Ende April erklärte mir Marko Kölbl, Leiter des Instituts für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie (IVE), die Redundanz des Institutsnamens: „Beide Bezeichnungen enthalten dieselben Wortbedeutungen: Volk (Volks-/Ethno-), Musik (-musik-/-music-) und Forschung (-forschung/-ologie).“ Trotz dieser offensichtlichen Doppelung habe man sich dafür entschieden beide Namen beizubehalten, so Kölbl weiter, da jeder Begriff seine eigene Geschichte und Herkunft habe und man dies so auch anerkennen wolle.

Das Institut für Volksmusikforschung wurde 1965 gegründet und konzentrierte sich in den ersten Jahrzehnten vor allem auf österreichische Musik, mit einigen wenigen Exkursen in die Musik anderer Communitys. Dies stand in der Tradition der Volksmusikforschung, die sich historisch mit der „Bauernmusik der Nation“ befasste und ein Produkt der romantischen Vorstellungen vom „Volk“ war, wie sie sich im späten 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Im Rahmen eines solchen Forschungsparadigmas wurden Minderheiten in der Regel ignoriert oder sogar als potenzielle „Verfälscher“ der „Reinheit“ des nationalen Musikerbes dargestellt. Die Archivbestände des IVE aus dieser Zeit spiegeln diesen Fokus auf die Mehrheitskultur wider. Die Feldaufnahmen wurden in erster Linie vom Institutsgründer und damaligen -leiter Walter Deutsch sowie von Gerlinde Haid, die das Institut später selbst leitete, angefertigt. Diese Tonaufnahmen dokumentieren ein breites Spektrum musikalischer Ausdrucksformen aus dem gesamten österreichischen Raum – sowie in begrenztem Maße auch aus angrenzenden Regionen (etwa den alpinen Gebieten Italiens und Sloweniens) – und umfassen vielfältige Erscheinungsformen in Bezug auf Instrumentierung, Stil und Dialekt.

Mitte der 1980er-Jahre kam Ursula Hemetek, die damals ihre Dissertation über die Hochzeitsmusik der Burgenlandkroat_innen in Stinatz schrieb, mit Deutsch in Kontakt, der ihr wertvolle Anregungen für ihr Forschungsprojekt gab und ihr eine ganz andere Perspektive vermittelte als das Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien, an dem Hemetek studierte. Deutschs Fachwissen über regionale Musikstile war besonders wertvoll für das Verständnis der Beziehung zwischen der Musik der Minderheitengruppe und der breiteren Mehrheitskultur. Nach Abschluss ihrer Dissertation begann Hemetek am Institut für Volksmusikforschung zu arbeiten und entwickelte das erste durch Drittmittel finanzierte Projekt an der damaligen Hochschule für Musik und darstellende Kunst: Traditionelle Musik ethnischer Gruppen in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der musikalischen Akkulturation (1990). Dieses Forschungsprojekt war das erste am Institut, das sich ausdrücklich mit der Musik von Minderheiten befasste und sich auf die Burgenlandkroat_innen und Roma-Communitys konzentrierte.

Dieser Forschungsbereich sowie seine Förderung und Entwicklung waren eng mit den umfassenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre verbunden. Es handelte sich um eine ausgesprochen turbulente Zeit: das Ende des Eisernen Vorhangs, die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, Veränderungen in der Migrationspolitik sowie die Entstehung und Erweiterung der Europäischen Union. Zugleich war dies eine Phase, in der rechtspopulistische und rechtskonservative Strömungen in Österreich zunehmend an Einfluss gewannen; die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten im Jahr 1986 sowie der politische Aufstieg Jörg Haiders und der FPÖ sind hierfür exemplarisch. Als Reaktion auf den erstarkenden rechten Diskurs kam es zu einer gewissen Annäherung innerhalb linker politischer Milieus. Ein Beispiel dafür ist die 1991 gegründete NGO Initiative Minderheiten, die als zentrale Plattform zur Bildung breiterer minoritärer Allianzen diente und sich für Minderheitenrechte sowie rechtliche Schutzmechanismen einsetzte. Ursula Hemetek war Gründungsmitglied dieser Organisation und betrachtet ihre Forschungstätigkeit aus jener Zeit als das, was heute als angewandte Ethnomusikologie [applied ethnomusicology] bezeichnet wird. Mit anderen Worten: Sie nutzte ihre Forschung, um sich für die Gemeinschaften einzusetzen, mit denen sie arbeitete.

