Anlässlich des hundertsten Geburtstags des griechisch-französischen Komponisten Iannis Xenakis veranstalten das Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung (IMI) und der Lehrgang für elektroakustische und experimentelle Musik (ELAK) an der mdw in Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen von 19.–21. Mai 2022 ein Symposium zu Xenakis’ elektroakustischem Œuvre. Im dafür prädestinierten neuen Klangtheater des Future Art Lab der mdw wird an den drei Symposiumstagen das elektroakustische Gesamtwerk von Iannis Xenakis mittels Vielkanal-Audioprojektion aufgeführt.

Gerade in seinen elektroakustischen Werken bot sich dem Komponisten die Gelegenheit, Ideen und Konzepte, aber auch Klänge und Kompositionsmodelle in großer Radikalität zu entwickeln: Zum einen war Xenakis nicht an instrumentale Grenzen und Aufführungskonventionen gebunden, zum anderen nutzte er insbesondere seine multimedialen Konzeptionen dazu, musikalische Werke zu schaffen, die an Länge und Intensität alle seine Instrumentalwerke übertreffen. Exemplarisch seien hier La Légende d’Eer (ca. 45 Min.) und Persepolis (ca. 54 Min.) genannt. Nur wenige seiner 13 elektroakustischen Stücke entstanden als rein musikalische Werke – meist waren sie mit anderen Medien wie Film, Lichtdesign etc. verbunden und für konkrete Orte und Architekturen konzipiert.

Diese Gemengelage und Xenakis’ Anspruch, sein elektroakustisches Material selbst mithilfe ausgeklügelter Verfahren (multiplikative Tonbandtechniken, stochastische Synthese, Granulation) zu disponieren, brachten nicht nur ein umfangreiches Korpus an Quellen hervor, das Einblicke in den Kompositionsprozess ermöglicht, sondern zeigen durchaus auch die experimentellen, ja mitunter fast widersprüchlichen Vorgangsweisen seines Komponierens. Philologische Untersuchungen des heterogenen Materials sind vor diesem Hintergrund nicht nur unverzichtbar, sondern können überdies anhand der signifikanten Quellensituation auch für weitere Werke elektroakustischer Musik fruchtbar gemacht werden. Das Symposium fokussiert daher nicht nur auf die elektroakustische Musik von Xenakis allein, sondern nimmt darüber hinaus die theoretische Fundierung einer Philologie elektroakustischer Musik in den Blick. Aufgeworfen werden sollen daher auch weitergehende Fragen wie beispielsweise: In welchem Sinne können elektroakustische Aufzeichnungen als Text betrachtet werden? Was bedeuten in diesem Kontext komparative Methoden? Was bedeuten Original oder Authentizität, und welche Konsequenzen ergeben sich für Aufführung und Interpretation elektroakustischer Musiken?

260 IX, Indiana University, 72 courtesy of Indiana University Archives © The Trustees of Indiana University, Famillie I. Xenakis

Aufgrund der spezifischen materiellen Situation der Quellen elektroakustischer Musik ist philologische Grundlagenforschung dringend geboten: Tonbänder sind zunehmend dem physischen Zerfall ausgesetzt, unsystematische Digitalisierungen verwischen musikalische Spuren, manche Maschinen zur Wiedergabe elektroakustischer Musik sind längst aussortiert und verschwunden. Und nicht zuletzt bedarf auch das Wissen, wie diese Maschinen zu bedienen und die medialen Träger zu lesen sind, dringend der Sicherung.

Wir freuen uns, dass Curtis Roads (University of California, Santa Barbara) und Michel Chion (Université Paris III) Impulsvorträge zugesagt haben. Der renommierte Xenakis-Spezialist James Harley (University of Guelph, Kanada) wird über die Verbindung von Xenakis’ Elektroakustik mit seiner Instrumentalmusik sprechen – ein Thema, das auch Marko Slavíček (Technische Universität Berlin) in seinem Vortrag Orchestrating Noise beschäftigt. Laura Zattra (Konservatorium Bologna), Michelle Ziegler (Paul-Sacher-Stiftung Basel) und Elena Minetti (mdw) werden anhand der spezifischen Materialität elektroakustischer Musik philologische Grundlagenfragen erörtern, da Ton- und Lochbänder, Software, Aufnahme- und Wiedergabemaschinen, technische Assistenten usw. neben Aspekten der Notation respektive Aufzeichnung in den Blick genommen werden müssen. Reinhold Friedl (mdw) wird einen Überblick über die Situation der Xenakis-Archive geben und nach den wenig bekannten musikethnologischen Quellen in Xenakis’ elektroakustischer Musik fragen.

Als Alternative zum ursprünglich philologischen Textvergleich präsentiert Thomas Grill (mdw) audiobasierte komparative Methoden aus dem Feld der Music Information Research (MIR). Marcin Pietruszewski (Northumbria University, Newcastle) diskutiert seine Software-Simulationen des Xenakis’schen elektronischen Spätwerks, und Pierre Carré (IRCAM Paris) präsentiert die Rekonstruktion des Stückes Polytope de Cluny (das er auch im Rahmen der Konzerte spielen wird). Peter Nelson (University of Edinburgh), der selbst mit Xenakis am UPIC-Synthesesystem arbeitete, diskutiert die Verwandtschaft dessen spezifischer Klanglichkeit mit der menschlichen Stimme.

An den Abenden der drei Symposiumstage stellen wir das elektroakustische Gesamtwerk von Iannis Xenakis im neuen Klangtheater des Future Art Lab vor. Die Klangregie insbesondere der Mehrkanalstücke wird mit Unterstützung von Wolfgang Musil, Thomas Grill und Reinhold Friedl genauestens vorbereitet, kritische Quellenstudien und historisch informierte Aufführungspraktiken liegen den Interpretationen zugrunde. Studierende und Lehrende des ELAK-Lehrgangs werden neben Gästen wie Pierre Carré die Klangregie übernehmen.

Eine besondere Herausforderung besteht in der Unterschiedlichkeit der Werke, von monophon bis achtkanalig, von Tonbandkompositionen hin zu computergenerierter Synthese, und auch deren verschiedenartigen Aufführungskonzepten. Neben dem derzeit 21.2-kanaligen periphonen Lautsprechersystem in hemisphärischer Anordnung des Klangtheaters nutzen wir deshalb zusätzliche charakteristische Lautsprecher im Saal, um das Spektrum an Klangfarbe und Räumlichkeit noch weiter auszudehnen.

Diese Aufführungen schlagen eine Brücke: Am 18. Juni 2022 werden im Belvedere21 zum Abschluss der diesjährigen Wiener Festwochen die elektroakustischen Hauptwerke von Iannis Xenakis im Rahmen einer langen Konzertnacht in alternativer Klangprojektion für größeres Publikum erklingen und mit außereuropäischer Musik, die Xenakis inspirierte, und aktuellen Musikformen unter dem Xenakis’schen Motto „Wir tragen das Licht der Erde“ zu einer großen Geburtstagsparty kulminieren.

mdw.ac.at/imi/xenakis

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert