Die Wohnung von Frau Herta grenzte direkt an unsere. Sie lag in einem Mietshaus, das – wie die meisten seiner Bewohner_innen – etwas in die Jahre gekommen war. Wir waren die einzigen Kinder im Haus und dementsprechend unbeliebt bei den meisten Nachbarn, die ihre verdiente Pension in Ruhe verbringen wollten. Eine Ausnahme war jedoch Frau Herta, 69, dunkelrote Haare mit lila Strähnen, alleinstehend, jedoch nicht allein lebend. Ihre Mutter, die zu diesem Zeitpunkt schon Anfang 90 war, wohnte bei ihr. Sie war schon an Demenz erkrankt, als wir sie kennenlernten. Eine Frau mit hellen, aufgeweckten Augen, immer ganz in schwarz gekleidet mit einem goldenen Kreuz um den Hals. Die meisten im Haus fürchteten sich vor der alten Dame, doch wir Kinder mochten sie.

Frau Herta lud uns oft zu sich ein. Es gab heißen Kakao und Kekse, die schon etwas hart waren, aus einer silbernen Dose. Dann setzten wir uns in das kleine Wohnzimmer, in dem ihre Mutter immer am selben Platz auf dem Sofa thronte, und Frau Herta spielte für uns alle Klavier. Immer dasselbe Stück, weil es das Lieblingsstück ihrer Mutter war. Für Elise von Beethoven. Immer und immer wieder.

Das Ende verlor sich im Anfang, die Töne flossen ineinander und so verging auch die Zeit in dem kleinen Zimmer mit den dicken Samtvorhängen, die alles, was draußen vor sich ging, abhielten. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Wind, Schnee und auch das Tauwetter im Frühling. Als gäbe es die Jahreszeiten nicht mehr um uns herum, als wäre die Gegenwart stehen geblieben und die Erinnerung an die Vergangenheit nicht mehr existent. Sobald sich Frau Herta an ihr Klavier setzte, gab es nur noch das Hier und Jetzt, und wenn die Eltern klopften, um uns abzuholen, konnten wir nicht sagen, wie lange wir geblieben waren.

Nachdem ihre Mutter gestorben war, sollte sie auch nicht mehr lange leben. Wir besuchten sie noch ein paar Mal. Und immer spielte sie Klavier für uns. Aber niemals wieder Für Elise. Das hatte sie mit ihrer Mutter begraben.

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