Wei-Ya Lin: Lieder, Geister und Tabus. Zum soziokulturellen Wandel der Musiktradition bei den Tao in Taiwan, 2021, Bielefeld: transcript.

Die nun im Druck vorliegende Dissertation (2015) von Wei-Ya Lin verspricht Einblicke in das „ganzheitliche Musikkonzept“ der indigenen Bevölkerungsgruppe der Tao auf Lanyu (einer der taiwanesischen Inseln), „das unlösbar mit allen Lebensbereichen verwoben ist“. Diese Erwartung wird im dritten Kapitel der Arbeit eingelöst, wo zunächst in der traditionellen Musik der Tao Melodietypen des individuellen Singens analysiert und Prinzipien mehrstimmiger Gesänge erschlossen werden. Da jedoch im Leben der Tao ‚Musik‘ ganz wesenhaft „Singen“ im Sinne einer sozialen Praxis bedeutet (S. 11), steht dieses traditionelle Repertoire gewissermaßen in Wechselwirkungen mit Musiken wie konfessionell differenzierten Kirchenliedern, die von Angehörigen anderer Länder auf Lanyu praktiziert werden. Ebenso spielen dabei erweiterte Kontexte des Singens eine Rolle, wenn etwa Lieder aus anderen Sprachen oder neue Singkulturen wie Karaoke Eingang finden.

© transcript Verlag

Allerdings geht Lin über das Erwartbare einer wissenschaftlichen Dissertation hinaus: Das Besondere an ihrer Studie ist, dass sie als Forscherin gewissermaßen am eigenen Leib erfahren durfte, wie sich solche kulturellen Einwirkungen unmittelbar im Leben der Tao artikulieren. Sehr anschaulich wird das an ihrem Bericht, wie sie nach der ersten Tondokumentation durch Rückfragen ihres Übersetzers feststellen musste, dass die Aufnahmen seiner Einschätzung nach eigentlich als misslungen betrachtet werden mussten, weil die Sänger_innen – wohl im Bestreben, ihr die perfekte Aufnahme zu bieten – manche Lieder unvollständig sangen und zwischendurch diskutierten (S. 51f.). Lin war also als Forscherin selbst zum Faktor geworden, der das ‚Leben im Singen‘ der Tao verändert hatte. Es werden solche Erlebnisse gewesen sein, die das hohe Problembewusstsein Lins schärften und es ihr ermöglichten, zwischen der erforschten Musikkultur und wissenschaftlichen Kulturen der Forschung zu vermitteln.

Am Ende der Lektüre bleibt nur ein Wunsch offen – gewissermaßen der nach einem ‚Film zum Buch‘. Forschung über Musik hat es an sich, mit geschriebenen Worten von Klingendem zu erzählen. Zuweilen bieten CD-Beilagen eine Illustration des Beschriebenen. Tatsächlich hatte aber Wei-Ya Lin in Taiwan Gelegenheit, aus ihrem wissenschaftlichen Dissertationsprojekt zwei künstlerische Projekte zu entwickeln und auf der Bühne (2016) bzw. dem Konzertpodium (2021) zu realisieren. Deren audiovisuelle Dokumentation wäre eine eindrucksvolle Ergänzung für alle, die keine Gelegenheit haben, nach Taiwan zu reisen.

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