Mediamorphosenforschung

 

Kurt Blaukopf und Alfred Smudits beschäftigen sich gegen Ende der 1980er Jahre im Internationalen Forschungsinstitut MediaCult intensiv mit der Frage, wie sich neue Technologien auf das Kulturschaffen und auf die Situation der Kulturschaffenden auswirken. Blaukopf etabliert dann die Mediamorphosenforschung für die Musiksoziologie in einem Aufsatz für die IRASM (Blaukopf 1989a) und mit seiner Monographie „Beethovens Erben in der Mediamorphose“ (Blaukopf 1989b). Darin beschreibt er auch die Genese dieser Idee, beginnend bei Heinrich Besseler in den 1920er und Walter Benjamin in den 1930er Jahren, über Antoine Hennion bzw. Roger Wallis & Krister Malm bis eben zu dem von ihm geprägten Begriff, der besonders auf „die qualitative Veränderung der musikalischen Mitteilung durch die spezifischen Mechanismen der Musikaufnahme, Musikübertragung und Musikwiedergabe“ (ibid: 5) fokussiert. Es geht hier also nicht so sehr darum, dass Musik mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationstechnologien weiter und schneller verbreitet werden kann, als zu Zeiten, als dafür zeitliche und räumliche Kopräsenz notwendig waren. Blaukopf interessiert vor allem, inwiefern sich die Erscheinungsweise / der Charakter der Musik eben dadurch ändert, dass sie mit neuen Medien produziert und verbreitet werden kann. Über diese medieninduzierte Metamorphose der Musik kommt er zu dem Begriff „Mediamorphose“. Grundsätzlich ist Blaukopfs Perspektive nicht auf den Musikbereich beschränkt. Es ist eigentlich ein mediensoziologischer Ansatz, der dementsprechend zuerst in einer kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschrift skizziert wird (Blaukopf 1985). Alfred Smudits stellt in der Folge theoretische Überlegungen zu allen Kunstgattungen an, Kurt Blaukopf hingegen interessiert nun zuerst einmal, welche neuen Rahmenbedingungen sich aus der Mediamorphose für die Musikschaffenden – vor allem für die Komponist*innen ergeben. Er beschreibt die globalisierte, medial dargebotene Popularmusik bedingt durch ihre leichte Rezipierbarkeit als dominierendes Angebot für Musikinteressierte, was die lebendig dargebotene Kunstmusik in eine Nische gedrängt habe. Als einen möglichen Ausweg nennt er das Komponieren für Film und Fernsehen. Zudem empfiehlt er, die medien-induzierte „soziale Banalisierung der Musik, ihre Verwandlung in eine Nicht-Ereignis“ (Blaukopf 1989: 159) mit der positiven Aura lebendiger Darbietung zu konterkarieren. Und nicht zuletzt sieht er die Kulturpolitik gefordert, durch Umverteilung und verlässliche Abgeltung von Werknutzungsrechten die Existenz und das Schaffen zeitgenössischer Komponist*innen zu sichern.

Diese Problemlagen sind Ende der 1980er Jahre nicht neu, entsprechende Fragestellungen haben Kurt Blaukopf schon lange Zeit beschäftigt. Als Chefredakteur der Zeitschriften Phono (1954-1965) bzw. HiFi-Stereophonie (1965-1983) ist er mit dem Massenmedium Schallplatte bestens vertraut, bereits Ende der 1960er Jahre hat er in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie „die qualitative Veränderung musikalischer Mitteilung in den technischen Medien der Massenkommunikation“ thematisiert (Blaukopf 1969). Gleichsam eine Reaktualisierung dazu erfolgt dann in der Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Alphons Silbermann (Blaukopf 1989c). Auch im Rahmen verschiedener Funktionen für Unesco, Europarat und die österreichische Bundesregierung erfolgen immer wieder einschlägige Publikationen von Blaukopf und Mitarbeiter*innen, in denen der Einfluss der elektronischen Medien auf die musikalische Praxis (vor allem der Jugend) thematisiert wird (Blaukopf 1971, 1983, 1990; Bontinck 1985, 1986, 1987, 1990, 1993a, 1993b; Mark 1981, 1986, 1989). Hier spiegelt sich Blaukopfs Credo wider, dass Ergebnisse musiksoziologischer Forschung als mögliche Handlungsanweisungen für Kultur- und Bildungspolitik brauchbar sein sollen (siehe auch Blaukopf 1988). Mitte der 1990er Jahre ist dann die Mediamorphosen-Forschung etabliert, und Blaukopf erweitert die Neuauflage seiner Grundzüge der Musiksoziologie u.a. um ein Mediamorphosen-Kapitel, in dem er deren typische Merkmale beschreibt (Blaukopf 1996).

Gleichzeitig entwickelt Alfred Smudits das Konzept theoretisch weiter (Smudits 2000), kulminierend in seiner Habilitationsschrift (Smudits 2002). Anschließend an Ideen der Frankfurter Schule begreift er die Kommunikationstechnologien als Produktivkräfte des Kulturschaffens, die den Fortschritt der Kunst vorantreiben und die Rolle von Kunst in der Gesellschaft mitbestimmen. Die gesellschaftliche Etablierung neuer Produktivkräfte zeige sich dann in der Institutionalisierung entsprechender, darauf ausgerichteter ökonomischer, politischer, rechtlicher, sozialer und kultureller Rahmenbedingungen. Diese Prozesse erfolgen jedoch nicht sprunghaft, die neuen Kommunikationstechnologien transportieren zuerst noch die alten Inhalte. Mit fortschreitender Mediamorphose etablieren sich dann zusehends adäquatere Formen und Inhalte, was in einem dialektischen Verhältnis zur Transformation von Entstehungs-, Verbreitungs- und Rezeptionsweisen führt. „Mediamorphosen sind sowohl Funktionen als auch Initiatoren gesamtgesellschaftlicher Veränderungen“ (ibid: 46). Vor diesem Modell zeichnet Smudits in fünf historischen Mediamorphosen die Entwicklung des Kulturschaffens unter dem Einfluss jeweils neuer Kommunikationstechnologien nach, von der Erfindung der Schrift bis zur gegenwärtigen Digitalisierung.

Smudits selbst und der nachfolgenden Forschungsgeneration dient von da weg der Mediamorphosen-Ansatz als Folie für Studien zur musikalischen Praxis vor dem Hintergrund sich verändernder Produktionsbedingungen (Huber 2008, 2018; Reitsamer 2011, 2014, 2016, 2021; Smudits 2003, 2006a, 2006b, 2007, 2008).

 

Literatur

Blaukopf, Kurt (1969): »Die qualitative Veränderung musikalischer Mitteilung in den technischen Medien der Massenkommunikation«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 21 (1969), S. 510-516.

Blaukopf, Kurt (1971): »Space in Electronic Music«. In: Music and Technology. Papers and reports of a meeting organized by UNESCO. Paris: Unesco/La Revue Musicale 1971, S. 157-171.

Blaukopf, Kurt (1983): The Role of Mass Communication Media for the Promotion of the Arts and the Status of the Artist. Im Auftrag der Unesco, Wien.

Blaukopf, Kurt (1985): »Cultural Mutation brought on by New Technologies«. In: Communictions 11, S. 37-49.

Blaukopf, Kurt (1988): »Nachhinken oder Vorausplanen? Die Hochschule in der technischen Umwälzung musikalischer Kommunikation«. In: ÖMZ 43/2-3, S. 101-105.

Blaukopf, Kurt (1989a): »Westernisation, Modernisation and the Mediamorphosis of Music«. In: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 20, S. 183-192.

Blaukopf, Kurt (1989b): Beethovens Erben in der Mediamorphose. Kultur- und Medienpolitik für die elektronische Ära, Heiden 1989.

Blaukopf, Kurt (1989c): »Mensch und Bildschirm – Eine Lücke in der Wirkungsforschung«, in: Walter Nutz (Hg.), Kunst – Kultur – Kommunikation. Festschrift zum 80. Geburtstag von Alphons Silbermann. Frankfurt: Peter Lang, S. 75-83.

Blaukopf, Kur (1990): »Cultural Policy and Communication Technologies. Thirteen Areas of Research and Action (Part 2 of: The Role of Communication Technologies in the Safeguarding and Enhancing of European Unity and Cultural Diversity)«, Council of Europe Document COM 90/1b, Strasbourgh.

Blaukopf, Kurt (1996): »Die Mediamorphose der Musik als globales Phänomen«, in: ders.: Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musikoziologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft: Darmstadt, S. 270-298.

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Bontinck, Irmgard (Hg.) (1990): Die Industrialisierung der kulturellen Kommunikation: ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Konsequenzen; Projekt 3345. MEDIACULT: Wien.

Bontinck, Irmgard (1993a): »Possible Policy Implications of the Mediatisation of Musical Creation and Production«. In: Heath Lees (ed.): Music Education: Sharing Musics of the World. Proceedings of the 20th World Conference of the International Society for Music Education held in Seoul. Korea 1992. Auckland

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Reitsamer, Rosa (2016): »Die Praxis des Techno. Zur theoretischen und methodischen Erfassung elektronischer Musikszenen«, in: Kim Feser / Mathias Pasdzierny (Hg.): Techno Studies. Berlin: b-books, S.29-42.

Reitsamer, Rosa (2021): »Youth and DIY Music- and Media Making«. In: Andy Bennett (ed.): Bloomsbury Handbook of Popular Music and Youth Culture. London: Bloomsbury. (im Erscheinen)

Reitsamer, Rosa / Zobl, Elke (2014): »Alternative Media Production, Feminism, and Citizenship Practices«. In: Megan Boler / Matt Ratto (Hg.): DIY Citizenship: Critical Making and Social Media. Cambridge Mass.: MIT Press, S. 329-342

Smudits, Alfred (2000): »Medientheorie. Mediamorphosen des Kulturschaffens und der kulturellen Kommunikation. Ein forschungspolitisches Konzept«, in: mediacult.doc 03, S.23-35.

Smudits, Alfred: Mediamorphosen des Kulturschaffens. Kunst und Kommunikationstechnologien im Wandel. Wien: Braumüller. 2002.

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Smudits, Alfred (2008): »Soziologie der Musikproduktion«, in: Gerhard Gensch/ Eva Maria Stöckler / Peter Tschmuck (Hg.): Musikrezeption, Musikdistribution und Musikproduktion. Der Wandel des Wertschöpfungsnetzwerks in der Musikwirtschaft. Wiesbaden: Gabler, S. 241-265.