Der in Wien geborene Geiger und Komponist Fritz Kreisler (1875–1962) zählt zu den einflussreichsten Schallplattenkünstlern des 20. Jahrhunderts – in diesem Jahr feiern wir seinen 150. Geburtstag. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich mehrere Publikationen1 mit dem Aufführungsstil Kreislers und seiner Zeitgenoss_innen befasst, insbesondere mit dem kontinuierlichen Vibrato und dem ausdrucksvollen Portamento, die sich – zumindest teilweise – als Produkte des sogenannten „Phonographeneffekts“2 erwiesen haben. Obwohl Kreisler häufig für sein rhythmisches Feingefühl3 gelobt wurde und Wissenschaftler_innen sein Werk Liebesleid häufig als illustrierendes Beispiel heranzogen, wurde den rhythmischen Feinheiten seines Aufführungsstils bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil – insbesondere dem ungleichmäßig verteilten „Wiener Rhythmus“ in dieser walzerartigen Musik.

Was ist der „Wiener Rhythmus“ und warum ausgerechnet Liebesleid?

In unserer jüngsten Publikation4, die sich auf über 30 Aufnahmen von Johann Strauss Sohns An der schönen blauen Donau stützt, konnten wir ein wiederkehrendes rhythmisches Muster in den Einspielungen von Wiener Orchestern, insbesondere der Wiener Philharmoniker, demonstrieren: das Kurz–lang–mittel-Muster. Die Wahrscheinlichkeit des sogenannten „Wiener Rhythmus“, bei dem Schlag 2 länger als Schlag 3 und dieser wiederum länger als Schlag 1 ist (B2 > B3 > B1), ist in den Aufnahmen der Wiener Philharmoniker mit 39% deutlich höher als in jenen anderer Orchester (18%). Zufälligerweise ist Liebesleid (eines von Kreislers meistgespielten und meistaufgenommenen Stücken) mit der Tempobezeichnung „Ländler“ – einem langsameren Vorläufer des Wiener Walzers5 – der zentrale Satz seiner Alt-Wiener Tanzweisen und stellt somit einen idealen Forschungsgegenstand dar.

Gemessene Taktproportionen in Kreislers eigenen Aufnahmen

Für diese Studie analysierten wir alle von Kreislers selbst gespielten Aufnahmen seines Liebesleid, indem wir alle (Viertel-)Notenbeginnzeiten der ersten Phrase mit dem Online-Analysetool Vmus.net extrahierten. Dabei stellten wir fest, dass sich die durchschnittlichen Proportionen der Notendauern in drei Gruppen einteilen lassen:

  1. Stark ungleichmäßig (HU, 1:1,44:1,22) – Aufnahmen aus den Jahren 1930 und 1938 mit Franz Rupp als Pianisten.
  2. Mäßig ungleichmäßig (MU, 1:1,28:1,16) – Aufnahmen Take 6 und 7 von 1926 mit Carl Lamson.
  3. Nahezu gleichmäßig (NE, 1:1,05:1,08) – Aufnahmen aus den Jahren 1910 und 1912 mit George Falkenstein, 1911 mit Haddon Squire sowie 1942 mit Dirigent Charles O’Connell.

Auf den ersten Blick erscheinen diese Ergebnisse widersprüchlich. Die Gruppen 1 und 2 entsprechen dem „Wiener Rhythmus“ mehr oder weniger, während Gruppe 3 davon völlig abweicht. Da das rhythmische Muster größtenteils durch die Akkorde in der Klavierbegleitung bestimmt wird, bleibt unklar, ob Kreisler selbst tatsächlich beabsichtigte, diesen „Swing-Effekt“ zu erzeugen. Glücklicherweise war Kreisler auch ein hervorragender Pianist und wurde dafür sogar von Ignacy Paderewski gelobt: „Ich müsste verhungern, wenn Fritz das Klavier zu seinem Beruf gemacht hätte.“6 Es existiert glücklicherweise eine Aufnahme vom Liebesleid aus dem Jahr 1921, in der Fritz Kreisler am Klavier seinen Bruder Hugo am Cello begleitet (siehe Abbildung 1). Die Taktproportionen der ersten Phrase betragen dort 1:1,42:1,30, was der Gruppe 1 (HU) sehr nahekommt und stark darauf hindeutet, dass Kreisler selbst eine sehr starke Ausprägung des „Wiener Rhythmus“ bevorzugte.

Abbildung 1: Kreisler begleitet seinen Bruder Hugo Kreisler am Klavier, Entnommen von: https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Kreisler#/media/ Datei:Br%C3%BCder_Kreisler.jpg © editionsilvertrust.com, Public domain, via Wikimedia Commons / AI enhanced version with InsMind.com
„Wiener Rhythmus“ als kulturelle und/oder historische Praxis

Diese ersten Ergebnisse deuten außerdem darauf hin, dass die Ausprägung des „Wiener Rhythmus“ in den verschiedenen Phasen von Kreislers Karriere offenbar stark von den jeweiligen Mitwirkenden und deren kulturellem Hintergrund beeinflusst wurde. Um dieses Phänomen weiter zu untersuchen, verglichen wir zusätzliche Aufführungen aus den zehn meistgesehenen Aufnahmen auf YouTube mit den zehn am häufigsten gesammelten Alben auf Discogs. Nachdem wir Duplikate sowie Bearbeitungen für andere Instrumente entfernt hatten, analysierten wir – zusätzlich zu den zuvor erwähnten neun Aufnahmen Kreislers – die Schlagproportionen der ersten Phrase in 17 weiteren Aufnahmen und erstellten eine Zeitleiste, die das Geburtsland der Interpret_innen sowie deren rhythmische Ungleichmäßigkeit darstellt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Zeitachse und rhythmische Ungleichheit von 26 Aufnahmen von Liebesleid mit den durchschnittlichen Schlagverhältnissen der ersten Phrase sowie dem Geburtsland der Interpret_innen © Jiang Yang / Python script

