Wir leben in zutiefst beunruhigenden Zeiten, die von einer menschengemachten Klimakatastrophe, kriegerischen Auseinandersetzungen und erodierenden demokratischen Gesellschaften geprägt sind. Es sind Zeiten, in denen jede_r dazu aufgerufen ist, im Rahmen der eignen Möglichkeiten einen – wenn auch noch so bescheidenen – Beitrag zu einem nachhaltigeren, friedlicheren und solidarischeren Zusammenleben zu leisten. Auch an Musikhochschulen hat vor diesem Hintergrund in den vergangenen Jahren ein intensiver Reflexionsprozess darüber eingesetzt, welche Rolle die tertiäre Musikausbildung und Musiker_innen in dieser Hinsicht spielen können. Angeregt durch den Sammelband Artistic Citizenship. Artistry, Social Responsibility, and Ethical Praxis (2016) wird in diesem Zusammenhang in der internationalen musikpädagogischen Forschung vor allem das Konzept der Artistic Citizenship breit diskutiert und weiterentwickelt. Darin argumentieren die Herausgeber_innen David J. Elliott, Marissa Silverman und Wayne D. Bowman ausgehend von Aristoteles’ Praxisverständnis und pragmatistischen Überlegungen Dewey’scher Prägung, dass die Künste als soziale Praxis verstanden werden sollten, denen stets eine ethische Dimension inhärent ist. Artistic Citizens sind aus ihrer Perspektive Künstler_innen – darunter verstehen sie professionelle ebenso wie nicht-professionelle Kunstschaffende –, die es sich zum Ziel setzen, Menschen zusammenzubringen, gemeinschaftliches Wohlbefinden zu fördern und substanziell zu einem guten Leben im Sinne von Aristoteles’ Eudaimonia beizutragen.

Wenngleich vermutlich viele Menschen sich einem solchen Ansinnen anschließen können (wer möchte schließlich dezidiert keinen Beitrag zu einem guten Leben leisten?), bleiben doch einige wichtige Fragen offen: Was ist mit einem guten Leben genau gemeint? Wer bestimmt mit welchen Motiven, welche Musik dazu beiträgt? Was ist genau unter Citizenship im Zusammenhang mit den Künsten zu verstehen? Diese Fragen sind von eminenter Wichtigkeit und müssen in musikalischen Initiativen und Projekten mit sozialen Zielsetzungen immer wieder von Neuem kritisch reflektiert und beantwortet werden. Denn aus Geschichte und Gegenwart ist nur allzu schmerzlich bekannt, dass Musik auch für Zwecke der Manipulation, Propaganda und Indoktrinierung eingesetzt werden kann. Eine unkritische und affirmative Übernahme des Zieles, Musik als Mittel für sozialen Wandel einzusetzen, kann daher problematisch sein (vgl. Kertz-Welzel 2025).

© Sebastian Madej

Eine kritisch reflektierte Weiterentwicklung des Konzepts von Artistic Citizenship hat allerdings das Potenzial, zu einer Leitidee für die tertiäre Musikausbildung zu avancieren. Wird Citizenship nicht in einem rechtlichen Sinne als Staatszugehörigkeit verstanden, sondern als das gemeinschaftliche Einstehen füreinander, nicht als Zustand, sondern – wie der Politikwissenschaftler James Tully in seiner Idee von Global Citizenship (2014) vorschlägt – als Praxis, etwas also, das Menschen gemeinsam tun bzw. hervorbringen und interaktiv aushandeln, dann kann sich daraus die Möglichkeit ergeben, bestehende Machtstrukturen und Ungerechtigkeiten zu hinterfragen und aktiv ein demokratisches Zusammenleben zu gestalten. Auf der Basis eines weiten Kunstbegriffs kann das Konzept außerdem dazu beitragen, ein besseres Verständnis vom Zusammenhang zwischen künstlerischer Exzellenz und gesellschaftlichem Engagement zu entwickeln. Denn wie Helena Gaunt et al. (2021) ganz richtig feststellen, sollte es sich dabei nicht um zwei konkurrierende Prioritäten handeln, sondern um Werte, die untrennbar miteinander verbunden sind und einander gegenseitig bereichern. Musiker_innen sind nicht entweder künstlerisch exzellent oder sozial engagiert, vielmehr können sie im besten Fall beides in einen fruchtbaren Austausch miteinander bringen.

Für Musikhochschulen bedeutet das nicht nur, ihr Verständnis von künstlerischer Exzellenz und musikalischer (Aus-)Bildung zu erweitern, sondern darauf aufbauend auch konkrete Initiativen umzusetzen, die Studierende dazu befähigen, ihr Können in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten zu verorten. Dies kann durch neue Lehrformate, transdisziplinäre Projekte oder Kooperationen mit sozialen und kulturellen Institutionen geschehen, um so einen Beitrag zu einem nachhaltigeren, friedlicheren und solidarischeren Zusammenleben zu leisten.

An der mdw gibt es vielfältige Vorhaben, die mit dem Konzept von Artistic Citizenship in Zusammenhang gebracht werden können. So leitet die mdw innerhalb von IN.TUNE (europäische Hochschulallianz im Bereich Kunst und Musik) beispielsweise die Working Group „Audience Engagement and Artistic Citizenship“. Der Master Contemporary Arts Practice (CAP) zielt dezidiert darauf ab, dass Studierende „gesellschaftliche Inklusions- und Exklusionsmechanismen […] kritisch hinterfragen [und] ihre eigene gesellschaftspolitische Verantwortung als Künstler_in (Citizen Artist/Artist Citizen) reflektieren.“ (Curriculum, S. 5) Und der Fachbereich Musik im Dialog (MiD) am Institut für musikpädagogische Forschung und Praxis (IMP) nimmt in Lehre und Forschung spezifisch Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung von Musiker_innen, der kulturellen Teilhabe und des Community Engagement in den Fokus. So finden im Sommersemester 2025 wieder zahlreiche Projekte (Grätzl Töne, Library Concerts, Community Orchester u. v. m.) statt, im Sommer findet erstmals die neue isaCommunity statt und bei mdwPress erscheint demnächst der Sammelband „Turning Social. On the Social-Transformative Potential of Music Mediation“ (hrsg. von Petri-Preis, Axel und Ziegenmeyer, Annette).

Literatur:

Elliott, D. J., Silverman, M. & Bowman, W. D. (Hg.) (2016). Artistic Citizenship. Artistry, Social Responsibility, and Ethical Praxis. New York: Oxford University Press.

Gaunt, H., Duffy, C., Coric A., González Delgado, I. R., Messas, L., Pryimenko, O. & Sveidahl, H. (2021). Musicians as “Makers in Society”: A Conceptual Foundation for Contemporary Professional Higher Music Education. In: Frontiers in Psychology, 12:713648.

Kertz-Welzel, A. (2025). What we should consider before proposing music education for social change. In Kai Martin (Hg.), Zukunft. Musikpädagogische Perspektiven auf soziale und kulturelle Transformationsprozesse. Weimar: Hochschule für Musik Franz Liszt, S. 36–43.

Petri-Preis, A. & Ziegenmeyer, A. (2025, in Vorbereitung). Turning Social. On the Social-Transformative Potential of Music Mediation. Wien: mdwPress.

Tully, J. (2014). On Global Citizenship. London: Bloomsbury Academic. https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/30133/9781849665162.pdf?sequence=10&isAllowed=y (22. 2. 2025).

Comments are closed.