„Für das Tanzen auf der Straße, wegen der Angst sich zu küssen, für den Wandel alter Werte, wegen der Scham, wegen der Armut, wegen der Sehnsucht nach einem normalen Leben.“

Für oder wegen der hier aufgezählten Gründe gehen die Menschen im Iran seit September 2022 immer wieder auf die Straße. Die Protestwelle wurde ausgelöst durch den Tod der 22-jährigen kurdischen Iranerin Jina Mahsa Amini, die aufgrund ihrer „nicht korrekten“ islamischen Bekleidung inhaftiert und gefoltert wurde und an den Folgen der Folter starb. Seitdem gehen Abertausende Iraner_innen innerhalb und außerhalb des Landes gegen die repressive iranische Regierung auf die Straßen und fordern einen Regimewechsel.

Der Song Baraye (im Persischen „Für“ oder „Wegen“) des 25-jährigen iranischen Sängers Shervin Hajipour wurde über Nacht zur Hymne der aktuellen Protestbewegung im Iran. Der Song ist eine Textcollage von Tweets der Protestierenden, die auf Twitter kundgaben, weshalb sie auf die Straßen gehen. Im Februar 2023 wurde dieser Song mit dem internationalen Grammy-Award in der Kategorie „Bester Song für sozialen Wandel“ ausgezeichnet.

Um die zentrale Rolle dieses Songs und der Musik im Allgemeinen bei den aktuellen Protesten im Iran zu verstehen, muss man die historische und politische Entwicklung berücksichtigen. Seit der Islamisierung des Iran im 6. Jahrhundert war das Verhältnis zur Musik stets angespannt und starken Restriktionen unterworfen. Musik galt als „diabolisch“ und „verführerisch“, weil sie „wie eine Droge die Sinne trüben“ soll.

Zu Beginn der islamischen Revolution 1979 wurden Restriktionen ausgeweitet zu einem Verbot jeglicher Musikausübung durch eine Fatwa (ein religiöses Rechtsurteil) des Obersten Führers Ayatollah Khomeini. Neben den allgemein bekannten Kleidervorschriften für Frauen und Männer war dies eine der ersten Amtshandlungen des Großayatollahs. Mit verheerenden Folgen für die Kulturlandschaft, besonders für die Musiker_innen im Land: Private und staatliche Musikschulen und -universitäten wurden geschlossen, Konzertsäle, Clubs und Bars wurden verriegelt, Ensemble und Orchester aufgelöst, Radiosender mussten ihre Musikprogramme einstellen, Musiker_innen, insbesondere der populären Musikszene, durften nicht mehr arbeiten, viele flohen ins Exil. Selbst das Mitführen von Instrumenten in der Öffentlichkeit stand nun unter Strafe.

Im September 1980, also im Folgejahr der Revolution, begann der Erste Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak. Nun wurden Kriegs- und Revolutionslieder legitimiert. Musik wurde benutzt, um die Gesellschaft für das gemeinsame Ziel, den Sieg des Iran, zu einen und zu mobilisieren. Acht Jahre später war das Land zerstört, rund eine Million Iraner_innen hatten im Ersten Golfkrieg ihr Leben verloren. Die Stimmung im Land war aufs Äußerste gedrückt. Die Regierung sah sich erneut genötigt, Musik zu benutzen, um die Stimmung im Land zu heben. Im Iran entstand eine neue Musikindustrie, die sich zunächst auf traditionelle persische Musik, wie beispielsweise die Musik von Mohammad Reza Shajarians, fokussierte. Gleichzeitig tauchten auf dem illegalen iranischen Markt Alben aus dem Ausland auf, vor allem aus Los Angeles, mit Musik prominenter iranischer Stars im Exil wie Ebi, Dariush oder Homeyra. Die Regierung stellte das Hören dieser Musik unter Strafe. Die Kontrolle wurde allerdings durch die Möglichkeit digitaler Vervielfältigung und später der Nutzung von Streamingdiensten erschwert. Um die Inhalte der Musik zu steuern, sah sich die Regierung erneut dazu genötigt – zwar unter scharfen und detaillierten Maßnahmen – die Musikproduktion und -rezeption im Land zu erlauben. Dies war auch die Geburtsstunde einer neuen Musikindustrie im Iran. Sie produzierte zahlreiche erfolgreiche Bands wie z. B. Arian (eine 15-köpfige Pop-Rock-Band), die bald begeisterte Anhänger_innen und Zuhörer_innen fand, auch im Ausland unter Mitgliedern der iranischen Diaspora.

