Cony Lecaros nahm an dem Forschungsprojekt Reverse Ethnomusicology: Migrant Musicians as Researchers1 teil. Im mdw-Magazin erzählt sie von ihren Erfahrungen als Musikerin mit Migrationshintergrund und gibt Einblicke in ihre Arbeit als Musikerin-Forscherin.
Während meiner ersten Jahre in Wien wachte ich oftmals erschöpft auf und war körperlich nicht in der Lage, aufzustehen. Ein Teil von mir befürchtete, dass diese lähmende Mutlosigkeit niemals verschwinden würde. Ich war zunehmend frustriert und fragte mich, ob ich jemals wieder Freude am Musizieren finden würde. Ich hatte nicht erwartet, dass diese Erfahrung so fordernd sein würde: Die Anpassung an eine neue Kultur, eine neue Sprache und ein neues soziales Umfeld brachte mehr Dunkelheit als Licht. Manchmal fragte ich mich sogar, ob ich die Musik nicht ganz aufgeben sollte. Schlussendlich war ich nur dank der Hilfe meiner Freund_innen und meiner Familie sowie professioneller psychologischer Unterstützung in der Lage, die Herausforderungen meiner ersten Jahre in Österreich zu meistern.
Aufgrund meiner eigenen schwierigen Migrationserfahrung fragte ich mich, ob andere Student_innen mit Migrationshintergrund, insbesondere lateinamerikanische Musiker_innen, diesbezüglich ähnliche Erfahrungen gesammelt hatten. Obwohl jeder Lebensweg einzigartig ist, gestaltet sich der Prozess der Anpassung nur selten einfach. Zum Zeitpunkt, als bei mir diese Fragen aufkamen, entdeckte ich das Forschungsprojekt Reverse Ethnomusicology: Migrant Musicians as Researchers [Ethnomusikologie umgekehrt: Migrant*innen forschen]. Gemeinsam mit fünf anderen migrantischen Musiker_innen nahm ich an mehreren theoretischen und methodologischen Workshops teil, die auf die Entwicklung eines eigenen Forschungsprojekts ausgerichtet waren. Meine Forschungsfrage lautete schließlich: Wie wirkt sich Migration auf „el bienestar“ [meint im Spanischen die mentale, körperliche und soziale Gesundheit, Anm. d. Red.] lateinamerikanischer Musiker_innen in Österreich aus? Unter der Supervision eines Musikethnolog_innen-Teams interviewte ich sechs lateinamerikanischen Musiker_innen mit unterschiedlichen Nationalitäten sowie sozialen und musikalischen Hintergründen. Ihre Geschichten bestätigten meine Vermutungen: Unsere Erfahrungen wiesen gemeinsame Schwierigkeiten und Herausforderungen auf, die akademischer und institutioneller Aufmerksamkeit bedürfen. Einige wichtige Erkenntnisse dieses Forschungsprojekts möchte ich hier teilen.
Viele von uns kamen nicht nur nach Wien, um ihre musikalischen Fähigkeiten zu verfeinern, sondern auch wegen der berühmten Wiener Lebensqualität. Unsere ersten großen Herausforderungen waren jedoch die Sprache und die Mentalität. Selbst für diejenigen, die zuvor Deutsch gelernt hatten, erschwerten Dialekte und bürokratische Terminologie die Integration. Die administrativen Hürden (Visumsanträge, Immatrikulation an der Universität, Krankenversicherung) fühlten sich manchmal unüberwindbar an. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass diese Hürden mit mehr Empathie und gemeinschaftlicher Unterstützung innerhalb der Institutionen und der Gesellschaft als Ganzes abgebaut werden könnten. Neben Sprache und Bürokratie gab es für die meisten der befragten Musiker_innen auch akademische Herausforderungen. Die sozioökonomischen Unterschiede wurden hier deutlich sichtbar: Der Zugang zu hochwertigen Musikinstrumenten erfordert beträchtliche finanzielle Mittel, und es ist überaus fordernd, die oft prekäre Arbeit mit dem Studium zu vereinbaren – vor allem ohne staatliche Zuschüsse (Studienbeihilfe). Wie ein Befragter es ausdrückte: „Für uns ist der Aufwand dreimal so hoch wie für Österreicher_innen. Wir müssen buchstäblich unseren Schlaf opfern, wenn wir das Studium schaffen wollen.“ Darüber hinaus ist auch die Art und Weise anders, wie man uns in Chile das Lernen und Musizieren beigebracht hat. Professor_innen übersehen das jedoch oft und „gehen davon aus, dass man sich nicht genug anstrengt“, wie es ein Befragter ausdrückte. Damit tragen sie ungewollt zur Abgrenzung und Frustration der Studierenden bei. Trotz dieser vielen Schwierigkeiten bietet Österreich bemerkenswerte künstlerische Möglichkeiten: „Man kann praktisch jede Woche die Philharmoniker hören.“ Die schiere Menge an kulturellen Veranstaltungen ist inspirierend und bietet vor allem für Musiker_innen ein unvergleichliches Umfeld. „Hier sind die Menschen daran gewöhnt, zum Vergnügen ins Konzert zu gehen und auch dafür zu bezahlen. Das ist in Lateinamerika so nicht wirklich üblich.“ Ist die Sprachbarriere erstmal überwunden, lauert auch schon die nächste Herausforderung: der Konkurrenzkampf und das unerbittliche Streben nach Exzellenz im Wiener Musikausbildungssystem. Meiner Meinung nach sollte mit Musik weder Elitismus noch Rivalität befeuert werden. Die Betonung des individuellen Erfolgs gegenüber dem kollektiven Wachstum kann Stress auslösen, besonders bei Menschen, die aus Kulturen kommen, in denen Musik vorwiegend gemeinschaftlich praktiziert und erlebt wird. In Lateinamerika dient die Musik oft als sozialer Klebstoff, der die Menschen zusammenbringt, anstatt sie auseinanderzutreiben. Das steht oftmals in starkem Kontrast zum vorwiegend individualistischen Wiener Universitätsumfeld. Meine Forschung zeigt, dass diese Erfahrung erschütternd sein kann und die Anpassung für migrantische Studierende noch weiter erschwert.
Dieses Forschungsprojekt war für mich eine sehr persönliche Erfahrung. Es bestätigte, dass viele lateinamerikanische Musiker_innen in Wien mit sprachlichen und akademischen Problemen zu kämpfen haben. Der Schlüssel zum Erfolg war für viele Befragte „der Mut, Einheimische um Hilfe zu bitten und psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, wenn es schwierig wird“. Herausforderungen wird es immer geben, aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie durch die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls gemildert werden können. Der Handlungsaufruf ist einfach: EMPATHIE. Wir wissen nie, mit welchen Belastungen andere leben müssen, also müssen wir auf sie zugehen, Fragen stellen und Verständnis zeigen. Wenn wir in unserem Handwerk Spitzenleistungen anstreben, dann sollten wir auch in unserem sozialen Handeln nach Spitzenleistungen trachten – damit künftige Generationen von Musiker_innen nicht nur beruflich wachsen, sondern auch ein echtes Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können.