Im Rahmen der Lehrveranstaltung zur Musikvermittlung/Community Music des Fachbereiches Musik im Dialog des Instituts für musikpädagogische Forschung, Musikdidaktik und Elementares Musizieren (IMP) der mdw fand im Wintersemester das Projekt Tschick – ein Held?  mit Insassen der Jugendstrafvollzugsanstalt (JVA) Gerasdorf (NÖ) statt.

Erstmalig konnte damit ein Projekt mit Studierenden realisiert werden, das über ein reines Konzertangebot für Insass_innen eines Gefängnisses hinausging. Anlass war die Kooperation mit der Wiener Staatsoper aufgrund der Neuinszenierung der Jugendoper Tschick nach dem gleichnamigen Roman von Wolfgang Herrndorf. In diesem begeben sich zwei Jugendliche mit einem gestohlenen Auto auf einen Roadtrip, um aus ihrem schulischen und sozialen Umfeld auszubrechen.

Die Workshops mit den Jugendlichen in der JVA Gerasdorf nutzten verschiedene partizipative Zugänge, um im Dialog miteinander und in der Auseinandersetzung mit den Inhalten des Romans ein eigenes Musiktheaterstück zu entwickeln. Im Fokus stand dabei die Frage nach Freundschaft und „wahrem“ Heldentum. Inspiration lieferten den Jugendlichen Stilepochen übergreifend ausgewählte und live vorgestellte Inputs, die zu eigenen musikalischen, tänzerischen, sprachlichen und schauspielerischen Umsetzungen mit Stimme, Körper und Instrument führten. Vorhandene Kompetenzen der Jugendlichen, wie z. B. Gitarre oder Saxophon spielen zu können, konnten zusätzlich wertschätzend integriert bzw. mit einem Leihinstrument der mdw wieder aktiviert werden.

© Andrea Hanatschek

In ihrer Reflexion schrieb eine Studierende:

„Anhand der Möglichkeit, selbst Warm-ups zu entwickeln und mit den Jugendlichen selbstständig zu arbeiten, wurden verschiedene Blicke auf Musik (…) gegeben. Für mich (…) war es spannend, die Kolleg_innen lehrend mitzuerleben und von ihnen und ihren Ideen zu lernen. Es zeigte mir, wie unterschiedlich die (…) Möglichkeiten in Bezug auf Musikvermittlung sein können, und weckte mein Interesse für die Umsetzung im eigenen pädagogischen Umfeld. (…) Wie komplex und umfassend Musikvermittlung sein kann und welchen wichtigen Stellenwert sie in unserer Gesellschaft einnimmt (…), zeigte sich z. B. im Feedback eines Psychologen, dass die Jugendlichen vom Projekt (sozial und psychisch) positiv beeinflusst waren. (…). Das gesamte Projekt stellte meine Gedanken bezüglich menschlicher Ideale und der Thematik des Strafvollzugs auf den Kopf. (…) Ich war überrascht, wie sehr wir dazu neigen, die Schattenseiten unserer Gesellschaft in die hintersten Ecken unseres Bewusstseins zu schieben und zu verbergen.“

Aber nicht nur Fragen nach Justiz und Gerechtigkeit oder Schuld und Strafe wurden immer wieder – zusätzlich verstärkt durch einen Artikel in der Tageszeitung Der Standard zu Semesterbeginn, in dem die Volksanwaltschaft zum Jugendstrafvollzug zitiert wurde – in den Gesprächen zum Thema. Auch auf persönlicher Ebene war es unmöglich zur „Seite zu schieben“, was während der Arbeit und bei den gemeinsamen Mittagessen mit den Häftlingen erlebt und erfahren wurde. Das zeigt auch das folgende Zitat, in dem spürbar wird, welches Potenzial darin stecken kann, sich – vielleicht besonders im Studium – den gesellschaftlichen Realitäten zu stellen, um daran als Mensch und Künstler_in, auch im Sinne der eigenen gesellschaftlichen Rolle, zu wachsen.

© Andrea Hanatschek

„Sehr berührend war eine Situation mit ,Hans‘. Er sagte plötzlich sinngemäß: ,Ich würde auch gerne so etwas haben. Ich möchte Keyboard spielen lernen. Ich werde sparen und fragen, ob ich mir eines kaufen kann. Oder wenn ich draußen bin, kauf ich mir eines.‘ Auf meine reflexartige Frage, wie lange seine Haftstrafe sei, antwortete er: ,Elf Jahre.‘ Da wurde mir bewusst, was wirkliche Probleme sind. … Für mich selbst war die Lehrveranstaltung beruflich und menschlich sehr wertvoll. Nachdem ich während der Pandemie in einer beruflichen Krise steckte und schon eine andere Ausbildung begonnen hatte, entschied ich mich letztendlich nicht für einen neuen Beruf, sondern dafür, mein IGP-Masterstudium fertig zu machen. Die Lehrveranstaltung war eine ganz starke positive Bestätigung für meine Entscheidung und trägt heute zur Erkenntnis bei, dass meine Entscheidung richtig war. Durch die Teilnahme an diesem Projekt wurden (…) meine Gedanken bestätigt, was beruhigend war und mich auf meinem weiteren Weg als Pädagoge, Künstler und als Mensch bestärkt hat.“

Das Projekt endete mit der Präsentation des eigenen Musiktheaterstückes Wege einer Freundschaft vor eingeladenen Mitgefangenen und der Anstaltsleitung. Für alle Insassen und Mitarbeiter_innen der JVA fand abschließend ein Konzert von Studierenden des Instituts für Musik- und Bewegungspädagogik/Rhythmik unter der Leitung von Nora Schnabl-Andritsch statt.

Besonderer Dank gilt den Studierenden für ihr großes Engagement und ihre künstlerischen Beiträge mit Wirkungskraft sowie den Mitarbeiter_innen der JVA, die das Projekt in der Umsetzung vor Ort bis hin zu den oft schwierigen Genehmigungsverfahren unterstützt haben. Die Initiative, im Sommersemester den Jugendlichen erneut ein Konzert- oder Workshopangebot zu ermöglichen, um eine gewisse Nachhaltigkeit vor Ort zu fördern, konnte die Anstaltsleitung aktuell nicht genehmigen. Damit bestätigte sich, was auch Der Standard schrieb: „Oft gebe es grundsätzlich Konzepte für die Jugendlichen auf dem Papier, die aber nicht gelebt werden – etwa aufgrund von fehlendem Personal. Das betrifft die haftbegleitende therapeutische und soziale Versorgung, aber auch Ausbildungs- und Freizeitangebote.“

Im Wintersemester 2023 startet an der mdw der neue Master Contemporary Arts Practice (CAP), der die Möglichkeit bietet, sich auf Musikvermittlung/Community Music zu spezialisieren.

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