Carolin Ratzinger, Nikolaus Urbanek, Sophie Zehetmayer (Hg.): Musik und Schrift. Interdisziplinäre Perspektiven auf musikalische Notationen, Wilhelm Fink, 2020 (Theorie der musikalischen Schrift 1)
© Wilhelm Fink Verlag

Über Schrift zu schreiben, ist ein Paradoxon – bedient man sich doch desjenigen Werkzeugs zur Artikulation, dessen Beschreibung erreicht werden soll. Über musikalische Schrift zu schreiben, ist ein umso größeres – ist man doch gezwungen, ein musikbezogenes Phänomen mit den Mitteln sprachschriftlicher Kommunikation zu verhandeln. In vollem Bewusstsein der Unauflösbarkeit dieser Tatsache, hat sich das internationale D-A-CH-Projekt Writing Music. Iconic, performative, operative and material aspects in musical notation(s) nichts Geringeres zum Ziel gesetzt, als eine (schrift-)theoretische Fundierung für das Sprechen, Schreiben und Denken über musikalische Notationen zu entwickeln. In der doppelten Zielsetzung sowohl einer reflektierten „musikwissenschaftlichen Theoriebildung“ als auch Einbettung in den „aktuellen Diskurs über den transdisziplinären Gegenstand Schrift“ (S. VII) verspricht dies eine längst überfällige terminologische Problematisierung sowie eine Adressierung teilweise jahrelanger Forschungsdesiderata (so kennt z. B. das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie keinen Eintrag zu musikalischer Schrift, Notation oder nota; zugleich verwirrt bis heute die alltags- wie auch fachsprachlich zu beobachtende, teils deckungsgleiche Begriffsverwendung von vermeintlich eindeutigen Termini wie Notation, Notationssystem, Notenschrift, Notentext oder Notenbild).

Der Anspruch des an der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Universität Innsbruck, der mdw sowie der Paul Sacher Stiftung Basel angesiedelten Projekts unter der Federführung von Federico Celestini, Matteo Nanni, Simon Obert und Nikolaus Urbanek geht dabei über eine rein lexikalisch-terminologische Bestimmung weit hinaus: So wartet der zum Jahresende 2019 erschienene erste Band der Reihe Theorie der musikalischen Schrift, der den eigenen Ansatz der musikschriftlichen Theoretisierung zwischen den konkreten Aspekten der Materialität, Operativität, Ikonizität und Performativität von Notation verortet (Celestini, Nanni, Obert, Urbanek), mit einer umfassenden Prospektion des Forschungsfelds auf. Zugleich wird ein ungemein breiter Blick auf den historischen und aktuellen Stand des Nachdenkens über musikalische Notationen eröffnet, wodurch die in den zehn weiteren Beiträgen versammelten „interdisziplinären Perspektiven“ auf das Thema „Musik und Schrift“ gleichsam vorbereitet werden. Als Autor_innen konnte das Herausgeber-Trio die Vortragenden und Podiumsdiskutant_innen einer entsprechenden Ringvorlesung im Wintersemester 2016/2017 an der mdw gewinnen: Protagonist_innen der aktuellen Schrift- und Schrift(bild)lichkeitsdebatten wie Jan Assmann, Birgit Mersmann und Sybille Krämer beleuchten das Thema aus einer horizonterweiternden kultur-, kunstwissenschaftlichen sowie schrifttheoretischen Außenansicht, Manfred Hermann Schmid und Christian Grüny bereichern diese aus musikhistorischer und -ästhetischer Perspektive, um das Potenzial der „Kulturtechnik“ Schrift auch in Bezug auf Musik deutlich zu machen. Die anschließenden historischen Einzelbetrachtungen zu sehr frühen Notationspraktiken des mitteleuropäischen, slawischen und byzantinischen Mittelalters (Max Haas†, dessen Andenken die Herausgeber_innen den Band widmen), zur Rolle der Notation für die musikalische Rätsel-Euphorie der Frühen Neuzeit (Katelijne Schiltz), zum Verhältnis von Partitur und Aufführung im 17. Jahrhundert (Silke Leopold) sowie in der Neuen Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Dörte Schmidt) werden durch das verdienstvolle, fast 40-seitige Transkript (Sophie Zehetmayer) einer Podiumsdiskussion zeitgenössischer Komponist_innen (Karlheinz Essl, Johannes Kreidler, Iris ter Schiphorst, Johannes Maria Staud) mit dem künstlerischen Leiter des Festivals Wien Modern Bernhard Günther abgerundet.

Wenn auch bestimmte musikschriftliche Aspekte in diesem ersten Band nur andeutungsweise Platz finden (so etwa die Rolle von Schrift im digitalen Zeitalter oder in außereuropäischen Kulturen), so wird doch die außerordentliche Funktion musikalischer Schrift für eine lateinisch-westliche Kompositionspraxis deutlich, deren Implikationen weit über das bloße Aufzeichnen von Klängen hinausweisen. Man darf auf weitere Bände mehr als nur gespannt sein.

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