Die Musikproduktion, die Veröffentlichung und Aufführung unterliegen im Iran strengen und scharf kontrollierten Vorgaben: Vor jedem Konzert, vor jeder Veröffentlichung eines Albums müssen sämtliche Inhalte (Texte, Musik, beteiligte Personen, Bilder, Cover etc.) von der Zensurbehörde geprüft und genehmigt werden, sie dürfen keinerlei regimekritische, politische oder erotische Andeutungen enthalten. In Pop- oder Rock-Konzerten sitzen „Aufsichts-Personen“ im Publikum, die mit scharfem Blick darüber wachen, dass Musiker_innen und Publikum sich nicht rhythmisch zur Musik bewegen oder gar tanzen. Falls doch, werden Zuschauer_innen im Publikum mit einem Laserpunkt angestrahlt, verwarnt oder „hinausbegleitet“. Künstler_innen, die sich auf der Bühne „unsittlich“ verhalten, werden bis hin zum Berufsverbot bestraft.

Jegliche Beschäftigung mit Musik, insbesondere mit der als „heiter“ bezeichneten populären Musik, gilt im Iran seit der islamischen Revolution also als Ausdruck von Protest. Musizieren auf den Straßen, Musikhören im Auto sowie das Mitführen eines Instruments können deshalb als Zeichen des Widerstands und der Rebellion betrachtet werden. Die Bemühungen der Regierung, die Ausübung von Musik in Konzerten oder anderen Formen der Veröffentlichung zu erschweren, waren und sind jedoch zum Scheitern verurteilt. Denn gerade für Künstler_innen unter repressiven und autoritären Strukturen ist der Wunsch nach künstlerischem Ausdruck Ansporn, kreative Lösungen zu finden. So werden Anspielungen auf die „verbotenen“ Themen in Texten oft codiert. Ist von „Dunkelheit“ oder „Winter“ wie in dem Song Dream Away With Me von Pallett die Rede, ist damit die regressive Regierung gemeint. Der „Sonnenaufgang“ steht für einen Regimewechsel. Auch in Liebesliedern (die nicht als solche bezeichnet werden dürfen) gibt es diese Anspielungen: eine „gemeinsame Reise“ meint nicht selten ein Liebesspiel oder „der Mond, der sich auf dem Teich spiegelt“ die körperliche Nähe zwischen Mann und Frau. Ein so offensichtlich systemkritischer Song wie Baraye, der als Übermittler der protestierenden Stimmen aus dem Iran über Nacht viral und mittlerweile international verbreitet wurde, ist so gesehen ein harter Schlag ins Gesicht des iranischen Regimes.

Seit September 2022 sind zahlreiche Protestsongs wie beispielsweise Zan Zendegi Azadi von Magdal produziert worden. Musiker_innen, ob im Land oder im Exil, drücken darin ihre Wut, ihre Trauer, ihr Mitgefühl und ihre Solidarität mit den Opfern aus, sie gedenken der Verstorbenen oder rufen auf zum Aufstand, sie fordern ihre Rechte ein oder machen den Protestierenden Mut.

Dazu gehört viel Courage, doch daran mangelt es den jungen Iraner_innen nicht, wie man an den Bildern der jüngsten Proteste sieht. Sorgen sich Musiker_innen hierzulande über schlechte Kritiken oder geringe Verkaufszahlen von Konzerttickets oder Alben, müssen die Kolleg_innen im Iran mit jeder Veröffentlichung ihrer Musik um ihre berufliche Existenz, ihre Freiheit und manchmal sogar um ihr Leben und das ihrer Angehörigen bangen. So wurde der junge iranische Rapper Toomaj unter anderem wegen seines Songs Faal und aufgrund seiner systemkritischen Texte inhaftiert und zum Tode verurteilt. Im Gefängnis ist er durch die Misshandlungen und Foltermethoden, für die die iranischen Gefängnisse berüchtigt sind, bereits auf einem Auge fast erblindet. Zahlreiche weitere Künstler_innen, Journalist_innen, aber auch Ärzt_innen, Anwält_innen und viele derer, die ihre Stimme erhoben haben und ihre Kritik am Regime zum Ausdruck brachten, befinden sich momentan in Haft.

Doch die Proteste im Iran gehen weiter, unterstützt von Musik, die motiviert, anspornt und tröstet. Auch wenn nicht mehr viel darüber berichtet wird und die Bilder von den Straßen im Iran durch andere Nachrichten aus unserer Wahrnehmung verdrängt wurden, wir – außerhalb des Iran – müssen uns weiter fragen, was wir tun können, um uns mit den Menschen dort zu solidarisieren und sie in ihrem Kampf zu unterstützen. Das iranische Regime ist eine Bedrohung. Nicht nur für die Menschen im Iran, sondern für die gesamte Weltgemeinschaft. Den Menschen im Iran unser Gehör und eine Stimme zu schenken bedeutet also auch, unsere eigenen harterkämpften europäischen Werte wie Frieden, Freiheit und Demokratie zu verteidigen.

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