Ich erwähne das, weil ich der Ansicht bin, dass die anhaltende Unterstützung Walter Deutschs und – ab 1994 – der damaligen Institutsleiterin Gerlinde Haid für Forschungsprojekte über Minderheiten eng mit dem damaligen politischen Kontext verknüpft war. Die Volksmusik der Mehrheitskultur war häufig Gegenstand nationalistischer oder rechtspopulistischer Vereinnahmung und Instrumentalisierung. Deutsch und Haid waren sich dieser Tatsache akut bewusst, daher kann die Förderung von Forschungsprojekten zu musikalischen Praktiken von Minderheiten auch als eine Form politischer Positionierung gegen den Aufstieg rechter Ideologien verstanden werden. Zwischen 1990 und 1999 war das Institut Träger von sechs derartigen Forschungsprojekten. Ursula Hemetek war dabei die treibende Kraft, doch die beständige Unterstützung durch Deutsch und später Haid machte diese Forschung in ihrer damaligen institutionellen Form erst möglich.

Die Aufnahmen aus diesen Forschungsprojekten, die heute im Archiv des IVE aufbewahrt werden, sind außergewöhnlich gut dokumentiert und umfassen mehr als 800 Stunden Material. Sie markieren einen bedeutsamen Wandel im Selbstverständnis und in der inhaltlichen Ausrichtung des Instituts. Das Tonmaterial beinhaltet Interviews, Konzertmitschnitte, Workshops und Vorträge und wird häufig durch umfangreiche visuelle Begleitmaterialien ergänzt – darunter Konzertprogramme, Einladungen, Fotografien und vereinzelt auch Videoaufzeichnungen. Die vertretenen Gruppen sind äußerst vielfältig und spiegeln nicht nur die in Österreich offiziell anerkannten Volksgruppen, sondern auch Migrant_innen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien (die sogenannten „Gastarbeiter_innen“), Geflüchtete aus den Balkankriegen der 1990er-Jahre sowie zahlreiche weitere migrantische und religiöse Minderheiten wider. Dieses umfangreiche Forschungsmaterial bildete in weiterer Folge auch die Grundlage für Ursula Hemeteks Habilitationsschrift Mosaik der Klänge (2001).

In dieser Zeit begann Hemetek, Masterarbeiten zu betreuen, die vom Themenschwerpunkt in den Bereich Musik und Minderheiten passten. „Grabe, wo du stehst!“, lautete Walter Deutschs Rat an Studierende, die auf der Suche nach einem Forschungsthema waren. Mit der zunehmenden Internationalisierung der mdw bekam dieser Aufruf jedoch eine andere Bedeutung und veranlasste die Studierenden, sich mit Musikpraktiken außerhalb des Rahmens der Volksmusikforschung auseinanderzusetzen. Solche Themen waren beispielsweise japanische Kinderlieder in Wien oder armenische, griechische und zentralafrikanische Musik, wie sie in Wien praktiziert wird, – alles Themen, die in den Bereich der Ethnomusikologie sowie in die damals aufkommenden Bereiche Musik und Minderheiten sowie urbane Ethnomusikologie passten.

Im Lauf der 1990er-Jahre rückten die ethnomusikalische Minderheitenforschung sowie die Ethnomusikologie im breiteren Sinne zunehmend in den Fokus der Forschung, Archivierung und Lehre am Institut. Spätestens mit der Habilitation Ursula Hemeteks an der Universität Wien im Fach Ethnomusikologie wurde deutlich, dass sich die wissenschaftliche Expertise des Instituts weit über den Rahmen der traditionellen Volksmusikforschung hinaus entwickelt hatte und nun das gesamte Feld der Ethnomusikologie umfasste. Als die Hochschule für Musik und darstellende Kunst im Jahr 1998 in eine Universität umgewandelt wurde, erfolgte – auf Initiative der damaligen Institutsleiterin Gerlinde Haid – die Umbenennung des bisherigen Instituts für Volksmusikforschung in Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie. Dieser Schritt war, wenngleich sprachlich möglicherweise redundant, Ausdruck einer deutlichen inhaltlichen Erweiterung des Forschungsfeldes. Seither hat sich gezeigt, dass diese Erweiterung außerordentlich fruchtbar war: Das IVE hat sich als zentraler Knotenpunkt innerhalb der europäischen und internationalen Ethnomusikologie-Netzwerke etabliert, mit einer besonderen wissenschaftlichen Expertise im Bereich Music and Minorities.

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