Abbildung 2 zeigt, dass – mit Ausnahme von Kreislers Aufnahmen zusammen mit seinem Bruder Hugo und dem deutschen Pianisten Franz Rupp – der „Wiener Rhythmus“ in der Aufnahme aus dem Jahr 1973 des belgischen Geigers Arthur Grumiaux mit dem Pianisten István Hajdú, geboren in Österreich-Ungarn, der Aufnahme aus dem Jahr 2021 der niederländischen Geigerin Janine Jansen und des englischen Pianisten/Dirigenten Antonio Pappano, der viele Jahre in Deutschland tätig war, sowie in der Aufnahme aus dem Jahr 2023 der in Österreich ausgebildeten spanischen Geigerin María Dueñas unter dem Dirigat des österreichischen Dirigenten Manfred Honeck mit den Wiener Symphonikern besonders stark ausgeprägt ist. Alle diese Aufnahmen stehen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der österreichisch-deutschen Musikkultur. Im Gegensatz dazu scheint der historische Faktor eine geringere Rolle zu spielen. So weist beispielsweise Kreislers früheste Aufnahme von 1910 mit dem Pianisten George Falkenstein den geringsten „Wiener Rhythmus“ auf, und die Aufnahme aus dem Jahr 1937 von David Oistrach und Vselovod Topilin weist deutlich weniger rhythmische Ungleichheit im Vergleich zu Kreislers eigenen Aufnahmen mit Rupp aus derselben Zeit auf.

Wie unterschiedlich ist Liebesleid, wenn es mit oder ohne „Wiener Rhythmus“ gespielt wird?

Die vorherige Analyse zeigt, dass jene moderne Aufnahmen von Liebesleid, die nicht österreichisch/deutsch geprägt sind, im Allgemeinen weniger „Wiener Rhythmus“ aufweisen, was einen deutlichen künstlerischen Unterschied darstellt.

Abbildung 3 zeigt die Inter-Onset-Intervall-Abweichungskurven der Aufnahmen von Kreisler-Rupp-1930 (Nummer 1 auf YouTube, 1:1,47:1,23), Meyers-Uchida-2011 (Nummer 2 auf YouTube, 1:1,03:1,07) und Jansen-Pappano-2021 (jüngste Nummer 10 auf YouTube, 1:1,24:1,17).

Abbildung 3: IOI-Abweichungskurven der Aufnahmen von Kreisler-Rupp-1930 (blau), Meyers-Uchida-2011 (rot) und Jansen-Pappano-2021 (schwarz) © Jiang Yang / Vmus.net, Video abrufbar auf: https://youtu.be/GbsLl_EOdgU (Stand November 2025) 

Im Gegensatz zum übertriebenen Kurz–lang–mittel-Rhythmus von Kreisler-Rupp fließt Meyers-Uchida mit seidenweicher Geschmeidigkeit, und die wenigen Noten, die deutlich länger als der notierte Wert (also die Inter-Onset-Intervall-Abweichung größer als 20 %) gespielt werden – z. B. Nr. 1, 12, 24, 36, 45 – stehen alle in Zusammenhang mit der musikalischen Struktur, was typisch für moderne Aufführungen ist. Im Vergleich dazu scheint Jansen-Pappano eine Balance zwischen dem „Wiener Rhythmus“ und der strukturellen Gestaltung zu erreichen, möglicherweise davon beeinflusst, dass sie sich häufig mit der österreichisch-deutschen Musikkultur auseinandersetzten.

Allgemein kann festhalten werden, dass sich moderne Musikaufführungen stärker auf strukturelle Aspekte auf Phrasenebene konzentrieren als auf rhythmische Muster auf Taktebene. Als kulturelles und historisches Unterscheidungsmerkmal könnte der „Wiener Rhythmus“ eine gängige Praxis unter österreichisch-deutschen Musiker_innen des frühen 20. Jahrhunderts gewesen sein und zählt zu den wesentlichen Merkmalen von Fritz Kreislers einzigartigem Interpretationsstil, der es verdient, in Zukunft noch vertiefter untersucht zu werden.

  1. Katz, M. (2006). „Portamento and the Phonograph Effect.“ Journal of Musicological Research, 25(3-4), 211–232. https://doi.org/10.1080/01411890600860733
  2. Vollmer, F., & Bolles, B.-A. (2024). In Search of the „Phonograph Effect“: Sonic Gestures in Violin Performance and Their Modification by Early Recording and Playback Devices (1901–1933). Music & Science, 7. https://doi.org/10.1177/20592043241226832
  3. Biancolli, A. (1998). Fritz Kreisler: Love’s Sorrow, Love’s Joy. Amadeus Press, 34.
  4. Zhou, D., & Yang, J. (2024). Analysing Stylistic Differences between Orchestras: an Empirical Study of the „Viennese Rhythm“ in the Vienna Philharmonic’s Recordings of The Blue Danube. Music Analysis, 43(2), 302–327. https://doi.org/10.1111/musa.12234
  5. Buurman, E. (2021). The Viennese Ballroom in the Age of Beethoven. Cambridge University Press, S. 46.
  6. Gruber, G. (Hg.). (2023). Fritz Kreisler: Ein Kosmopolit im Exil. Vom Wunderkind zum „König der Geiger“. Böhlau Wien, S.33.
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