug in das kulturelle Geschehen und seine musikalischen Kontexte. Klammern wir die Inhalte und Themen von Genres wie Punk oder Hip-Hop aus Platzgründen aus und konzentrieren uns auf zwei konkrete Beispiele aus der Wiener Szene. So ist neben der Wiederaufnahme einer überarbeiteten Fassung des vorgestellten Oratoriums unter dem Titel Proletenpassion 2015 ff im Werk X, für das Heinz Rudolf Unger für das 21. Jahrhundert relevante Texte ergänzte und Eva Jantschitsch, die unter dem Namen Gustav aktiv ist, die Musik neu arrangierte, vor allem der Protestsongcontest erwähnenswert. In seiner Selbstdefinition als kritische Musikveranstaltung angelegt, die eine Plattform für den zeitgenössischen Protestsong bieten soll, wurde der Protestsongcontest erstmals am 12. Februar 2004 anlässlich des 70. Jahrestages des Februaraufstands im Wiener Rabenhoftheater ausgetragen. Die Themen der Songs beschäftigen sich vorwiegend mit gegenwärtigen, (global)politischen und gesellschaftlichen Fragen, die stilistische Ausrichtung der Performer_innen ist vielfältig. So löste der erstplatzierte Act Rammelhof mit dem Rocksong Wladimir (Put Put Putin) im Jahr 2015 innerhalb weniger Tage vor allem in der Ukraine einen Youtube-Hype aus, 2023 gewann die aus der Ukraine stammende Musikerin KüR mit dem bilingualen Titel Ljudi (Menschen), klassisch in der Singer-Songwriter_innen-Tradition mit Gitarrenbegleitung, den Wettbewerb.

  1. Vgl. Donald Brown: Bob Dylan. American Troubadour. Rowman & Littlefield, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Plymouth 2014, S. 47.
  2. Vgl. ebenda.
  3. „Woody gave Dylan an identity, a mask to wear, something to hang onto.“ Court Carney: „With Electric Breath“: Bob Dylan and the Reimagining of Woody Guthrie. In: Woody Guthrie Annual 4/2018, S. 24. Übersetzung der Autorin.
  4. Vgl. Simon Frith: The sociology of rock. Constable, London 1978, S. 185.
  5. Scherer, Klaus-Jürgen: „Das Arbeiterlied als politisches Lied“. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2013, S. 89–90.
  6. Hanns Eisler: „Gesellschaftliche Umfunktionierung der Musik“. In: Materialien zu einer Dialektik der Musik. Hrsg. Hanns Eisler und Manfred Grabs. Reclam, Leipzig, 1976, S. 125.
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